Julius Köstlin: Luther, sein Leben und seine Schriften
Viertes Buch: (Fünfte neubearbeitete Auflage, nach des Verfassers Tode fortgesetzt von D. Gustav Kawerau)
Das Jahr auf der Wartburg 1521.
Berlin 1903

Kap. 3: Beginn der kirchlichen Neuerungen in Wittenberg und die darauf bezüglichen Schriften Luthers über die Gelübde und über die Messe. (n0)


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Indhold: Kirchliche Reformen: Priesterehe 462: #1. -- Verbindlichkeit des Mönchsgelübdes 464: #13. -- Predigt über die Gelübde. 466. #21. -- Lateinische Schrift über die Gelübde. 468:  #39. Augustiner-Konvent in Wittenberg 470: #50. Laienkelch. 470: #52. -- Messopfer. 471: #57. -- Angriffe darauf 472: #62. Gärung in Wittenberg. 473: #71. -- Luthers Schrift "Vom Missbrauch der Messe" 474: #76. -- Besuch in Wittenberg. 476: #85. -- Vermahnung vor Aufruhr und Empörung. 478: #93. -- Vorgehen Carlstadts: 481. #109. -- Bildersturm im Augustinerkloster. 482. #115. -- Kirchliche Neuordnungen. 483. #119. -- Die Zwickauer Propheten. 486. -- Ihre Mystik. 487. -- Verhalten des Kurfürsten. 489. -- Beschwerden beim Reichsregiment 490.

