Julius Köstlin: Luther, sein Leben und seine Schriften
Drittes Buch:
Das reformatorische Werk und der fortschreitende Kampf, vom Ablassstreit 1511 bis zum Wormser Reichstag 1521.
Eberfeld 1883

Kap. 15:

Brief an den Papst und "Von der Freiheit eines Christenmenschen.


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Inhalt: Eindruck der Bulle auf Luther 382 #2 -- Begütigung durch Miltitz 383 #6 -- Brief Luthers an Leo X. 384 #9 -- "Von der Freiheit eines Christenmenschen" 387 #25 -- Der Christ frei nach dem inneren, geistlichen Menschen 388 #30 -- Der Christ gebunden nach dem äusserlichen Wesen 391 #46 -- Würdigung der drei grossen Reformationsschriften 395 #66.
 
1 Fünfzehntes Kapitel.
Brief an den Papst und "Von der Freiheit eines Christenmenschen". 
          Erst wenige Tage vor dem 11. Oktober kam die Bulle Luthern selbst vor Augen; er berichtet am genannten Tage dem Spalatin, dass sie in Wittenberg endlich angelangt sei und die Universität im Begriff stehe, sich über sie beim Kurfürsten zu äussern. 
       Luther sprach sich fortwährend mit grosser innere Ruhe ihr gegenüber aus: was jetzt weiter kommen werde, wisse er nicht; er stelle es dem anheim, der im Himmel throne und der diesen ganzen Handel, seinen Verlauf und sein Ziel, von Ewigkeit her zuvor versehen habe. 
3          Freunde verfielen auf den Rat, er möge den Kurfürsten bitten, ein kaiserliches Edikt zu seinen Gunsten auszuwirken, welches verbiete, einen, der nicht durch die heilige Schrift widerlegt sei, zu verdammen: ein merk- (383) würdiger Beweis der kühnen Hoffnungen, mit welchen man dem Kaiserlichen Jüngling Karl V. entgegen kam, -- ein seltsamer Gedanke freilich für uns, die wir den ihm von Anfang an eignen Standpunkt und Charakter kennen. Auch Luther rief wohl aus: "ach, dass Karl ein Mann wäre und für Christus gegen jene Satane stritte". Schon aber hörte er, dass man von demselben nach Berichten des Erasmus aus den Niederlanden nichts zu hoffen habe, und er bemerkte hierzu: "das ist auch kein Wunder, denn verlasset euch nicht auf Fürsten, sie sind Menschen, die können ja nicht helfen" (Psalm 146,3). 
4         Für seinen Kurfürsten, meint er, sei es das beste, von der Bulle keine Notiz zu nehmen, wie diese ja auch anderwärts und sogar in Leipzig verachtet werde. 
5         Seinerseits wollte er gegen sie so auftreten, dass er den Namen des Papstes noch aus dem Spiele lasse und sie wie ein gefälschtes Machwerk behandle, obgleich er sie für ein echtes Werk Roms halte. (n383
6         Unter allen den Kirchenmännern und Politikern aber, die mit der lutherischen Streitsache zu thun hatten, hielt wenigstens der eine Miltitz eine friedliche Beilegung auch jetzt noch für möglich: der eigne Vorteil und Ruhm, den er erstrebte, hing daran. Dem Eck, dessen Erfolg in Rom ihm die eignen Pläne zunichte machte, grollte er und hatte sichtlich eine Freude daran, wenn dieser mit seiner Bulle eine üble Aufnahme in Deutschland fand. Er hielt so viel auf seine eigne diplomatische Kunst und so wenig auf die Entscheidenheit und Festigheit des Papstes, dass er trotz Ecks und der Bulle jene Pläne fortführte. 
7         Luther hatte sein Versprechen, an den Papst zu schreiben, noch nicht erfüllt, als die Bulle veröffentlicht wurde, und wollte jetzt davon abstehen. Miltitz hielt ihn dennoch dabei fest. Er lud ihn zu einer neuen Zusammenkunft nach Lichtenberg ein. Der Kurfürst wollte, dass Luther Folge leiste. Am 11. Oktober erschienen von der einen Seite Miltitz, von der andern Luther und Melanchthon im dortigen Antonianerkloster. Jenes Versprechen wurde jetzt dahin modifiziert, dass Luther einen Brief an den Papst in lateinischer und deutscher Sprache öffentlich herausgeben solle und damit eine kleine Schrift verbinden, in welcher er seine Geschichte erzähle und zeige, dass er die Person Leos nie angegriffen habe, die ganze Verantwortung aber für den bösen Handel auf Eck wälze. 