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1          Bis zu der Zeit, wo Luther auf der Wartburg sass, war seine und seiner Freunde Tätigkeit in der Kirche ein blosses Wirken durchs Wort gewesen. In dem Worte, das sie predigten und in Schriften vortrugen, war aber die Folge und Forderung enthalten, dass wesentliche äussere Ordnungen des bestehenden Kirchentums geändert werden mussten. Aber es war noch nirgends Hand angelegt, dass dies wirklich geschähe. 
Von der anderen Seite her erforderte der päpstliche Bannspruch und nun auch das Wormser Reichedikt ein tätliches äusseres Einschreiten gegen die Vertreter dieser Lehre und dieser Grundsätze, die man zu einem Umsturz des gegenwärtigen Kirchenwesens führen sah. Zunächst erfolgten aber auch von dieser Seite aus noch wenige praktische tatkräftige Schritte. Luthers Schriften wurden verbrannt.   
3   Persönlich ging gegen ihn niemand von Reichs wegen vor, nachdem der Kaiser (463) selbst wenigstens bis auf weiteres hiervon Abstand genommen hatte. Seine Genossen fühlten sich in Kursachsen sicher, und auch anderwärts begann man noch nicht mit Prozessen und mit Gewalt gegen sie zu verfahren. 
4         Bloss zu Unruhe und Exzessen, nicht zu positiven Reformen, führte die von Luther ausgegangene Bewegung damals in Erfurt, wo er bei seiner Fahrt nach Worms so glänzend begrüsst worden war. Einer der Begrüssenden, der Humanist Johann Drakinites, Kanonikus am Severi-Stift daselbst, wurde, als er tags darauf wieder unter seinen Kollegen im Gottesdienst erschin, von Dekan des Stifts gewaltsam aus dem Chor entfernt, da er dem Bann verfallen sei.
5  Das entflammte die Wut der Studenten, die ohnedies schon gegen den papistischen Klerus erregt waren. Handwerker und Pöbel gesellten sich ihnen bei. Sie griffen die Häuser der Pfaffen an, schlugen Fenster, Öfen, Tische u. s. w. zusammen. Im Juni wurde dieser Unfug noch einmal wiederholt. Die Unruhen hatten nur einen traurigen Verfall der Universität zur Folge, zumal da im Sommer auch eine Pest ausbrach. 
6   Luther aber urteilte über jene Gewalttaten ganz so, wie es nach seinem Verhalten zu den oben (S. 318 = 3,12#13) erwähnten, übrigens weit unbedeutenderen Wittenberger Studentenunruhen zu erwarten war. Er verwunderte sich, dass der Erfurter Magistrat dazu die Augen zudrücken, wie auch sein Freund Lang dazu schweigen könne. "Sie sind", sagt er, "nicht die Unsrigen, der solches tun". Er sah darin ein Anstiftung Satans, der über die gute Sachen Schande bringen wolle, und eine solche Parteinahme für ihn und die Seinigen war ihm ein Beweis, dass sie vor Gott noch keine würdigen Diener seines Wortes seien. (n6
7         Zur praktischen Durchführung gelangten von Luthers Sätzen zuerst die über den Cölibat und den Messgottesdienst, und zwar durch andere als ihn selber, jetzt während seiner Abwesenheit von Wittenberg. Der eine Punkt betraf die natürliche Lebensordnung, in welche nach Luther die päpstliche Kirche am tyrannischsten und verderblichsten gegen Gottes Willen eingriff, der andere die kirchliche Handlung, in welcher nach ihm die göttliche Stiftung und Heilsordnung am gröbsten verkehrt war und in welcher die Babylonische Gefangenschaft der Kirche am traurigsten sich zeigte. 
8         Bald nach dem Beginn seines Wartburgaufenhaltes erfuhr Luther, dass Bartholomäus Bernhardi aus Feldkirchen, Wittenberger Lizentiat und neuernannter Propst zu Kemberg, einer seiner speziellen Schüler, der im Jahre 1516 (vgl. oben S. 129) unter ihm disputiert hatte, wirklich in den Ehestand getreten sei. 
9  Zur gleicher Zeit nahmen ein Mansfelder Priester und einer namens Seidler im Meissnischen Eheweiber. Jener wurde vom Erzbischof Albrecht in Halle, dieser (am 19. Mai 1521) auf Befehl des Herzogs Georg und des Meissener Bischofs in Stoplen gefangen (464) gesetzt. Dem Bernhardi oder, wie man ihn kurzweg nannte, Feldkirchen wollte der Erzbischof gleichsfalls den Prozess machen lassen, wogegen Melanchthon für ihn eine Verteidigungsschrift aufsetzte. Jene beiden anderen scheinen in sittlicher Beziehung nicht makellos gewesen zu sein, von Feldkirchen aber, konnten, wie Luther versichert, auch Gegner nur Löbliches aussagen. 
10 Luther blieb den Sätzen, die er über den Priestercölibat aufgestellt hatte, auch jetzt, da sie praktisch gemacht wurden, unbedingt treu: das Verbot der Ehe für die Priester oder Diener des Wortes sei, wie das apostolische Gotteswort klar ausspreche, vom Teufel; jenen allen, welche die hiernach ihnen zukommende Freiheit gebrauchten, müsse man ihr Recht lassen. 
11 Feldkircken bewunderte er wegen des Mutes, womit er in so unruhiger Zeit den Schritt getan habe. Er hatte übrigens zugleich einen sehr nüchternen Blick für die Beschwerden und Gefahren, die auch der Ehestand für manchen mitbringen möge: nur die Freiheit dazu müsse nach Gottes Willen gewährt werden; einen guten Erfolg des Gebrauchs solcher Freiheit für den einzelnen habe man nicht zu garantieren. 
12 Ja, dem Spalatin gab er persönlich den freundschaftlichen Rat: "hüte Dich, dass Du nicht auch ein Weib nehmest, damit Du nicht auch in leibliche Trübsal (1 Kor 7,28) geratest". Am 10. Februar 1522 verehelichte sich auch J. Jonas: in ihm haben wir, wie wir aus vertraulichen brieflichen Äusserungen von ihm sehen, das Beispiel eines Priesters, der recht eigens um deswillen, weshalb nach 1 Kor 7,2 ein jeglicher sein eigen Weib haben sollte, nämlich um den mit dem Priestercölibat verbundenen sittlichen Gefahren zu entgegen, sich aufs dringendste in seinem Gewissen zu diesem Schritt angetrieben fühlte und so der unreinen "teuflichen Heuchelei" los werden wollte. (n12
13        Während aber Luther darüber längst klar und gewiss war, dass man dem für die Christenheit notwendigen Beruf und Stand der Hirten und Prediger nicht durch ein menschliches Zwangsgesetz das Joch des Cölibats auflegen dürfe, unterschied er von dieser Frage stets streng die andere in Betreff der Verbindlichkeit derjenigen Gelübde, in welchen man Gott freiwillig die Ehelosigkeit angelobe, -- der Gelübde des Mönchstums. Für jene Frage hatte er ein unmittelbares Schriftwort: er war nicht sicher, ob er eben dasselbe auf die andere Frage anwenden dürfe. 
14       Dagegen versuchte jetzt Carlstadt für die Mönche so gut wie für die Priester die Befreiung vom Cölibat in Anspruch zu nehmen. Er hielt über diesen Gegenstand am 28. Juni eine Disputation inWittenberg und gab dann darüber eine grossere Schrift heraus, welche am 3. August an Luther gelangte. (n14) Schon vorher hatte Melanchthon demselben in dieser Sache berichtet und briefliche Verhandlungen darüber, bei welchen auch er jene Freiheit zu begründen suchte, mit ihm begonnen. 
15 Carlstadt fuhr in (465) seinen Sätzen und Argumenten keck und unklar zu, unternahm besonders auch seltsame biblische Beweisführungen. Hinsichtlich der Priester meinte er, dass nach dem apostolischen Wort 1 Tim 3 gar keine ein Amt erhalten sollte, der nicht eine Frau, ja der nicht auch Kinder habe. Hinsichtlich der Mönche und Nonnen sprach er aus, dass ihnen das Heiraten, wenn sie das Bedürfnis dazu fühlten, frei stehe, ja dass alle vor dem 60. Lebensjahr abgelegten Keuschheitsgelübde für ungültig erklärt werden möchten, und dennoch zugleich, dass jenes Heiraten Sünde sei, weil das Gelübde dadurch gebrochen werde, und nur eine geringere Sünde als diejenige, der die Mönche im "Brunstleiden" (1 Kor 7,9) verfielen und der sie deshalb durch den Bruch des Gelübdes sich entziehen dürften. 
16        Luther prüfte ruhig und klar die von Carlstadt und Melanchthon vorgetragenen Gründe und fand sie ungenügend. Er warnte davor, durch willkürliche Schriftdeutungen sich den Gegnern lächerlich zu machen. Sei der Bruch des Gelübdes Sünde, so fand er denselben auch durch jenen Ausspruch des Apostels, dass Freien besser denn Brunstleiden sei, nicht gerechtfertigt, zumal ja auch keiner wisse, ob solch Brunstleiden bei ihm anhalten werde. 
17 Melanchthon war geneigt, das Gelübde für den Fall auflösen zu lassen, dass einer nicht imstande sei, es wahrhaft zu erfüllen. Hierauf aber entgegnete Luther: dürfte man Gelübde um deswillen auflösen, weil man sie nicht zu erfüllen vermöge, so könnte man aus dem gleichen Grund göttliche Gebote auflösen; auch ein Gelübde falle, wenn es einmal abgelegt sei, unter die Kategorie der göttlichen Gebote, denn Gott gebiete, das Angelobte zu leisten. 
18       Luther war in seiner Kritik jener Gründe so scharfsinnig, wie irgend ein Anhänger des Cölibats hätte sein mögen. Er sprach indessen offen aus, dass das Ziel, zu welchem jene Gründe noch nicht führten, doch auch er selbst von Herzen gern erreicht haben möchte, da er des Elends im Mönchsstand und der Unverträglichkeit desselben mit der Freiheit in Christo sich sehr wohl bewusst sei.  Er zweifelte nicht, dass, wenn Christus gegenwärtig wäre, dieser Heiland und Bischof der Seelen ohne weiteres alle die Schwierigkeiten lösen und niemand fernerhin unter jener Last seufzen lassen würde. 
19        Er selbst dachte einer tieferen Begründung nach. Man müsse, sagte er, der Sache an die Wurzel gehen; es komme auf die Meinung und Gesinnung an, in welcher man jene Keuschheit zu geloben pflege: es werde sich fragen, ob das Gelübde von vornherein ein gottgefälliges, christlich sittliches, zulässiges, oder vielleicht gar ein gottwidriges und ein gottloser Gottesdienst sei. 
20 In diesem Sinne schickte er am 9. September Erklärungen an Melanchthon und zugleich sehr reichhaltige lateinische Thesen zu einer Disputation über die Gelübde. Die Thesen liess er am gleichen (466) Tage dem Kollegen und Freund Amsdorf in Wittenberg zugehen, eine zweite Reihe wohl gleich darauf nachfolgen. Sie waren schon im Anfang Oktober zusammen gedruckt bei Lotther. Eine längere Ausführung darüber hatte Luther sich noch vorbehalten. 
21 Eine solche Ausführung knüpfte er dann zunächst an seine Predigt über das Evangelium des Epiphanienfestes, an welcher er damals bei der Ausarbeitung seiner Postille (oben S. 455 = 4,2#69) stand; aus dieser Predigt ist daher ein langer Traktat geworden: dort sprach er nämlich aus Anlass des Herodes und der Weisen aus Morgenland vom Unterschied zwischen rechten und falschen Heiligen und zwischen wahrem und falschen Gottesdienst, wozu er auch den apostolischen Text 2 Tim 3, 1-9 beizog. Die Predigt mit dem grossen auf die Gelübde bezügliche Abschnitt erschien alsdann als Schluss des betreffenden Hauptteils der Postille, -- dieser Abschnitt derselben dann auch noch in besonderen Ausgaben. (n21) (se h3kong5
22        In fest geschlossener Ordnung und scharfer Fassung führt Luther seine Gründe in den Thesen vor. In klarer praktischer Beleuchtung legt er die Hauptmomente, auf die es ihm ankam, in seiner Predigt der Gemeinde dar. Indem er hier auf jene Meinung, in welcher die Mönche ihr Gelübde getan haben, zurückgeht, erklärt er: Ihrer aller Meinung und Lehre ist, dass man durch die Werke des Mönchtums Gnade bei Gott erlange und der Sünden ledig werde. (h3kong7#3
23 Wenn der Mönchsorden dazu, um vor Gott gerecht zu werden und den Himmel zu gewinnen, nicht mehr helfen sollte, als einem Bauern sein Pflug, -- wer würde dann in den Orden treten? Das ist aber Verleugnung des Glaubens, der sich nur auf Gottes Gnade ergibt und nicht durch eigne Werke, sondern nur durch Christi Blut Gnade erlangen will; und solchen Glauben fordert Gott im ersten Gebote: wer nicht glaubt, der hat und ehrt keinen Gott. 
24 Wenn nun einer Möncht oder Pfaff würde, nur um Kelche und Kleinodien zu stehlen, so wäre er gegen Gottes Gebot geistlich geworden und sein Gelübde bände ihn nicht: wie viel mehr, wenn einer darin gegen das erste und höchste Gebot gesündigt hat. Ja das Gelübde, in solch unchristlicher Meinung getan, gilt vor Gott nicht mehr, als wenn es hiesse: Siehe da, Gott, ich gelobe Dir, mein Leben lang kein Christenmensch zu sein, widerrufe das Gelübde meiner Taufe, will Dir nun ein besser Gelübde tun ausser Christo in meinen eignen Werken. (h3kong7#7)
25 Das Gelübde müsste, um nicht gegen das erste Gebot anzulaufen, vielmehr lauten: Ich will Pfaffe oder Mönch werden, nicht, dass ich den Stand für einen Weg zur Seligkeit achte, sondern, weil ich je was tun muss auf Erden, will ich dies Leben annehmen, mich drinnen üben, meinen Leib kasteien, dem Nächsten dienen, gleichwie ein anderer Mensch wirkt auf dem Acker oder im Handwerk, ohne alles Aufsehen der Verdienste in Werken. (h3kong7#1)
26 Wie viele aber wollen in solcher Meinung geistlich werden? -- Luther nimmt nun zwar gerne an, dass wenigstend ein Mann wie der heilige Bernhard und auch manche andere fromme Mönche doch in dieser Gesinnung und nicht des vermeintlichen Verdienstes wegen ihr Gelübde getan und der Freiheit, die ihnen als Christen zustehe, also gebraucht haben, dass sie freiwillig für immer sich zu dieser Lebensweise verbanden. 
27 Aber nun ficht er den Inhalt ihres Gelübdes an: sie haben ein Leben unter einem Gesetzesjoche, das dem Evangelium widerstreitet, angelobt; es widerstreitet der Freiheit, die wir im Glauben an Christus haben, dass wir wine solche Lebensweise (467) wie etwas Nötiges uns auflegen sollten; der Glaube macht alle äusserliche Dinge frei, die Gelübde binden sie an; die Gelübde müssten vielmehr die Freiheit vorbehalten, dieses Leben auch wieder zu verlassen. (h3kong7#15)
28 Weiter wendet Luther gegen den Inhalt der Mönchgelübde ein, dass sie auch gegen die Pflichte der Liebe streiten: sie hindern vielfach die Liebesdienste, die wir dem Nächsten schuldig sind; er habe, sagt er, dies selber schmerzlich als Mönch erfahren. So darf auch das Beispiel jener frommen Mönche nicht zur Nachfolge verleiten: Gott hat bei seinen Erwählten manche Torheit geduldet, die man darum nicht nachtun darf. -- 
29 So will Luther die Verbindlichkeit der Gelübde von Grund aus widerlegt haben. Sie sind ungiltig, sofern sie in jener gottlosen Meinung übernommen werden, denn sie werden hiermit selber zu einer schweren Sünde. Sie laufen mit ihrem Inhalte dem Willen Gottes auch dann zuwider, wenn man sie in besserer Meinung getan hat, und es hilfe nichts, ein Gelübde, das man in jener gottloser Meinung getan, jetzt etwa in dieser besseren wieder aufzunehmen. Man müsste da geloben: 
30 lieber Gott, ich gelobe Dir, dies Leben zu halten, das von Natur frei und der Seligkeit wegen nicht zu halten not ist. Aber Gott würde wohl antworten: was gelobest Du mir dann, hast Du nicht nötigere Dinge zu halten? Man müsste sprechen: ich gelobe Keuschheit, Armut und Gehorsam nach der Regel des Ordens -- frei zu halten und zu lassen bis in den Tod. Aber das wäre ein närrisch, lächerlich Gelübde, und lauter Gaukelspiel. -- (h3kong7#14)
31 Erst nachdem Luther so gezeigt, dass die Gelübde in sich unchristlich und darum nicht verbindlich seien, kommt er darauf, dass eine wahrhafte Erfüllung des Keuschheitsgelübdes den meisten auch gar nicht möglich sei: es gehöre dazu eine besondere Gottesgnade; die unreinen sündhaften Regungen, denen man im Mönchtum abgestorben sein sollte, seien oft gerade bei Mönchen und Nonnen stärker als da, wo Männer und Weiber bei einander leben. (h3kong7#24)
32 Und nun beruft er sich darauf, dass ja die Kirche von andern angelobten Leistungen dispensiere, wenn deren Erfüllung sich unmöglich zeige; könne aber irgend ein Gelübde aus dringenden Ursachen nachgelassen werden, so sei hierfür Ursache und Not beim Keuschheitsgelübde da. 
33         Luther wusste wohl, welcherlei Nachreden von seiten der Papisten gegen diese seine Lehre und gegen seine Person losgehen würden, -- wie sie "das Maul aufreissen würden und sagen: o wie drückt den Mönch die Kutte, wie gern hätte er ein Weib!" Aber er beruhigt seine Leser: "Lass sie nur lästern, die keuschen Herzen und grossen Heiligen, lass sie eifern und steinern sein, wie sie sich selbst aufwerfen; verleugne Du nicht, dass Du ein Mensch seist, der Fleisch und Blut hat; lass darnach Gott richten zwischen den engelischen starken Helden und Dir krankem, verachteten Sünder. So Du sie erkennest, wer sie sind, die so grosse Keuschheit vorgeben, und was da sei, das St. Paulus Eph 5,12 sagt: "was sie heimlich tun, das ist auch zu sagen schändlich": Du würdest ihre hochgelobte Keuschheit nicht würdig achten, dass eine Bübin sollte ihre Schuhe dran wischen". (h3kong7#68)
34        Für seine Person wollte er vom Heiraten noch gar nichts wissen. Seine Wittenberger Freunde waren ihm zu eifrig. "Mir", schreibt er an Spalatin, "werden sie kein Eheweib aufdrängen". Gegen Melanchthon, für dessen Verehelichung er sich so warm interessiert hatte (Melanchthon war weder Priester noch Mönch), scherzte er, dass derselbe sich wohl jetzt an ihm hierfür rächen möchte; aber er werde sich gut dagegen vorsehen. 
35 In jener Predigt äussert er: "Ich hoffe, ich sei so ferne kommen, dass ich (468) von Gottes Gnaden bleiben werde wie ich bin", -- fügt jedoch ehrlich bei: "wiewohl ich noch nicht überm Berge bin und jenen keuschen Herzen mich nicht traue zu vergleichen, es wäre mir auch leid und Gott wolle mich davor behüten". (n35) (h3kong7#68
36        Unter seinen Wittenberger Ordensbrüdern aber wurde jetzt schon praktischer Gebrauch von der behaupteten Freiheit gemacht. Es entstand überhaupt unter den dortigen Augustinermönchen eine grosse Bewegung, ein Drängen danach, dass aller der falschen Gottesdienst nun auch äusserlich abgetan werde. Besonders beteiligten sich daran Brüder aus den Niederlanden, wo Luthers Lehre gleichfalls im Augustinerorden eingedrungen und von wo aus jene als Gäste und Schüler ins Wittenberger Kloster geschickt worden waren. 
37 Die Bewegung richtete sich zu gleicher Zeit gegen die katholische Messe, wovon wir nachher zu reden haben. Der Prior des Klosters, Held, klagte über heftige Predigten, welche in Wittenberg und namentlich in seiner eignen Kirche gehalten worden seien, als ob niemand in der Kutte selig werden könne und die Mönche gar mit Gewalt aus den Klöstern getrieben und diese bis auf den Grund zerstört werden müssten. 
38 Der eifrigstge und wirksamste Prediger dieser Richtung war unter den Mönchen Gabriel Zwilling oder Didymus. In den ersten Tagen des November (bis zum 12.) verliessen dreizehn Mönche das Kloster, das damals über vierzig zählte, und bis zum 30. traten noch zwei aus, darunter Zwilling selbst. Es ging dabei tumultuarisch zu. Einer der Ausgetretenen wollte sich in Wittenberg als Tischler niederlassen und heiraten. 
39        Luther erhielt hierüber zuerst nur unsichere Nachrichten. Sogleich aber unternahm er jetzt die Abfassung einer besonderen lateinischen Schrift über die Gelübde, welche die aus dem Mönchstand Austretenden rechtfertigen und selbst erst noch weiter unterweisen und ihrer Sache gewiss machen sollte; denn er fürchtete, jene möchten den Schritt getan haben, ohne schon in ihrem Gewissen sicher zu sein. Noch im November führte er seine Arbeit aus. 
40         Wir haben in diesem seinem Buch über das Mönchgelübde die umfassendste und eindringendste Entwicklung seiner Gründe, die übrigens im wesentlichen schon in den vorhin von uns wiedergegebenen Sätzen Luthers zusammengefasst sind; es ist grösstenteils eine weitere theologisch scharfe Ausführung dessen, was er populär in jener Predigt vortrug. Hier widerlegt er nun auch selbst jenen Einwand, den er wegen der Unmöglichkeit, die Gelübde zu halten, Melanchthon gemacht hatte, dass uns nämlich ja auch eine wahre Erfüllung der Gebote Gottes unmöglich sei. 
41 Er sagt, gerade die Erfüllung des Gebotes der Keuschheit wolle Gott durch den Ehestand möglich machen; könne einer es im Ehestand erfüllen, im angelobten Cölibat aber nicht, so müsse das selbsterwählte Gelübde dem göttlichen Gebot weichen. (vot05#31) Eine Verhöhnung Gottes sei es ferner, ihm etwas zu geloben, was uns doch nur dann zu leisten möglich sei, wenn er selbst dazu eine besondere Gabe schenke. (vot05#59) Man wende (469) vielleicht ein, dass uns ja auch die Erfüllung des christlichen Taufgelübdes nur durch Gottes Gnadenbeistand möglich werde: aber hierfür habe Gott selbst seinen Beistand jedem verheissen, für das Mönchgelübde nicht. 
42 Keusche Ehelosigkeit erklärt auch er für etwas sehr hohes; man werde durch sie zwar in der Keuschheit nicht vollkommener, als man es im ehelichen Leben sein könne, wohl aber bewahre sie einen, wie Paulus sage, vor vieler Umstrickung mit weltlichen Sorgen. Allein keiner dürfe daraus ein Gesetz für sich machen, auch falls er die besondere Gnade zu ihr bei sich finde, und alle sollten nur ja in den ihnen verliehenen Gaben Gott dienen. Luther glaubte nachher von dieser Schrift rühmen zu dürfen, dass sie am besten unter allem, was er bisher geschrieben, "verschanzt" und unüberwindlich sei. 
43        Als Vorwort schickte er seinem Büchlein eine Zuschrift an seinen Vater voran, datiert vom 21. November. Da gedenkt er des Widerspruchs, den jener einst gegen seinen Eintritt ins Kloster eingelegt, und der Worte, mit denen derselbe nachher noch an Gottes Gebot, den Eltern zu gehorchen, ihn erinnert habe. Er bekennt, damals nicht gewusst zu haben, dass Gottes Gebote über alles gehen; sein Gelübde, mit dem er sich der Autorität seines Vaters entzogen, sei keine Schlehe wert gewesen. 
44 Gott aber, dessen Barmherzigkeit ohne Mass und dessen Weisheit ohne Ende sei, habe aus diesen Irrtümern und Sünden Gutes erwachsen lassen; er habe ihn durch eigne Erfahrung die Weisheit der Schulen und die Heiligkeit der Klöster kennen gelernt, damit ihm nachher niemand vorwerfen könne, er verdamme, was er nicht kenne. (vot01#16) Dann fragt er seinen Vater, ob er noch jetzt, kraft väterlicher Gewalt, ihn aus der Möncherei nehmen wolle. Er selbst aber antwortet darauf: "Gott ist Dir zuvorgekommen und hat selbst mich herausgenommen; denn was mach's, ob ich noch Kleid und Platte (Tonsur) trage oder ablege? oder macht Kutte und Platte den Mönch? Paulus sagt: Alles ist euer, ihr aber seid Christi; mein Gewissen is frei, ich bin jetzt Mönch und doch nicht Mönch, eine neue Kreatur, nicht des Papstes, sondern Christi. -- (vot01#26)
45 Doch der mich aus der Möncherei genommen hat, der hat noch mehr Recht über mich denn Du; von ihm siehst Du mich gesetzt in den wahren Gottesdienst, den Dienst seines Wortes; diesem Gottesdienst muss auch der Eltern Macht und Recht weichen, wie Christus sagt: wer Vater und Mutter mehr lieb als mich, ist meiner nicht wert. -- (vot01#28
46 So hoffe ich denn, der Herr habe Dir einen Sohn dazu entrissen, um jetzt vielen andern Söhnen durch mich Rat zu schaffen, worüber Du Dich hoch freuen sollst und sicherlich freuen wirst." (vot01#33) So hat hier Luther auch der Schuld sich vollends entledigt, die er seinem Vater gegenüber noch auf sich liegen wusste. 
47        Das fertige Manuskript seiner Schrift schickte Luther gleich am 22. November Spalatin zu, der es nach Wittenberg befördern sollte. Dieser hielt es zuerst noch bei sich zurück und der Druck verzögerte sich dann insoweit, dass das Buch erst in der letzten Februarwoche 1522 zur Versendung kam. (n47
48         Über die Art aber, wie jene Austritte aus seinem Wittenberger Kloster erfolgt waren, äusserte Luther ernstes Missfallen in Briefen an seine Freunde Link, den nunmehrige Ordensvikar, und Lang, den Erfurter Prior. Er meint, diejenigen, welche von der Freiheit Gebrauch machen wollten, hätten aus dem Kloster unter gegenseitiger Übereinsstimmung und im Frieden (470) scheiden sollen. 
49 So riet er denn dem Link, dass von seiten des demnächst abzuhaltenden Ordenskonvents einem jeden die Entscheidung freigestellt, keiner aus den Klöstern verdrängt, keiner mit Gewalt darin zurückgehalten werden möge. Man solle es machen wie Cyrus, als er die Juden aus der Babylonischen Gefangenschaft entliess. Link möge indessen im Dienste Babylons verbleiben; auch er wolle in seiner gegenwärtigen Lebensweise bleiben. (n49
50        Jener Konvent trat dann um die Zeit des Epiphanienfestes 1522 in Wittenberg zusammen. Dazu, dass dieser Ort für ihn gewählt wurde, hatte noch Staupitz geraten. Es blieben jedoch viele Augustiner weg, die an ihm teilnehmen sollten. Seine Beschlüsse entsprachen ganz dem Rate Luthers. Sie erklärten einstimmig: Die, welche bei ihrer mönchischen Lebensweise verbleiben, hierbei aber die bisher mit derselben verbundene verwerfliche Schminke aufgeben wollten, könnten dies tun; wer aber "auf vollkommenere Weise Christo zu leben wünsche", dem solle es freistehen; doch wollten sie damit keinem zu fleischlicher Freiheit Anlass gegeben haben. 
51 In den Klöstern sollten diejenigen, denen Gott die Gabe dazu gegeben, die übrigen im Worte der heiligen Schrift unterrichten, die andern sollten sich leiblichen Arbeiten widmen, um dadurch Lebensunterhalt und Mittel zur Hilfe für Leidende zu gewinnen. Dem Bettel, wie aller Knechtschaft der Sünde und bösen Lust wollten sie absagen; wie Paulus (1 Kor. 9,20f) wollten sie den Juden Juden und den Griechen Griechen werden,, -- wollten über den Ceremonien die zum Glauben gehörige Liebe nicht versäumen, noch den christlichen Frieden stören. (n51
52      Unterdessen waren längst auch die praktische Frage über Messe und Abendmahl in Wittenberg und zwar hauptsächlich eben auch bei den dortigen Augustinern in Gang gebracht worden. Am 1. August hatte Luther in einem Brief an Melanchthon auf Mitteilungen und Fragen zu antworten, welche ihm von diesem zugleich mit Bezug auf jene Geltung der Gelübde und auf das Abendmahl zugegangen waren. 
53 Beim Abendmahl handelte sich's um den Genuss unter beiden Gestalten oder die Mitteilung des Kelchs auch an die Laien und um die Bedeutung dieses Sakramentes als göttlicher Gnadengabe an die Gemeinde oder auch als Opfer an Gott, wodurch die Zulässigkeit der Privatmessen oder Winkelmessen bedingt war. 
54        Über die Austeilung des Kelchs an die Laien behauptete jetzt Carlstadt in Thesen, die er wenige Wochen nach jenen über den Cölibat aufstellte: wer das Abendmahl ohne den Kelch geniesse, der sündige; besser wäre es, sich ganz desselben zu enthalten. Demgegenüber zeigte sich wieder die Eigentümlichkeit von Luthers Standpunkt. An dieser äussern Form des (471) Sakraments war ihm, der ihre Einsetzung durch Christus für die ganze Gemeinde zuerst und ohne alle Menschenrücksicht behauptet hatte, doch so viel nicht gelegen. 
55 In Betreff des Kelches bestand Luther nicht bloss im allgemeint darauf, dass die Kirche des unverkürzte Sakrament für die Laien wiederherstellen sollte, sondern er bezeugte auch den Wittenbergern in jenem Brief an Melanchthon sein Wohlgefallen, wenn sie hiermit vorangehen möchten; ja, er sagt, dies sei das erste, was auch er selbst für den Fall seiner Rückkehr nach Wittenberg zu betreiben gedacht habe. 
56 Denn dort habe man schon genug Erkenntnis von der Verwerflichkeit jener Tyrannei und dort sei man (anders als jene einzelnen frommen Christen) auch imstande, ihr Widerstand zu leisten. Zugleich jedoch erklärte er: wenn fromme Christen von den kirchlichen Tyrannen den Kelch nicht bekommen könnten, sei der Genuss des blossen Brots für sie keine Sünde; es genüge für sie, dass sie der Beraubung des Sakraments innerlich nicht zustimmten. Dagegen behauptete jetzt Carlstadt, es sei besser, des Abendmahls sich ganz zu enthalten, als es ohne den Kelch zu geniessen. (n56
57       Weit wichtiger war für Luther die Verkehrung des Abendmahls in ein Gott darzubringendes Opfer bei der bisherigen Kirche. 
58         Als ihm Melanchthon von einer in Wittenberg gegen die Messe stattfindende Bewegung berichtet hatte, antwortete er darauf am 1. August: "auch ich werde in Ewigkeit keine Privatmesse mehr halten". In der Postillenpredigt aufs Epiphanienfest (oben S. 455 = 4,2#69. 466 = #21) sagt er: "Es sollte nur Eine Messe des Tages gehalten und zwar als ein gemein Sakrament (d. h. als Abendmahl für die Gemeinde) gehalten werden, ja die Woche nur Eine Messe wäre noch besser", -- fügt aber freilich hinzu: "Aber dem Ding ist nicht zu raten, es ist zu tief eingesessen". (h3kong7#66
59 Am 1. November klagte er bei Spalatin darüber, dass auf der Wartburg ein Priester sei, der täglichen diesen Götzendienst treibe, und wünschte, dass wenigstens die Zahl dieser Messen gemindert würde, wenn man sie nicht sogleich ganz abtun könne. 
60        In Wittenberg wurde bereits auch zu wirklichen Änderungen am bisherigen Gottesdienst geschritten, und zwar noch ehe die oben erwähnte Austritte aus dem Augustinerkloter stattfanden. Namentlich die rechte christliche Abendmahlsfeier war es, wofür jener Mönch Zwilling eiferte. Ein junger Schlesier, Sebastian Helmann (richtiger wohl Henmann oder Heinmann, späterer Ratsherr) berichtete am 8. Oktober aus Wittenberg: Gott habe in jenem einen neuen Propheten erweckt; viele nennen ihn einen zweiten Luther; auch Melanchthon versäume keiner seiner Predigten. 
61 Nach Helmanns Bericht fand auch schon an Michaelis, dem 29. September, in der städtischen Pfarrkirke eine Ausspendung des Abendmahls unter beiden (472) Gestalten statt, und auch Melanchthon und seine Schüler nahmen daran teil. Es war, so weit wir sehen, der erste Anfang äusserer kirchlicher Reformen in Deutschland auf Grund der lutherischen Lehre. Leider fehlen uns darüber weitere und genauere Nachrichten. 
62         Zwilling drang eifernd vorwärts; so besonders wieder in einer Predigt am 6. Oktober. Er forderte, dass man die Mönche nicht mehr anhalte tägliche Messe zu lesen, und das Sakrament nicht mehr dazu gebrauche, geopfert, sondern nur genossen zu werden, und zwar genossen von der ganzen beim Gottesdienst anwesenden Gemeinde. Weiter protestierte er dagegen, dass man das Sakrament zum Gegenstand der Anbetung mache. Denn das Abendmahl sei eingesetzt nicht um geopfert, noch auch um angebetet, sondern um genossen zu werden, und zwar genossen nicht bloss durch dem Priester, sondern durch eine Gemeinschaft von Christen; alle Anwessenden müssten am Genusse teilnehmen, dazu müsse allen der Kelch so gut wie das Brot gereicht werden. 
63 Da der Prior des Klosters, Held, ihm und seinen Gesinnungsgenossen, welche die grosse Mehrzahl im Kloster bildeten, die geforderte Reform nicht gestattete, sie aber auf ihrer neuen Form bestanden, so wurde in der Klosterkirche der Messgottesdienst seit dem 13. Oktober ganz eingestellt und statt dessen nur gepredigt. Der Prior glaubte, andernfalls der Einführung des neuen Brauchs nicht mehr steuern zu können. 
64       Auch die Universität und das Kapitel des mit ihr verbundenen Allerheiligenstiftes (der Schlosskirche) verhandelten über jene Forderungen. Der Kurfürst beauftragte gleich auf die Nachricht hin, die er am 8. Oktober in seiner Residenz zu Lochau über ein Aufhören der Messen bei den Augustinern in Wittenberg erhielt, seinen Kanzler Brück, die dortigen Professoren und Stiftsherrn zu einer Äusserung darüber zu veranlassen. 
65 Diese fiel zunächst noch unbestimmt aus. Carlstadt hielt, wie er noch in einer Disputation am 17. Oktober sich äusserte, die Zeit zu den Änderungen noch nicht für reif und wollte, dass man, um die Pflichten der Liebe nicht zu verletzen, zuerst noch weiter gegen die Messen predige und dann die gesamte Wittenberger Gemeinde über ihre Abschaffung Beschluss fassen lasse; Melanchthon dagegen meinte, jene Augustiner hätten zur Verweigerung des bisherigen Messdienstes in ihrer eigenen Kirche das Recht gehabt und hätten damit ein gutes Beispiel gegeben. 
66 Ein Ausschuss der Professoren und Stiftsherren, dessen Einsetzung Kanzler Brück veranlasst hatte, und zu welchem namentlich jene beiden Männer und Jonas, der Stiftspropst, gehörten, vereinigte sich endlich zu einem Gutachten vom 20. Oktober: den Mönchen wurde hier recht gegeben, wenn sie sich zum bisherigen Missbrauch der Messe nicht mehr wollten nötigen lassen; doch wurden ihre Einwendungen dagegen, dass (473) der Priester, wie in der Privatmesse geschah, für sich allen kommuniziere, nicht für genügend erfunden, ihnen vielmehr empfohlen, dass man hierin die schwachen Brüder noch eine Zeitlang dulde. 
67 Ferner wurde jenen darin zugestimmt, dass die Austeilung des Abendmahls unter einer Gestalt "nicht genugsam entschuldigt werden könne"; vielmehr solle der ursprüngliche Brauch des Sakramentes in der christlichen Kirche wieder hergestellt werden. Und nun bat der Ausschuss den Kurfürsten, er möge "als ein christlicher Fürst zu der Sache mit Ernst tun und solchen Missbrauch der Messen in seinen Landen und Fürstentum bald abtun", ob man ihn gleich darüber einen Böhmen schelten würde. 
68 Hinsichtlich der Privatmesse möge man den Augustinern Freiheit lassen, wofern nur diejenigen, welche bei ihr verbleiben wollten, ihrer sonst nicht missbrauchten. In jener Bitte vernehmen wir zum erstenmal aus dem Munde von Anhängern Luthers (jedoch noch nicht aus dem Luthers selbst) den Grundsatz, dass eine direkte Vornahme derartiger kurchlicher Reformen Sache des Landesherrn sei. Der Ausschuss warnte hierbei den Kurfürsten, dass ihm nicht wie Kapernaum (Matt 11,23) von Christo am jüngsten Tage vorgeworfen werde, es sei in seinem Lande umsonst solche besondere Gnade geschehen und das heilige Evangelium geoffenbart worden. 
69        Allein der Fürst, der bisher so beharrlich jeden Eingriff in die freie Predigt des evangelischen Wortes von sich gewiesen hatte, scheute sich jetzt nicht minder beharrlich davor, irgend etwas gutzuheissen oder gar selbst vorzunehmen, was in die allgemeinde Kirche der Christenheit und des Reichs einen tatsächlichen Riss bringen konnte. Er liess (25. Oktober) dem Ausschuss antworten: weil das eine grosse Sache sei und das Gemeinwesen der ganzen Christenheit betreffe, werde nicht ungut sein, dass sie darin sich nicht übereilten. Sie seien ja nur ein kleiner Teil der Christenheit, der solches, nämlich den angeblichen Missbrauch, schwerlich werde aufheben können; sei ihr Vorbringen im Evangelium begründet, so würden demselben auch andere noch zufallen; dann werde die Änderung mit dem gemeinen Haufen ohne Beschwer vorgenommen werden können; ihn sellbst fehle es an Bericht darüber, wann die gegenwärtige, wohl schon viele Jahrhundert alte Weise der Messe angefangen und die apostolische aufgehört habe. 
70 Ferner gab er zu bedenken, dass das Einkommen der Kirchen und Klöster meistens auf Messstiftungen beruhe und von Rechts wegen mit diesen dahinfallen müsste. Schliesslich gab er jedoch "als ein Laie, der der heiligen Schrift nicht berichtet", der Universität und dem Kapitel nur die unbestimmete Weisung, nichts zu unternehmen, woraus Zwiespalt und Aufruhr entstehen könnte. Auf den Streit im Augustinerkloster liess er sich gar nicht ein. 
71          Die Gärung aber nahm in Wittenberg heftig zu; sie richtete sich (474) vornehmlich gegen die Messgottesdienste der städtischen Pfarrkirche und der dem Fürsten besonders am Herzen liegenden Stifts- und Schlosskirche. Besolders eiferte gegen diese der Propst Jonas. Zugleich erfolgten jetzt jene Austritte der Mönche aus dem Augustinerkloster (oben S. 468 = #36). Der Prior stellte dem Kurfürsten das Ärgernis und den Schaden vor, womit die Änderung des Gottesdienstes das gemeine Volk, das Fürstentum und den Orden bedrohe, und berichtete ihm, wie wir schon oben a. a. O. hörten, von den Predigten, in denen zur Zerstörung der Klöster und zur öffentlichen Verhöhnung der Mönche aufgefordert werde. 
72 Die Ausgetretenen beschuldigte er, dass sie, unter den Bürgern und Studenten sich umtreibend, lose Bursche gegen die im Kloster Zurückgebliebenen aufhetzten; diese und er selbst seien stündlich in Gefahr. Auch wurde ein Antoniter oder Antonius-Mönch, der am 5. und 6. Oktober Almosen für seinen Orden i Wittenberg zu sammeln versuchte, von den dortigen Studenten insultiert. An Jonas richtete jetzt Spalatin ein Schreiben, aus dem wir sehen, wie sehr auch dieser Ratgeber des Kurfürsten und Freund Luthers mit dem Verhalten seines Fürsten einverstanden war. 
73 Er wünschte hiernach den Austritten aus dem Kloster und anderen ähnlichen Neuerungen den besten Erfolg, falls dadurch eine Neugeburt der ursprünglichen christlichen Kirche sich hoffen liesse; aber er fragt, wie man je zu einer neuen, ganz fleckenlosen Kirche gelangen könne. Er will Jonas nicht zum Messhalten genötigt haben, aber dieser möge auch andere, die es vielleicht im Glauben tun möchten, dabei lassen. 
74 Er erklärt sich selbst bereit, alles mögliche zu tun, zu ändern und zu leiden, aber nur wenn die allgemeine christliche Kirche zustimme. Denn, sagt er, wonach sollen wir Unglücklichen uns richten, wenn überall der eine dies, der andere jenes predigt, schreibt, schreit, verdammt, billigt u. s. w.! So wenig hatte auch er schon Luthers Lehre von der Glaubensgewissheit und Kirche sich wahrhaft zu eigen gemacht! Auch unter den Mitgliedern der Universität waren übrigens keineswegs alle mit jenem Ausschuss einig; vielmehr wollte die Mehrzahl sich in diese Sache gar nicht mehr einlassen, sondern sie ganz den Theologen überlassen, da sie selbst in der heiligen Schrift unerfahren seien. 
75        Luther nun war nach dem, was wir ihn schon zuvor äussern hörten, mit den Grundsätzen, die das Ausschussgutachten enthielt, ohne Zweifel wesentlich einverstanden. Was dieses befürwortete, das hielt ja auch er für dringend geboten. Nur erhob sich bei ihm in Betreff derjenigen Personen, welche von der bisherigen Messe bereits sich losgemacht hatten, nämlich in Betreff seiner Wittenberger Klosterbrüder, sogleich wieder eine ernste Besorgnis, ob ihr äussere Schritt auch in ihrer Erkenntnis und ihrem Gewissen sichern Grund habe. 
76 Er verhielt sich dazu ganz wie zu (475) jenen Austritten aus dem Kloster. So verfasste er denn gleichzeitig mei seinem Büchlein über die Gelübde auch eine neue, noch vor jenem fertiggestellte Schrift Vom Missbrauch der Messe -- (de abroganda missa privata), -- erst lateinisch, dann gleich auch in deutscher Übersetzung. 
77        Er widmete sie ausdrücklich seinen "lieben Brüdern, den Augustinern zu Wittenberg" und eröffnete sie mit einer Ansprache an diese unter dem 1. November (im lateinischen Text; in der deutschen Übersetzung unter dem 25.) Die Nachricht, dass seine Brüder die ersten seien, welche in ihrer Mitte den Missbrauch der Messe abzutun angefangen haben, hat ihn hoch erfreut als ein Werk, daran er spürt, dass das Wort Christi in ihnen wirke. Aber er fragt sie, wie es ihnen gehen werde, wenn sie darüber in der ganzen Welt von allen, auch von frommen und weisen Menschen, Schmach und Lästerung erleiden müssen; denn es sei ein gar gross Ding, einer solchen langen Gewohnheit und aller Menschen Sinn zu widerstreben, ihre Scheltworte und Verdammung geduldig zu tragen, gegen solche Sturmwinde und Wellen unbeweglich stille zu stehen. (abroganda#2
78 Er habe dies an sich erfahren; sein Herz habe anfangs bei seinem Kampf gegen den Papst gar oft gezappelt und ihm trotz der stärksten Schriftgründe das einzige Argument der Gegner vorgeworfen, ob er denn allein klug sei: (abroganda#9) es werde sich zeigen müssen, ob seine Brüder auf den Fels gebaut hätten oder auf Sand stünden. Seine Schrift gibt dann eine neue ausführliche Belehrung über das Wesen des christlichen Priestertums und des geistlichen Amtes, über das Sakrament des Leibes und Blutes Christi, das wir nicht Gott zur Versöhnung darbringen, sondern vom gnädigen Gott als Pfand der Vergebung empfangen und in der Gemeinde austeilen sollen, ferner über die Nichtigkeit und Verwerflichkeit aller der menschlichen Satzungen, welche Rom und die papistischen Theologen der Christenheit auflegen. 
79 Man wollte mit den Winkelmessen vornehmlich den Seelen im Fegfeuer helfen und berief sich dafür, wie schon Papst Gregor der Grosse, besonders auf Erscheinungen abgeschiedener Seelen, welche um solche Hilfe gefleht hätten; die Erscheinungen hält er für Teufelsspuk und rät, vielmehr gar nichts vom Fegfeuer zu halten, als dass man dem Gregor hierin glauben sollte. Während nach dem katholischen Brauch der Priester in der Privatmesse für sich allein das Sakrament genoss, erklärt er es für das "sicherste", wenn der Geistliche, welcher das Brot weihe, es dann sich selbst von einem andern reichen lasse, oder will wenigstens, dass derselbe es nicht allein geniesse, sondern auch andern austeile. 
80 Mit Bezug auf Wittenberg sprach dann Luther den Wunsch aus, dass hier das Ärgernis für die papistischen Pharisäer nur immer mehr zunehmen, dass überall die Messen fallen und das "Plärren und Brüllen" in den Kirchen aufhören, ja dass jene lästern möchten: "Siehe, zu Wittenberg ist kein Gottesdienst mehr, sie sind alle Ketzer und unsinnig geworden". Speziell wendet er sich gegen das Allerheiligenstift, das der Kurfürst mit Messstiftungen so reich dotiert hatte. Er nennt es in seiner Schrift ein Bethaven,  d. h. ein Sündenhaus der Abgötterei (vgl. Hosea 4,15; 10,5), das der Fürst, durch die Papisten betrogen, so trefflich gemehrt habe, und von dessen ungerechtem Mammon so viele arme Leute in Sachsen ernährt werden könnte; um dieselbe Zeit äusserte er auch gegen Spalatin den Wunsch, dass der Kurfürst dieses Bethaven abtäte und seine Einkünfte den Armen zu gute kommen liesse. 
81 Hinsichtlich des Fürsten aber freut er sich in seiner Schrift, dass derselbe kein Tyrann noch Narr sei, der dieWahrheit nicht gern hören könnte, und hofft, dass seine Brüder unter ihm das angefangene Werk desto besser werden vollbringen können. Ja er sagt am (476) Schlusse seines Buches: er habe als Kind ein Prophezeiung gehört, dass Kaiser Friedrich das heilige Grab erlösen werde; das sei ja wohl jetzt erfüllt in diesem Fürsten Friedrich, der bei den letzten Kaiserwahl durch die einmütige Stimme der Kurfürsten schon so gut wie zum Kaiser gewählt gewesen sei und nur selbst die Krone nicht gewollt habe. 
82 Das heilige Grab nämlich sei die heilige Schrift, darin die Wahrheit Christi, durch die Papisten getötet, von den Bettelorden und Ketzermeistern eingeschlossen gehalten worden sei; unter Friedrich sei sie hervorgekommen. Wundersamerweise trage auch eine grosse Zahl von Ortschaften um Wittenberg hebräisch klingende Namen und die Stadt selbst heisse Weissenberg, das sei Libanon. So weit will Luther spielend geredet haben.
83 Das aber, sagt er, sei Ernst, dass ihnen vor andern gegeben sei, das reine und erste Angesicht des Evangeliums zu sehen. Und so ermuntert er nun die Brüder, dass sie als Eiferer im Geist dieses auch ausbreiten und anderen zu sehen geben. Nur ermahnt er sie sofort auch, einträchtig einherzugehen und ohne Hader einander die Hand zu reichen. Sie sollen sich halten nach Pauli Wort: "Ist jemand schwach unter euch im Glauben, der esse Kraut und richt nicht den, der Fleisch isset, und wiederum wer stark im Glauben ist, verachte nicht den, der nicht Fleisch isst" (Röm 14). So wollte er, während er den Fortschritt der Reformen wünschte, doch diese Rücksicht auf die Schwachen stets streng beachtet haben. (n83
84       Er blieb aber weiterhin noch bei seiner guten Meinung und Erwartung unter den aus Wittenberg kommenden Nachrichten. Der übeln Empfang, welcher jenem Antoniusmönch (oben S. 474 = #72) zu teil wurde, missbilligte er, sah jedoch darin nur einen jugendlichen Exzess. (n84
85        Bald aber müssen ihm Botschaften zugekommen sein, die ihm in der Ferne keine Ruhe mehr liessen. Sie trieben ihn, persönlich wenigstens Kenntnis von dem Stande der Dinge dort zu nehmen. Plötzlich machte er sich auf den Weg zu einen Besuch in Wittenberg. 
86       Er reiste dahin in seiner Reiterkleidung, insgeheim, aber furchtlos. Am Mittag des 3. Dezember kehrte er auf dem Hinweg in Leipzig ein. Wir entnehmen dies den Aussagen eines dortigen Wirtes, der nachher gerichtlich darüber vernommen wurde, dass er ihn beherbergt habe. Dieser gab an: an jenem Mittag sei bei ihm ein Reitender erschienen mit einem Knecht, in grauen Reiterkleidern; derselbige habe einen Bart gehabt und ein rot Baretlein, wie jetzt gewöhnlich sei, unter dem Hute; das Baretlein habe er nicht abnehmen wollen, sondern fest aufgezogen; er wisse nicht, ob es Luther gewesen sei, aber ein Weib, das ihn wohl zu kennen behauptete, habe gesagt, er sei es. Der Tag und die andern Umstände stimmen ganz dazu, dass er's wirklich war. 
87        Auf dem Wege nach Wittenberg schmerzte ihn, wie er gleich von dort aus an Spalatin berichtete, mannigfaches Gerücht von einem ungestümen, ungehörigen Treiben gewisser Genossen, und er beschloss, gleich nach seiner Rückkehr auf die Wartburg eine öffentliche Vermahnung dagegen ausgehn zu lassen. Wir werden dadurch auch an einen Tumult erinnert, der eben jetzt, (477) am 3. Dezember, in seinem eignen Wittenberg vorfiel: da wurden in der Pfarrkirche Priester, welche Messe lesen wollten, durch einen Haufen von Studenten und Bürgern weggetrieben, und Tags darauf bedrohten und beschimpften Studenten das Barfüsserkloster, so dass der Rat diesem eine Wache zum Schutz gab; auch wurden bei mehreren Domherren der Stiftskirche die Fenster eingeworfen; von Erfurt gekommene Studenten (vgl oben S. 463  = #4) sollen besonders zu dem Unfug beigetragen haben. 
88 Wir werden indessen auch noch an Gerüchte von anderen, bedeutenderen Vorgängen, von denen uns nichts mehr bekannt ist, zu denken haben, da Luthers nachfolgende Schrift auf jene Wittenberger Exzesse keine spezielle Beziehung nimmt und jedenfalls noch Umfassenderes und Gewichtigeres im Auge hat. 
89        In Wittenberg stieg Luther bei dem damals in Amsdorfs Hause wohnenden Melanchthon ab; denn eine Einkehr im Kloster durfte er nicht wagen. Drei Tage lang verweilte er dort insgeheim. Vor allem erquickte er sich am Wiedersehen seiner Freunde, besonders seines Melanchthon. Er konnte sich auch fröhlichen Scherzes nicht enthalten, indem er sich mit seinem Barte dem einen und andern zuerst al seinen fremden Junker vorstellte: so seinem Freunde Lukas Cranach, den er kommen liess, um den fremden Gast zu porträtieren. (Wir besitzen noch das Bild Luthers mit ritterlichen Vollbart in Cranachschem Ölgemälde und Holzschnitt). 
90 Er war zufrieden mit dem, was er bei jenen sah, und wünschte nur, dass Gott diejenigen, welche recht gesinnt seien, stärken möge. Dagegen schmerzte es ihn sehr, zu erfahren, dass seine drei letzten Schriften, die er jenen durch Spalatin zugesandt hatte, um sie zum Druck zu befördern, nämlich die über die Abschaffung der Messe, die von den Gelübden und die wider den Abgott zu Halle (oben S. 450ff = 4,2#41), nicht angelangt seien: Spalatin hatte sie aus Angst vor ihrer Veröffentlichung stillschweigend zurückbehalten. 
91  Luther schrieb ihn sogleich: er solle endlich seiner verdächtigen Mässigung und Klugheit ein Mass setzen, denn er werde vergebens gegen den Strom rudern. Die Schriften würden erscheinen, wenn nicht in Wittenberg, dann anderswo; seine Papiere könne er vernichten, seinen Geist nicht, sondern dieser werde ergrimmen und noch weit stärkeres unternehmen. Über das, was er jetzt in Wittenberg sah und hörte, beerichtete er ihm, dass es ihm alles sehr wohl gefalle, und dass er Gott bitte, den Geist der Gutgesinnten zu stärken, wiewohl ihn unterwegs jenes Gerücht sehr geschmerzt habe und ihn zu jener Vermahnungsschrift veranlasse. Wegen der Reformen, zunächst der Freigebung des Cölibats, schrieb er ihm bald nachher: "soll man beständig nur disputieren über Gottes Wort, der Tat aber immer sich enthalten?" --
92   Vornehmen konnte er jedoch in Wittenberg nichts. Da seine (478) Anwesenheit ruchbar wurde, eilte er still, wie er gekommen war, wieder hinweg. Etwa acht Tage nach jener Einkehr in Leipzig war er dort wieder über Mittag. (n92
93         Nach seinem Patmos zurückgekehrt, schrieb er schleunig "Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu verhüten vor Aufruhr und Empörung", und schickte sie Spalatin zu, damit sie so schnell als möglich gedruckt werde. 
94        Er wollte darin der Gefahr begegnen, welche im grossen für die deutsche Christenheit einesteils aus dem stets wachsenden Unwillen und Hass der Menge gegen die Pfaffen und Mönche, anderseits aus dem hartnäckigen, blinden Widerstand der Papisten gegen jeden Ruf nach Reform erwuchs. Diese wurden in volkstümlichen Schriften bereits davor gewarnt, dass sie Ursache geben möchten, mit Flegeln und Kolben drein zu schlagen. Sie selbst beschuldigten Luther und seine Anhänger, eben hierzu das Volk aufzuwiegeln. Luther sagt: es lasse sich ansehen, als komme es zu einem Aufruhr, in welchem Pfaffen, Mönche, Bischöfe mit dem ganzen geistlichen Stand erschlagen werden möchten. (oproer#3
95         Über das wirkliche Vorhandensein einer solchen Gefahr dachte er selbst eigentümlich. Was er nämlich über den Sturz des Papsttums durch den wiederkehrenden Christus selbst schon früher (besonders in der Schrift gegen Catharinus, oben S. 398f. = 3,17#80) geäussert hatte, das hielt er fort und fort hoffend fest. Denn im Papst sah er ja die Weissagung vom Antichrist erfüllt, -- vom Antichrist, der ohne Hand zerknirscht und von Herrn Jesus mit dem Geist seines Mundes getötet werden solle (Dan. 8,25; 2 Thess. 2,8). Daran erinnert er wieder an seiner Vermahnung. (oproer#9)
96  Wie nahe er aber diese Zukunft des Herrn hoffte, das zeigt uns seine Postillenpredigt auf dem 2. Advent über Jesu Weissagung Luk. 21,25ff; hier sagt er: er wisse nicht, was die "Bewegung der Kräfte des Himmels" bedeute, wovon Jesus rede, es wäre denn die grosse Konstellation der Planeten, die im Jahre 1524 eintreten werde; er höre von den "Sternmeistern", sie bedeute eine Sündflut; er selbst fährt fort: "Gott gebe, dass der jüngste Tag sei, welchen sie gewisslich bedeuten". (n96
97  So erklärt er denn in seiner Vermahnung: er sei gewiss, dass der greulichen Bosheit des Papsttums eine viel furchtbarere Strafe, als durch Menschen bevorstehe, nämlich durch das unmittelbare Zorngericht Gottes; ja er möchte sein eignes Leben zehnmal für die unseligen Papisten darangeben, wenn er dadurch für sie noch so viel Gnade bei Gott erwerben könnte, dass dieser sie statt dieses Gerichts nur mit dem Fuchsschwanz des leiblichen Todes oder Aufruhrs züchtigte: aber, sagt er, "es hilft kein Bitten mehr, der Himmel ist eisern, die Erd ehern, der Zorn ist schon endlich über sie kommen" (1 Thess. 2,16). (oproer#9)
98         Mehrmals wiederholt er so mit aller Bestimmtheit, zu dem gefürchteten allgemeinen Angriff oder "gemeinen Antasten" werde es trotz des gegenwärtigen Anscheins nicht kommen, wenn auch etliche der Papisten angetastet würden. Allein die Herzen möchte er dennoch darüber unterrichten, was sie von Aufruhren zu halten hätten. In seiner Vermahnung hierüber trägt er dann die Grundsätze vor, welche für ihn auch bei seinem eignen praktischen Verhalten unter den bevorstehenden Stürmen und Aufgaben durchweg massgebend waren, mit denen übrigens auch schon seine früheren Äusserungen, namentlich den Planen Huttens gegenüber, ganz harmonieren. 
99  Er gestattet der Menge oder "dem Herrn Omnes" durchaus kein (479) gewaltsames Eingreifen. Nur der Obrigkeit als der "ordentlichen Gewalt" weisst er Recht und Pflicht zu, Verbote gegen dasjenige, was wider das Evangelium getrieben werde, zu erlassen und mit Gewalt auf dieselben zu halten, wobei sie übrigens das Hauen und Stechen gar nicht nötig haben werde; über positive Reformen durch die fürstliche Gewalt, wie jener Wittenberger Ausschuss sie gewünscht hatte, erklärt er sich nicht weiter. Dagegen sagt er vom Aufruhr, der bringe nimmermehr die Besserung, die man suche; denn Aufruhr habe keine Vernunft und gehe gemeiniglich mehr über die Unschuldigen denn über die Schuldigen; Gott habe denselben verboten, der Teufel aber gebe ihn ein, um damit die evangelische Lehre zu beschimpfen: so mache man dieser jetzt schon jenes Spiel, das der Teufel in Erfurt mit den Pfaffen angefangen habe, zum Vorwurf. (oproer#30)
100  Könne der Einzelne die Obrigkeit zum Eingreifen bewegen, so möge er's tun. Wolle die Obrigkeit nicht, so solle man still halten, die eigne Sünde erkennen, welche Gott mit dem antichristlichen Regiment strafe, zu Gott demütig wider dasselbe beten und den eignen Mund zu einem Munde jenes Geistes Christi werden lassen, der den Antichrist töten solle. So überträgt Luther jetzt jenen Ausspruch für die Gegenwart, bis dass der Herr selbst komme, auf das Wirken der Christen durch die Kraft des Wortes. Des Erfolges solcher Wirksamkeit ist er ganz sicher, namentlich auch im freudigen Bewusstsein dessen, was bereits durch seinen eignen Mund das Wort Christi ausgerichtet hatte: "Siehe", sagt er, "mein Tun an; hab ich nicht dem Papst, Bischöfen, Pfaffen und Mönchen allein mit dem Mund mehr abgebrochen, denn bisher alle Kaiser, Könige und Fürsten mit aller ihrer Gewalt? warum das? darum, dass St. Paulus sagt: er soll mit dem Munde Christi verstöret werden. --
101  Es ist nicht unser Werk, dass jetzt geht in der Welt, es ist nicht möglich, dass ein Mensch sollte allein solch ein Wesen anfahen und führen; ein anderer Mann ist's, der das Rädlein treibt." So ermuntert er: "siehe nun, treibe und hilf treiben das heilige Evangelium; rede, schreib', predige, wie Menschengesetze nichts seien; rate, dass niemand Pfaff und Möncht werde und, wer drinnen ist, herausgehe; gib nicht mehr Geld zu Bullen, Krezen, Glocken u. s. w., sondern sage, das christliche Leben stehe in Glauben und Liebe. Lass uns das noch zwei Jahre treiben. 
102  Wie ist den Papisten die Decke schon so kurz und schmal worden! die Ablassprediger klagen, sie müssten schier Hungers sterben; was wil werden, so dieser Mund Christi noch zwei Jahre mit seinem Geist dreschen wird? Du sollst wohl sehen, wo Papst, Pfaffen, Mönche, Messen, Statuten und das ganze Gewürm päpstlichen Regiments bleiben: wie der Rauch soll es verschwinden! Solch Spiel wollte der Teufel mit leiblichem Aufruhr gern hindern; aber lasst uns weise sein, Gott danken für sein heilig Wort und für diesen seligen geistlichen Aufruhr frisch den Mund hergeben". 
103           Weiter rügt Luther, dass etliche, wenn sie nur ein paar Blätter gelesen haben, "rips raps herauswischen" und nichts tun als andern, weil sie nicht evangelisch seien, über den Mund fahren, ohne Rücksicht darauf, dass es schlichte, einfältige Leute seien, denen man nur erst die Wahrheit sagen müsste. Sie wollen, sagt er, nur etwas Neues wissen und für "gut lutherisch angesehen" werden. Ein Zweifaches hat er ihnen zu sagen. Nämlich: "zum ersten bitt ich, man wolle meines Namens geschweigen und sich nicht lutherisch, sondern Christen heissen; was ist Luther? ist doch die Lehre nicht mein, so bin ich auch für niemand gekreuzigt. St. Paulus (1 Kor 3,4f) wollte nicht leiden, dass die Christen sich sollten heissen paulisch oder peterisch; wie käme denn ich armer, stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollte mit meinem heillosen Namen nennen?" 
104  Zum andern lehrt er sie auf (480) den Unterschied der Personen achten. Habe man verstockte Lügenmäuler vor sich, so solle man die Perlen nach Matth. 7,6 nicht vor die Säue werden; sehe man sie jedoch ihr Gift andern Leuten einträufeln, so solle man sie getrost vor den Kopf stossen. Dagegen solle man diejenigen, welche noch nicht genug unterwiesen oder noch schwach seien, nicht überrumpeln, sondern freundlich und sanft unterweisen. Man dürfe nicht kurz herfahren mit Vorwürfen, dass sie nicht recht beteten und Messe hätten, oder dass sie am Freitag Fleisch essen sollten, sondern man müsse ihnen zeigen, wie am Essen oder Nichtessen die Seligkeit nicht liege, wie die Messe wohl gut wäre, wenn sie recht gehalten würde. 
105  Er gibt dafür ein Gleichnis: "wenn Dein Bruder mit einem Strick um den Hals gefährlich gebunden wäre von seinem Feind, und Du Narr würdest zornig auf den  Strick und Feind und rissest den Strick mit grossem Ernst zu Dir oder stächest mit einem Messer darnach, so solltest Du wohl Deinen Bruder erwürgen oder erstechen und mehr Schaden tun, denn der Strick und Feind. Du musst aber also tun: den Feind magst Du hart genug schlagen, aber mit dem Strick musst Du sanft und mit Furcht umgehen, bis Du ihn von seinem Halse bringst". "Den Wölfen", sagt er, "kannst Du nicht zu hart sein, den schwachen Schafen kannst Du nicht zu weich sein". Schliesslich wünscht er: #Gott geb' uns allen, dass wir auch leben, wie wir lehren; unser ist viel, die da sagen: Herr, Herr, und loben die Lehre, aber das Tun und Folgen will nicht hernach." 
106          In Wittenberg wurde solchen Auftritten, wie am 3. Dezember, durch den kurfürsten Einhalt getan. Er gebot, die Schuldigen zu bestrafen, indem er Wittenberger Bürgern, die ihrer sich annahmen, erklärte: sicherlich hätte es auch von ihnen keiner gern, dass er in seinem Hause dergestalt Frevel leiden sollte. Dagegen wurden wirkliche Änderungen des Gottesdienstes jetzt mit beschleunigter Schnelligkeit vorgenommen. 
107        An derjenigen Stelle zwar, wo über die Reformfrage bisher die Verhandlungen geführt worden und von wo eine Entscheidung noch zu erwarten war, nämlich bei der Universität und dem Kapitel und beim Landesfürsten, machte die Angelegenheit keine positive Fortschritte. Denn während jener Ausschuss dem fürstlichen Bescheid vom 25. Oktober gegenüber seinen Standpunkt festhielt und gegen die Zweifel, ob so wenige etwas gegen die gemeine Christenheit durchsetzen könnten, sich mit evangelischer Glaubensmut darauf berief, dass allweg der kleinste und verachteste Haufe die Wahrheit angenommen habe, bat ein beträchtlicher Teil der Mitglieder des Kapitels den Kurfürsten um seinen Schutz, dass man in den Pfarrkirchen und Klöstern, bis "die Sache erkannt sei und ihre Endschaft erlange", die Messe sicher fortfeiern könne, und eine Beratung der Universität über das neue Gutachten des Ausschusses kam gar nicht zustande, weil die meisten Mitglieder wegblieben. 
108  So wenig war auch nur die Universität schon von dem reformatorischen Eifer durchdrungen. Der Kurfürst liess der Universität und dem Kapitel am 19. Dezember antworten: da sie sich nicht einmal in ihrem kleinen Haufen hätten vereinigen können, so wäre nichts Gutes zu erwarten, wenn die Sache unter die vielen käme; sie sollten sich der Neuerungen (481) in der Messe enthalten, auf dass er erst auch von andern erwogen werde, und indessen weiter, und zwar mit christlicher Mässigung, darüber disputieren, schreiben und predigen. 
109          Aber jetzt schritt mit einem Male Carlstadt selbständig voran: er schwang sich dazu auf, der Führer der Bewegung, der eigentliche, praktische Reformator zu werden. 
110        Es war ein eigentümlicher Gang, den er bisher in seinem Verhalten neben Luther gemacht hatte. Zuerst hatte er als eifriger Schüler des grossen Thomas von Aquin von der Theologie eines Augustin, der Bibel und des Paulus nichts wissen wollen. Im Jahre 1515 war er von seinem Wittenberger Archidiakonat und Lehramt weg eigenmächtig nach Rom gegangen, um dort Jura zu studieren, wohl in der Absicht, dadurch Aussicht auf die Propstei beim Wittenberger Stift zu bekommen. 
111  Seit 1516 trat auch er -- mit eigenen Thesen, aber gewiss nicht ohne tatsächlichen Einfluss Luthers -- für die Gnadenlehre Augustins und gegen die Scholastik auf. Dann eilte er voran zum Kampf mit Eck, zur grossen Leipziger Disputation, bei der er sich doch so wenig Lorbeeren holte. Die nächsten entscheidenden, gefährlichen Schritte gegen den Primat des Papstes und die Autorität der Konzilien, gegen die Entziehung des Laienkelchs und die Verketzerung des Huss und der Böhmen, gegen Cölibat und Mönchtum liess er Luther allein tun. 
112  Seither sprang er wieder voran, wollte jeden Genuss des Abendmahls ohne Kelch verbieten, den Geistlichen die Ehe zum Gesetz machen. Er las und studierte viel und produzierte schnell, aber seine Ideen waren unklar, seine Beweise unreif. Bei allen, was er jedesmal für sich festgestellt hatte, zeigte er sich sehr selbstgewiss und stark im Willen, aber auch schroff und rücksichtslos andern gegenüber. Man klagte über seine Streitsucht und seinen Eigensinn; bei seinem theologischen und kirchlichen Verhalten war ein grosser Ehrgeiz unverkennbar. (n112
113            In Betreff der Winkelmesse hatte er, wie oben gezeigt wurde, noch im Oktober sogar Melanchthon gegenüber den Standpunkt der Mässigung und Vorsicht vertreten: er wollte, dass man erst noch weiter darüber predige, ehe man sie aufhebe. Bald fand er, dass die Zeit jetzt doch reif sei. In der Stiftskirche, an welcher er Archidiakonus war, kündigte er am 22. Dezember an, dass er am nächsten Neujahrstag jedem, der es wolle, das Abendmahl unter der Gestalt von Brot und Wein nach Christi Ordnung und ohne viel Ceremonien austeilen werde. 
114  Während die kurfürstliche Räte sich beeilten, eine Abmachung hiergegen nach Wittenberg zu schicken, war er noch eiliger und nahm jenen Akt bereits am Christfest zum erstenmal vor: nach einer Predigt, in der er vom rechten Brauche des Sakraments gehandelt, gab er allen, die teilnehmen wollten, das Brot und den Kelch; (482) eine vorangehende Beichte erklärte er für unnötig, die den Opferakt ausdrückenden Stücke des Messe liess er weg. Am Neujahrstag und ebenso am folgenden Sonntag, am Epiphanienfest u. s. w. fanden dann sehr zahlreich besuchten Kommunionen in dieser Form statt. Zur selben Zeit verlobte sich Carlstadt und hielt am 19. Januar feierlich Hochzeit. (n114
115          Im Augustinerkloster legten die reformeifrigen Mönche, von denen nur ein Teil ausgetreten war, bereits noch an andere papistische Ärgernisse die Hand an. Sie entfernten nicht bloss die Altäre bis auf einen aus ihrer Kirche, sondern sie verbrannten auch die in der Kirche befindlichen heiligen Bilder. Jener Augustinerkonvent, der um Epitaphien in Wittenberg seine Beschlüsse fasste, sprach in Betreff der Messen nur aus, dass der Erwerb durch gestiftete Messen ebenso wie der durch Bettel aufhören solle, in Betrefff der Ceremonien, dass man darin die Liebe und den Frieden wahren müsse (oben S. 470 = #50). 
116  Auf weiteres als auf dies und auf die Geltung der Mönchgelübde gingen seine Beschlüsse noch nicht ein: die andern grossen Fragen wurden auf einen neuen Konvent, der an Pfingsten stattfinden sollte, aufgeschoben. Jene Mönche aber verbrannten gleich am Tag nach der Abreise der Konventsmitglieder auch das Öl zur letzten Ölung, weil sie nach der evangelischen Lehre nicht mehr als Sakrament gelten durfte. (n116) -- Bei der städtischen Gemeinde waren die Vorkämpfer der Reform noch nicht so weit vorgerückt. Carlstadt hatte indessen bereits in seiner Schrift gegen die Gelübde nebenbei auch von den "äusserlichen Bildern" erklärt, dass sie durch Gottes Wort 2 Mos 20,4 verboten seien. 
117         Die neue Form des Abendmahlsgottesdienstes fand bald Nachfolge in benachbarten Ortschaften (so in Eisenburg, Schmiedberg, Herzberg, Jessen). Besonders tat sich bei ihrer Verbreitung wieder Zwilling hervor. Ferner wurde jetzt von den Neueren besonders auch darauf Gewicht gelegt, dass die Kommunikanten das Brot und den Kelch in die eigne Hand nehmen, nicht vom Priester sich in den Mund reichen lassen sollten; dass das kirchliche Verbot, den Leib des Herrn mit Händen anzurühren, lächerlich sei, hatte Luther längst erklärt: jetzt hielt man die umgekehrte Äusserlichkeit für geboten. 
118  Zugleich wurden die üblichen Messgewänder für verwerflich erklärt und Zwilling predigte nun in einem schwarzen Studentenrock. Statt der lateinischen Sprache wurde nur die deutsche in der Liturgie zugelassen. Die täglichen Messgottesdienste hörten jetzt auch in der Wittenberger Pfarrkirche ganz auf, die Kirche blieb an den Wochentagen geschlossen. Auct von "Tragen des Sakraments zu den Kranken" wollte Zwilling nichts mehr wissen: er äusserte, den Pfaffen sei hierbei und bei der letzten Ölung nur an dem Gulden gelegen, den sie dafür bekämen. Ferner erklärte er sich gegen die Feier von Feiertagen ausser den Sonntagen: denn nur diese habe Gott geboten. (n118) (483) 
119         Bereits schien es endlich, als ob das neue religiöse Bewusstsein und Leben, das jetzt auf eine vielen gar bedenkliche Weise sich Bahn gebrochen, sich auch in edeln sittlichen Früchten und strengem sittlichem Ernst bewähren werde. In Artikeln, welche, wie ein Zeitgenosse berichtet, "von einer Gemeine zu Wittenberg dem Rat vorgehalten wurden", wurde neben dem Abtun kirchlicher Missbräuche die Aufhebung der Häuser der Unzucht und der Schenkhäuser, da man ungebührlich Saufen halte, beantragt. 
120  Ja, am 24. Januar kam eine Vereinigung zwischen dem Rat und der Universität zustande, in welcher nicht allein über den Gottesdienst entschieden und die neue Abendmahlsfeier nach Christi Einsetzung gutgeheissen, sondern auch wichtige Anordnung fürs Gemeindeleben in dem angedeuteten Sinne beschlossen wurden. Aus den Messstiftungen und anderen Einkünften der Kirche sollte ein gemeiner Kasten gebildet, aus diesem die Armen zum Behuf ihres Unterhalts, ihrer Arbeit und des Schulbesuchs ihrer Kinder unterstützt, hingegen keine Art von Bettel mehr geduldet werden. 
121  Zugleich aber wurde auch für die Pfarrkirche die wirkliche Beseitigung aller Bilder gefordert. Dies begründete Carlstadt in Predigten und einer weiteren Schrift: er erklärte, sie seien Ölgötzen, welche gegen das Gesetz Gottes stritten, dass man nicht fremde Götter haben dürfe; das Verbot, Bilder zu machen, gehe laut der zehn Gebote dem des Ehebruchs und Diebstahls voran. Jene Bestimmung des gemeinen Kastens wurde ferner dahin ausgedehnt, dass von der Gemeindee und aus den Kirchenstiftungen den bedürftigen Handwerkern unverzinsliche Darlehen gewährt und dass Bürgern, welche bisher anderen fünf oder mehr Prozent für geborgtes Geld bezahlt, die gleiche Summe zu vier Prozent geliehen würde. 
122  Also ein neuer kirchlicher Zankapfel, in der schroffsten Weise von Carlstadt hingeworfen, und die rasche Annahme eines tief greifenden sozialen Prinzips. Wer es übrigens eigentlich war, der diese, ohne Zweifel zumeist von Carlstadt herrührende, sogenannte Wittenberger Kirchenordnung zum Beschluss erhob, wissen wir nicht. Von seiten der Universität war jedenfalls wieder nur ein Ausschuss dabei, während die andern Mitglieder sich fern hielten. Melanchthon bekannte, dass Universität und Rat es anfänglich doch lieber  beim alten Brauch des Gottesdienstes noch belassen hätten, und dass sie nur "weil sich's tief eingriffen, um Verhinderung anderen Unrats willen eine solche Änderung habe machen müssen". (n122
123        Die Anhänger des Alten unter den Wittenberger Gemeinde wichen nciht, auf den Kanzeln wurden fortwährend gegenseitige Ausfälle gemacht. In Betreff der Bilder wollten Eiferer in der Gemeinde nicht warten bis jener Beschluss vom Rate zur Ausführung gebracht wurde, sondern griffen (484) stürmisch selbst zu und rissen die Bilder aus der Pfarrkirche weg. (n123) Der Rat entschuldigte sich dann beim Kurfürsten, hieran keinen Teil zu haben, berichtete, dass ein Teil dieser Frevler entwichen sei, andere aber zur Strafe gezogen seien, beharrte jedoch dabei, dass die Bilder durch die Obrigkeit abgetan werden sollten. 
124  Näheres über die Form jenes Sturmes gegen die Bilder wissen wir nicht. Die kurfürstliche Regierung bezeichnete den Vorgang als "Aufruhr". Carlstadt und Zwilling wurden beschuldigt, hierzu und zu andern Taten immer neu aufzuwiegeln. Melanchthon, der nach dem Wunsch des Kurfürsten sie zur Mässigung ermahnen sollte, erklärte, er könne das Wasser nicht aufhalten; zugleich bemerkte er jedoch: "es wäre vonnöten, dass man zu solchen Sachen, die der Seelen Heil betreffen, ernstlicher täte" (als von seiten des Fürsten geschah). -- 
125  Zu einer festen Ordnung im Gottesdienst waren übrigens auch die Reformierenden selbst nicht gelangt. Es wurde vielmehr geklagt, dass jetzt in Wittenberg und an jenen andern Orten der eine so, der andere so, ohne Ordnung und ohne Messgewand ihn abhalte, zum Ärgernis für die Gemeinden und die Nachbarn. -- Dem Eifer, mit welchem jetzt die Kommunion nach der neuen Weise betrieben wurden, warfen andere evangelisch Gesinnte vor, dass damit bald gleicher Missbrauch werde getrieben wie vorher mit der Menge der Messen. (n125
126           Die Art, wie Carlstadt und Zwilling die Leute ohne weiteresw zum Abendmahl zuliessen und ausdrücklich das Beichten für eine unnötige, ja den Seelen gefährliche Sache erklärten, hatte weiter zur Folge, dass die Beichte überhaupt fast ganz aufhörte. (n126
127         Auch darauf drangen diese Prediger, dass man an die Fastegebote sich nicht mehr kehren dürfe, obgleich auch Freunde der Reform noch meinten, man sollte nicht durch Fleischessen in der Fastenzeit Ärgernis geben, und sich darüber aufhielten, dass eine Menge Bürger und Studenten das echte Christentum jetzt ins Fleischessen, Bilderabreissen u. s. w. setzten.
128           Über Mass und Form, wie nach allen diesen Seiten vorwärts gegangen werden sollte, konnte auch unter entschiedenen Anhängern der evangelischen Lehre gestritten werden. Den Vorwurf, die einzelnen zum eigenmächtigen und gewalttätigen Eingreifen angeregt zu haben, suchte doch auch ein Carlstadt immer wieder von sich abzuwälzen; er wagte dies keineswegs zu rechtfertigen. Neu und eigentümlich aber war seine Begründung des Angriffs auf die Bilder: die äusserlich gesetzliche Anwendung, welche er hier vom alttestamentlichen Gebote machte, während auch er fortwährend lehrte, dass der Christ von allen äussern Dingen frei sein müsse. 
129        Allein bald werden uns nun noch weitere, ebenso charakteristische als bedenkliche Anzeichen der Geistesrichtung der neuen kirchlichen Führer kund. 
          Schon ihre unterschiedslose Einladung an die Massen, jetzt sofort zum (485) neuen Gottesdienst überzutreten, zeigte, wie wenig sie dabei auf Prüfung und Unterweisung der einzelnen Seelen bedacht waren. Zwilling teilte gar Kindern von zehn und elf Jahren das Abendmahl aus. Aber auch Seelsorge überhaupt und die pastorale Treue im kleinen wurde neben jenem scheinbar grossartige Eifern und Wirken gröblich von ihnen vernachlässigt. 
130  Ein Zeitgenosse, der Geistliche Fröschel, der im Jahre 1522 nach Wittenberg kam und dort 1523 im Pfarrdienst und namentlich bei den Spitälern und Gefängnissen angestellt wurde, berichtet, wie er die Zustände gefunden habe: alles Lehren und Trösten der Kranken und Gefangenen sei in der Schwärmerei dahingefallen gewesen; die Verurteilten habe man ohne Trost hinausgeführt und getötet, wir Fleischer die unvernünftigen Tiere schlachten. (n130
131         Zugleich aber schlug Carlstadt, der frühere Scholastiker, jetzt eine mystische Richtung ein, welche die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit und das Verständnis des göttlichen Wortes so auf die unmittelbar erleuchtende Wirkung des Geistes von oben zurückführte, dass sie dieser gegenüber ein gelehrtes Studium und eine wissenschaftliche Bildung überflüssig und eitel, ja verächtlich udn verdammlich fand. 
132  Wir hören von seinem Wirken und Treiben in diesem Sinn erst nach Beginn des Jahres 1522 und hiermit erst nach dem Auftreten viel weitergehenden Zwickauer Schwärmer in Wittenberg, von denen wir sogleich noch mehr zu sagen haben werden. Gemeinschaft mit diesen hat er nicht gemacht, aber ein Einfluss von ihnen her und auch schon eine vorangegangene Bekanntschaft mit einer solchen Geistesrichtung überhaupt haben ihne Zweifel sehr zur Entwicklung derselben auchy bei ihm mitgewirkt. 
133          Carlstadt trug, wie Fröschen berichtet, solche Grundsätze jetzt in seinen Vorlesungen vor; und er betätigte sie namenlich darin praktisch, dass er zu den Bürgern in die Häuser ging und sie fragte, wie sie den oder jenen Spruch der heiligen Schrift verstünden; wenn sie sich verwunderten, dass der gelehrte Herr Doktor so einfältige Leute darnach frage, so erwiderte er ihnen, dass dies Gott eben den Gelehrten verborgen und den Unmündigen geoffenbart habe, und dass ja auch die Apostel Jesu die Schrift viel besser als die jetzigen Doktoren verstanden hätten.
134  Ebenso verfuhr jetzt Zwilling. Und Gleiches lehrte der Rektor der städtischen Knabenschule Mohr in seiner Schule und in Reden, die er vor dem Volk auf dem Kirchhof hielt. Nach jener neuen Kirchenordnung sollten die Eltern mit Geld unterstützt werden, um ihre Kinder zur Schule zu schicken, damit man allezeit gelehrte Leute für die Predigt des Evangeliums und fürs weltliche Regiment habe. Jetzt aber wurde erklärt, dass man keine gelehrte Schulen brauche. Die Leute wurden geradezu aufgefordert, ihre Kinder aus der Schule zu (486) nehmen. 
135  In der Tat gaben auch viele junge Leute das Studium auf, um ein Handwerk zu lernen, und die städtische Schule löste sich auf: ihr Lokal wurde in einem Raum für Brotbänke verwandelt. So wurden jetzt hier die Wissenschaften geschätzt, während Luther von der Wartburg aus in einem Brief an Melanchthon das Verlangen aussprach, selbst noch recht viel von diesem so gelehrten und vielseitig gebildeten Freunde lernen zu können, und sich energisch gegen den grossen Irrtum erklärte, dass die Philosophie und Kenntnis der Natur zur Gottesgelehrsamkeit nichts nütze. (n135
136          Auf dieser Bahn waren die neuen Reformatoren, deren Wasser ein Melanchthon nicht mehr aufhalten konnten, angelangt. 
          Unterdessen hatten sich in Wittenberg auch die vorhin erwähnten Männer eingestellt, welche einen noch viel höhern Geist haben wollten: am 27. Dezember 1521 erschienen bei Melanchthon von Zwickau her der Tuchweber Nikolaus Storch, ein anderer Tuchweber, dessen Namen wir nicht kennen, und Markus Thomä Stübner, der zuvor in Wittenberg studiert hatte und mit Melanchthon befreundet worden war. (n136) Sie gaben vor, durch eine klare unmittelbare Stimme Gottes zum Lehren berufen zu sein, vertrauliche Gespräche mit Gott zu führen, die Zukunft zu schauen, ja neue Propheten und Apostel zu sein. 
137          Schon vorher hatten diese Männer in Zwickau mit andern gleichen Geistes ihr Wesen getrieben. Namentlich der Prediger Thomas Münzer hatte dort diesen Geist angefacht. Er, der dort zuerst gegen die Mönche geeifert und das Volk aufgehetzt, dann aber auch mit seinem der evangelischen Partei zugehörigen Kollegen Egramus sich in ehrgeizigem Streben und persönlichen Hader verfeindet hatte, zog eine Schar schwärmerischer Männer aus dem Volk an sich, mit welcher er erst wahrhaft in Licht und Kraft des heiligen Geistes die Kirche reformieren wollte. 
138  Wahrscheinlich hatten schon vorher ähnliche schwärmerische Elemente aus dem benachbarten hussitischen Böhmen nach Zwickau sich fortgepflanzt und besonder unter den zahlreichen Tuchwebern Eingang gefunden. Münzer verkündete, dass der heilige Geist durch Laien statt durch die Pfaffen reden wolle, und erkannte namentlich jenen Claus Storch für ein hoch erleuchtetes Werkzeug des Geistes an. Zu ihnen gesellte sich Markus Stübner, sein bisheriges Studium verachtend und der neuen göttlichen Erleuchtung sich rühmend. Die Zahl der Anhänger und Gleichstrebenden schwoll an. 
139  Sie sollen aus ihrer Mitte 12 neue Apostel und 72 Jünger Christi bezeichnet haben. Endlich aber gab der Rat der Stadt dem Münzer wegen seiner Umtriebe und seiner Schmäsuch den Abschied und steckte, als die Tuchknappen deshalb einen Aufstand anstifteten, 55 derselben in den Turm. Münzer entwich und versuchte zunächst in Böhmen weiter zu wirken, auch Markus (487) ging zuerst mit ihm dorthin. Viele Zwickauer hielten aber an ihrem Meister Storch fest. 
140  Als Hauptpunkt der Lehre dieser Schwärmer, wie auch Münzers, vernehmen wir jetzt ihre Polemig gegen die Kindertaufe, da in dieser der Geist nicht mitgeteilt werde; (n140) die ersten Anregungen kamen wohl gleichfalls von jenen Böhmen. Als aber der Magistrat und das Pfarramt, dessen erste Stelle seit 1521 Luthers Freund Nikolaus Hausmann bekleidete, sie mit ernstlichem Einschreiten bedrohte, gingen jene drei zusammen nach Wittenberg, um dort nicht bloss Schutz, sondern die rechte Hauptstätte für ihr Wirken zu suchen. 
141            Hier erhoben sie alsbald für Melanchthon ihre Ansprüche, beriefen sich auch sogleich auf Luther, der sie werde anerkennen müssen. Und ihr Auftreten imponierte jenem im ersten Augenblick so, dass er noch am selben Tage, dem 27. Dezember, dem Kurfürsten in grosser Aufregung über sie berichtete: er habe starke Gründe, die nicht zu verachten; die Sache bewege ihn stärker als er's aussprechen könne; man müsse über die Wirkungen des Geistes in ihnen Luther urteilen lassen. 
142          Wegen der göttlichen Gespräche, auf die sie sich beriefen, wurde Melanchthon bald wieder ruhiger: er wollte dieselben zunächst dahingestellt sein lassen. Was ihn am meisten anfocht, waren ihre Einwürfe gegen die Taufe der Kinder, die man auf den Glauben der Paten hin taufe, während einem doch fremder Glaube nichts nützen könne. 
143         Jene liessen indessen von den merkwürdigen Offenbarungen, deren sie gewürdigt seien, immer mehr kund werden. Sie rühmten sich wunderbarer Träume und Gesichte, worin ihnen dieselben zu teil würden. Storch erzählte von einer Erscheinung des Erzengels Gabriel, der zu ihm gesprochen habe: "Du sollst auf meinem Thron sitzen". Nach diesen Offenbarungen sollte in Bälde nicht bloss die Kirche durch einen grösseren als Luther reformiert, sondern auch die ganze weltliche Ordnung umgewandelt, alle Pfaffen erschlagen, endlich alle Gottlosen vertilgt werden; auf das Reich, welches dann anbreche, sollte der Engel Gabriel mit jenen Worten hingedeutet haben. So dachten jene sich das nahe Ende des gegenwärtigen Weltalters, von welchem Luther hoffte, dass Christus selbst dann mit dem Geist seines Mundes seine Sache zum Siege führen werde. 
144          Storch streifte bald ausserhalb Wittenbergs weiter umher und kehrte nur ab und zu dorthin zurück. Stübner blieb daselbst, und zwar beherbergte ihn Melanchthon in seinem eignen Haus als einen alten Bekannten und als einen merkwürdigen, in der heilige Schrift sehr beschlagenen, jedenfalls höcht beachtenswerten Mann. Er wünschte dringend, ihn auch mit Luther zusammenzubringen. Dabei konnte er ihn nicht abhalten, Umtriebe zu machen und Anhänger zu sammeln. Auch ein anderer studierter (488) Theologe, Martin Cellarius (Borrhaus, aus Stuttgart gebürtig), fiel ihm zu und wurde besonders hartnäckig. 
145         Wer vernehmen dann auch von eigentümlichen Theorieen jener Männer über den Berg, wie man zur wahren Einigung mit Gott gelangen und ein rechter Geistesmensch werden müsse. Münzer führte sich noch weiter aus. Man müsse nämlich, nachdem man die groben Sünden abgetan und guten Vorsätzen nachgedacht, durch "Langeweile" und völlige Gelassenheit endlich zur Unbeweglichkeit oder steten Affektlosigkeit gelangen. Das heisst, sie suchten die wahre Heiligkeit, Vergöttlichung und Seligkeit darin, dass der Mensch sich selbs von allem Sinnlichen, Endlichen und Einzelnen in der Aussenwelt und der eignen Seele vollkommen losmache und so ein Ziel erreiche, in welchem wir freilich nichts anderes sehen können als ein dumpfes, starres negatives Verhalten des Geistes, ein Sichversenken in ein abstraktes göttliches Sein, das mit einem inhaltslosen Nichts eins ist. 
146  Von hier aus aber brach dann bei ihnen ein fanatisches Eifern gegen die äusserlichen Ordnungen der Kirche und des Staates als gegen gottwidrige Schranken des Geistes los. Wir erkennen in diesen Anschauungen Wirkungen derselben mittelalterlichen Mystik, die einst durch das Büchlein "die deutsche Theologie" auch Luther so mächtig angeregt hatte (s. oben S. 110f), und die aus ihr hervorgegangene unevangelische Strömung, auf die wir schon oben hingedeutet haben. Es ist bei ihr kein Verständnis mehr für ein wahrhaft sittliches Verhältnis zwischen Gott und Mensch. 
147  An die Stelle der Versöhnung durch Christus ist die selbst erfundene Methode einer Selbstentäusserung getreten. Zugleich muss hier das Wort der geschichtlichen Offenbarung Gottes den phantastischen Gesichten und Stimmen der neuen Propheten die erste Stelle einräumen. Ja unter den Zwickauern wurde bereits noch weiter gelehrt: die heilige Schrift sei zur Lehre der Menschen unkräftig, der Mensch müsse vielmehr alles durch den Geist lernen; denn hätte Gott die Menschen durch Schriften belehrt haben wollen, so hätte er ihnen vom Himmel herab eine Bibel gesandt. (n147
148         Bei den neuen kirchlichen Ordnungen, welche in Wittenberg offentlich eingeführt und noch weiter gefordert wurden, sehen wir, wie schon oben bemerkt diese Propheten nicht direkt midwirken. Aber Carlstadt und Genossen zeigten tatsächlich die bedenklichste Annäherung an ihre Richtung in jener Verachtung der Wissenschaft und jener Verehrung des den Laien verliehenen Geistes, welche sie geflissentlich zur Schau trugen. Es war eine inne Verwandtschaft der Geistesart und Richtung, wenngleich Carlstadt noch weit mehr Mass hielt und namentlich in jene wunderbaren Formen der Geistesoffenbarung sich nicht einliess. Auch jene Ablösung der Seele von allen kreatürlichen Dingen forderte er jetzt. Bald nachher machte er (489) vollends jene Gelassenheit, ja, wie er sagte, "Gelassenheit in Gelassenheit", oder das "Bloss- und Wüstsein aller Kreaturen" und Versinken in Gott, wodurch die Seele Gott in sich aufnehme, zum Inbegriff und Ziel seiner ganzen Heilslehre. 
149         In Wittenberg besass weder Melanchthon noch irgend ein anderer der evangelisch Gesinnten die Kraft und Klarheit des Geistes, um dem Zwiespalt, der wachsenden Gärung, den neu anziehenden Stürmen zu steuern. Amsdorf, der ergebenste Freund des ihm gleichalterigen Luthers, später der strengste Wächter des reinen Glaubens gegen alle Irrlehrer und Schwärmer, hielt es damals fürs beste, die neuen Propheten gar nicht zu sehen, noch zu hören, weil er selbst in der heiligen Schrift noch zu sehr Neuling sei. 
150         Der Kurfürst war durch die ganze Entwicklung der Dinge in sichtliche Not geraten, aus der ihm weder seine christliche Gesinnung, noch seine Bedachtsamkeit und Weisheit helfen konnte. Er hatte die Lehre beschützt, mit deren praktischen Konsequenzen auch ihre gemässigten Vertreter und Luther selbst endlich einen Anfang meinten machen zu müssen. Indem er es ablehnte, als Landesfürst auch nur die dringendsten Reformen selbst einzuleiten oder wenigstens zu genehmigen, war weit mehr, als jene Gemässigten gemeint hatten, geschehen. Un indem er dann doch die alte Messe, betreffs deren auch sein eigner Glaube erschüttert war, nicht durch Zwang wiederherstellen zu dürfen glaubte, sondern nur fort und fort ein Missfallen an den künhen Neuerungen aussprach, schritt die Bewegung ohne Rücksicht auf dieses tatenlose Missfallen vorwärts und entfaltete in ihrem Schoss immer gefährlichere Elemente. 
151  Noch am 17. Februar liess er den Männern der Universität wieder sagen, dass sie mit ihrer Ordnung einer neuen Messe zu viel sich unterstanden hätten. Nie aber erlaubte er sich ein Urteil über die Sache selbst: er wiederholte nur immer, dass man erst auf den Anschluss anderer Universitäten und Teile der Christenheit hätte warten und die brennenden Fragen noch weiter hätte erörtern sollen. Selbst darüber, ob man die Bilder zerstören sollte, wollte er nicht urteilen, sondern noch weiter disputieren lassen. Bei einer Beratung über die nach Wittenberg gekommenen Zwickauer Schwärmer äusserte er: das sei ein grosser Handel, den er als Laie nicht verstehe; ehe er mit Wissen wider Gott handeln möchte, wolle er lieber einen Stab an seine Hand nehmen und arm davongehen. (n151
152         Man kann dieses Verhalten Friedrichs nicht etwa daraus erklären, dass er, abweichend von den die bisherige Christenheit beherrschenden Vorstellungen, dem einzelnen überhaupt freie religiöse Entscheidung belassen zu müssen geglaubt hätte. (n152) Er wies reformatorische Massregeln fürstlicher Gewalt niemals grundsätzlich ab, sondern wollte nur erst noch weiter die (490) Wahrheit ans Licht gebracht sehen und nichts ohne Übereinsstimmung mit dem Reich und der ganzen Christenheit tun. An Reformen des gesammten Kirchentums und Kultus durch Konzil und Reichsgewalt hätte er mit Freuden teilgenommen, wobei wir dahin gestellt lassen können, wie weit er daneben noch abweichenden religiösen Überzeugungen einzelner hätte Raum lassen mögen. 
153           Was ihn in jener bedenklichen Stellung festhielt, war auf der einen Seite das Bewusstsein einer höheren religiösen Wahrheit, die jetzt sich durchkämpfte, auf der andern Seite noch die Unsicherheit, wie weit sie sich bewähre, und vor allem der Gedanke, dass sie Eigentum der "gemeinen Christenheit" und nicht bloss eines "kleines Häufleins" sein müsste, und das Bewusstsein seiner Stellung im heiligen römischen Reich deutscher Nation. 
154           Schon wurde auch beim Reichregiment, das zur Vertretung des abwesenden Kaisers in Nürnberg eingesetzt war, Beschwerden über die kirchlichen Vorgänge in Kursachsen erhoben. Am bittersten klagte über die in Wittenberg zugelassene Frevel der Vetter und Nachbar des Kurfürsten, Herzog Georg. Am 20. Januar 1522 erliess das Reichsregiment eine Mahnung an alle Bischöfe, gegen die Geistlichen, welche in der Messe vom alten Brauch abwichen, gegen die Mönche, welche ihre Klöster verliessen, und gegen die Priester, welche heiraten würden, scharf zu inquirieren und die Strafe an den Schuldigen zu vollstrecken; auch forderte es den Kurfürsten Friedrich auf, über die Neuerungen zu berichten, und sie bei strenger Strafe zu verbieten. 
155  Der Bischof von Meissen zeigte ihm hierauf an, dass er für die bevorstehende Festzeit besondere Prediger ausschicken werde, um den Verirrten die Ordnungen der heiligen Kirche neu zu verkündigen und den Befehl des Reichsregiments bekannt zu machen; desgleichen meldete bald nachher der Bischof von Merseburg, dass er jenem Erlass nachkomme wolle. Sie ersuchten den Kurfürsten für ihre Tätigkeit in seinen Territorien gemäss dem Reichsbefehl um seinen Schutz und seine Hilfe. Auf den 26. März war wieder ein Reichstag ausgeschrieben, der weitere Massregeln in diesen Angelegenheiten beschliessen sollte. (n155
156  Was sollte geschehen, wenn Reichsregiment und Reichstag auf ihren Edikten bestanden, den Kurfürsten zur Unterstützung der Bischöfe bei ihrem Einschreiten aufforderten und im Fall seiner Weigerung diesen die Hilfe der Reichsgewalt zur Verfügung stellten? Das Volk hätte bereits zu einem gewaltsamen Widerstand aufgerufen werden können; aber was war von den Leuten zu erwarten, die jetzt vor allen andern losgebrochen sein würden? Wer wollte da noch den Geist eines Münzer und seiner Genossen bändigen, der nachher mit Blut und Brand so furchtbar sich entlud und der schon damals vom Totschlagen aller Pfaffen und Gottlosen weissagte? (491) 
157        Es war einer der ernstesten Wendepunkte seiner Geschichte, an welchem damals unser Vaterland angelangt war. 
Videre til koestlin4,4.

Noter:

n0.  Vgl zu diesem und den folgende Kapiteln, namentlich Kap. 4: v. Bezold, L.s Wiederkehr von der Wartburg ZKG 20, 186ff. Kawerau, L.s Rüchkehr v. d. Wartburg n. Wittenberg. Halle 1902.

n6:  Kampsch. Erf. 2,118ff. Br 2, 5. 7. 31 (E3 153. 158. 202) WA 15, 54. 63f.

n12:  Spal. Mench. 2,607. Seid. K. u. S. Bl. 1877, 279. Krafft 78. Kawerau Agric. 33. Br. 2, 9. 34. 133. 41 (E3, 163. 205f. 283. 216) Pressel, Jonas 128f. ZKG 5, 3232. Briefw. d. Jonas 1, 83. 2,109. XVII.

n14  Jäger, Carlst. 176ff. Br 2, 37ff. (E3, 210ff); dieser Brief ist in dem zur Rhedigerschen Briefsammlung (Breslau, Stadtbibl.) gehörigen Original datiert: "Stephani protomartyr", was ohne Zweifel bedeuten soll: Steph. protomartyris inventi = 3. Aug., vgl Br 2, 279 (E 4, 201); an Schluss hat das Original ein grosses Stück, das erst bei Kolde Anal. 34f. u. E3, 213f. abgedruckt ist. ZKG 2, 128ff. WA 8,315.

n21  Br 2,45f. 52 (E3, 222ff. 232). WA 8, 317ff (Op. v. a. 4, 344ff) 8,565 (EA 10, 331ff. 440ff.)

n35:  Br 2,40. 48f (E3, 215. 226ff). EA 10, 464.

n47:  WA 8,564ff (Op v. a. 6, 234ff). Br 2, 105f. 6,25ff. 2, 99ff. 109. 288. (E3, 252. 4, 105). Kolde, Aug. cong. 367ff. E3, 250.

n49:  Br 2, 115. 1176. (E3, 256. 258)

n51:  Spal. Menck. 2, 610f; Bericht des beim Konvent anwesenden Güttel v. 10. Jan. in FS 1747, 169ff. Op v. a. 6, 213. CR 1, 456. Kolbe a. a. O. 377ff; ebenso zum folgenden.

n56:  Jäger a. a. O. 202. Br 2, 35f (E3, 207)

n83:  WA 8, 308ff. (Op. v. a. 6,113ff). EA 28, 27ff. Br 2, 95. 106ff. 109 (E3, 247. 252). Zur Öffnung des heil. Grabes vgl, Schade, Satiren u. Pasquille. 2, 506-

n84:  Br 2,94. 6, 607 (E3, 246. 248; verkehrt ist die Konjektur CR 1, 464 Anm.) Über die Antonitter: Op v. a. 6, 450. Vogt, Bugenhagen 84.

n92:  Unruhen in Wittenb. vor L.s Besuch: CR 1, 487f. -- L.s Besuch: Seidem., Leip. Dispu. 100; Zeitung aus Wittenberg in Strobel, Miscell. 5, 119ff. Was Rz 57 von dem nach Wittenberg zurückgekehrten L. berichtet, trug sich nach Strobel 124 bei jenem Besuch zu. Hans v. Planitz (Max Jordan, Aus Berichten eines Leipz. Reichstagsmitglieds 1869, bei Seidem. ZhTh 1874, 562) meldet aus Nürnberg 18. Jan. 1522, dass dem Herzog Georg von Sachsen geschrieben worden sei, "wie Martinus zu Wittenberg mit drei Pferden gewest und Harnisch geführt, die Kappen von sich geworfen, die Platte verwachsen lassen und einen langen Bart gehabt". Gemälde, L. als Junker Georg, in Weimar. -- Falsch ist nach den bisher angeführten Quellen die Zietangabe, wonach L. schon gegen Ende Nov. den Besuch in Wittenb. gemacht haben sollte (so auch Wolters, der Abgott zu Halle. 8) -- Von jenen Wittenberger Unruhen des 3. Dez. konnte L. auch wenn er dort schon am 4. ankam, doch schon unterwegs gerüchtweise vernehmen (gegen Kolde, M. Luth. 2, 566).

n96 : "Vermahung etc". WA 8, 670ff. EA 22,43ff. -- EA 10,69. Ankündigung einer grossen Überschwemmung für 1524: Br 1, 546 (E3, 72); Charitas Pickheimers Denkwürdigkeiten ed. v. Höfler. S. 3. Weiter über die astrologischen Weissagungen jener Zeit: Friederich, Astrologie und Reformation 1864. - Zu L.s Erwartung, dass mit dem Sturz des Papsttums bereits auch das Weltende bevorstehe: EA, 24, 201f.

n112:  Zur Charakteristik Carlstadts ist auch folgendes zu vergleichen, was über sein Gehen nach Rom i. J. 1515 berichtet wird und von Neueren (auch Barge RE 10,74) nicht genügend beachtet worden ist (Seck. 1, 199. Jäger 3f: näheres bei E. Hase, Mitteil. d. Geschichtsforsch. Gesellschaft d. Osterlands 4, 52f. 85f.): Carlstadt stritt mit seinem Hauswirt über eine Schuld von 12 Gulden; er erbat sich dann vom Kurfürsten Erlaubnis zu einer Reise nach Rom, angeblich auf Grund eines vor fünf Jahren getanen Gelübdes, blieb, während er auf vier Monate Urlaub hatte, ein Jahr lang fort, studierte in Rom Jura, was er nicht zu tun versprochen hatte, arbeitete daneben um Geld als Kopist auf der päpstlichen Kanzlei etc. Vgl ferner Spalatin an  Kurf. Friedrich v. 4. Apr. 1517 (Weim. Archiv, Neudecker. Abschr. in Gotha): Klage des Wittenberger Kapitels, dass Carlst. unbefugterweise die zu Orlamünde gehörige Pfarrei Ulstat verliehen habe, und dass er ohne Erlaubnis des Kapitels nach Rom gegangen sei.

n114:  Jener Neujahrstag ist wirklich (geg. Plitt, Einl. i. d. Aug. 1, Anm.) der 1 Jan. CR 1, 512. ZKG 22, 122. 125. -- Der Sebastiansabens CR 1, 539 ist (geg. CR a.a.O. u. Jäger 258) der Vorabend des auf den 20. Jan. fallenden Sebastianstags, also der 19.; dies war 1522 ein Sonntag (vgl. auch Strobel a. a. O. 130: "Sonntag vor Sebastianstag") -- ZKG 5, 330ff: Carlst. verlobte sich am Stephanstag mit der jungen adligen, übrigens armen Anna von Mochau. Briefe v. Jonas 1. u. 8. Jan. in Briefw. d. Jon. 1, 79ff.

n116:  FS 1747, 167ff. Spal Menck. 2,611. Jäger a. a. O. ZKG a. a. O.

n118:  Neben CR u. Strohel: Bk 44. Seid. Erl. 35ff. ZKG 5, 328. 22,125. 122f.

n122:  Strobel 127. Jäger 261ff. Richter, Kirchenordnungen 2, 483. CR 1, 557. -- Zur Wittenb. Gemeindeordnung nach den Beschlüssen v. 24. Jan. 1522 vgl. StKr 1897, 820f. Schon am 30. Nov. 1521 schreibt Ulscenius an Capito: "´videas fiscum, consilio D. Martini per magistratum erectum, opibus in dies augeri, de quibus pauperes iuvari solent. Nam quae olim pro aris, vigiliis instituendis profuderant, hodie illi immittunt". Mel. paed. 120. Danach setzte Carlst. in seiner Kastenordnung nur fort, was L. angeregt und begonnen. -- Christ. Beyer sagt (25. Jan.) CR 1 541: "Die Bilder wollen sie auch in der Pfarrei nicht leiden, -- ich disputiert allein von neun"; hiermit will er wohl sagen, es sei unter den neun Mitgliedern der Konferenz der einzige gewesen, der über diese Sache erst noch disputiert habe (danach ist CR 1, 541 Anm. u9nd auch Jäger 262f zu berichtigen).

n123:  CR 1, 553. 557. Br 2, 119. Seck. 1, 218

n125:  WW 15, 2386.

n126:  Vgl hierfür und zum folgenden: Fröschel in der Zuschrift f. Traktats vom Priestertum 1565 (FS 1731).

n130:  Seid. a. a. O. Fröschel a. a. O.

n135:  Fröschel a. a. O. Br 2, 93 (E 3, 245). Über den Schulmeister Georg Mohr s. auch den Brief des Ulscenius vom 30. Nov. 1521, der ihn "electus a concione concionatur" nennt: Mel. paed. 120; ferner Clemen, Beitr. z. Ref.-Gesch. 2, 25ff. Ere war 17. März 1517 in Wittenb. Bacc. und am 24. Jan. 1521 Mag. geworden, vgl Bacc. u Mag. 1, 20. 2,18.

n135:  Vgl aus Enoch Widmanns Chronik de Stadt Hof den auf Storch und Genossen bezüglichen Abschnitt ZKG 15, 119ff. Man darf nicht, wie manche getan haben, einen Markus Thomä und einen Stübner unterscheiden und unter jenen den zweiten Tuchmachen verstehen, der zu Melanchthon gekommen sei. Nach Mel. (CR 1, 533. 538) und Camerarius (vita Mel.) ist M. Thomä derjenige, der in Wittenb. studiert hatte, mit Mel. von daher befreundet war und von ihm ihn sein Haus aufgenommen wurde; vgl auch Seidem., Thom. Münzer 16 Anm. 3; 121 Beil. 12; er heisst Alb. 73 (26 Mai 1518): Marcue Thomas Elsterbergensis Numburg, dioc. (von Elsterberg bei Zwickau). Den Namen Stübner nennen Mel. und Camer. dort nicht, wohl aber heisst anderswo ebenderjenige, welcher vorher in Wittenberg studiert hatte und jetzt von Mel. beherberg wurde, Markus Stübner (Widmanns Chronik ZKG 16, 190); vgl Marx Stobener: Seid. Mïunzer 154. Offenbar sind beide identisch. Von jenem ungenannten Handwerksgenossen des Storch hören wir nachher nichts mehr. Freilich macht schon Spal. Ann. 52 den Fehler, dass er den "Thomas Marx" einen Tuchknappen nennt; einben Stübner neben Thomas aber kennt auch er nicht.

n140:  CR 1, 536. Nach Br 2,201f (E3, 377ff) war auch dies Münzers Lehre; denn mit "dogma Thomae" ist dort nicht (Erbkam RE 10,104) Marx Thomä gemeint, sondern Thomas Münzer; vgl Br 2, 245 (E4,2)

n147:  ZKG 5, 330. C 2, 21f. TR 3,34f. (in C steht fälschlich Marcus Storch für M. Thomä., während in TR. Markus N.) C 2, 32f. TR 3, 387f. -- CR 1, 537.

n151:  Spal. Nachl. 1, 30

n152:  Kolde, Friedr. d. W. 29

n155:  CR 1, 537. 560. 590ff. Seck. 1, 219. Förstem. N. Urkundendb. 83.