8 Miltitz machte ihm dafür grosse Hoffnungen: ohne Zweifel stellte er ihm die Sache in der Weise dar, dass Leo am Inhalt der lutherischen Ketzereien nicht soviel liege, um ihretwegen den Streit aufs äusserste zu treiben, dass er vielmehr durch andere und besonders durch Eck persönlich gegen Luther aufgerizt und zum Erlass der Bulle vermocht worden sei. Eben von diesem Standpunkt aus entschloss sich denn auch Luther zu schreiben. Seine Schrift sollte schon binnen zwölf (384) Tagen ausgehen. Sie sollte aber auf den 6. September zurückdatiert werden: denn sie sei ja, wie Miltitz betonte, das Ergebnis jener früheren Verabredung und es dürfe nicht scheinen, als ob erst Eck mit seiner Bulle dazu gedrungen hätte. Der Sinn des Datums war wirklich klar genug, so dass von einer Fälschung dabei nicht geredet werden kann. 
9        So entstand Luthers neuer Brief an Leo X., welchem er ein Büchlein über die christliche Freiheit beigab. (n384
10        In seinem ersten Brief an den Papst vom Jahre 1518 hatte er vor diesem sich niedergeworfen und bereit erklärt, die Stimme des aus ihm redende Christus zu vernehmen. Im zweiten Briefe vom Jahre 1519 war er, während er den Widerruf fest verweigerte, doch noch mit den demütigsten Ausdrücken eines Untergebenen vor ihm erschienen. Jetzt spricht er wie ein ernster selbständiger Christ zu einem einfachen Mitchristen und Mitmenschen. Er hatte schon nach jener vorangegangenen Verabredung geäussert, dass er einen "Privatbrief" an Leo zu richten versprochen habe. In der Zuschrift des Briefes (eine Unterschrift fehlt) nennt er sich einfach "Martin Luther", nicht, wie in den früheren Briefen und auch in Schreiben an Freunde, "Augustiner": die Verpflichtungen eines Mönchs dem Papst gegenüber sollten für sein Schreiben nicht in Betracht kommen. 
11c       Er stellt eben dies als Ursache seines Schreibens voran, dass man ihn beschuldige, auch die Person Leos nicht verschont zu haben: diejenigen, welche ihn mit der Majestät des päpstlichen Namens zu bedrohen sich bemühen, habe er "gar fast zu verachten sich vorgenommen"; zu jenem Vorwurf aber dürfe er nicht schweigen. Er erklärt, so weit ihm bewusst sei, von Leos Person immer nur das "Ehrlichste und Beste" gesagt zu haben; er bekennt: das Leben Leos habe in aller Welt, einen viel zu guten Ruf, als dass man es antasten dürfte, und überdies sei er selbst des Balkens im eignen Auge sich zu wohl bewusst und möchte nich der erste sein, der den Stein auf die Ehebrecherin werfe (Joh 8,7). 
12 In der That finden wir nie, dass Luther dem persönlichen Leben Leos Übles nachgesagt, oder auch nur auf die bösen Gerüchte gehört hätte, an denen es doch in dieser Hinsicht nicht fehlte. So bittet er denn: "Du wollest, heiliger Vater, Dir diese meine Entschuldigung gefallen lassen und mich gewiss für den halten, der wider Deine Person nie nichts Böses habe vorgenommen und der also gesinnet sei, dass er Dir wünsche und gönne das Allerbeste, der auch keinen Handel noch Gezänk mit jemand haben wolle um jemands bösen Lebens willen, sondern allein um der Wahrheit göttlichen Wortes willen; in allen Dingen will ich jedermann gerne weichen, das Wort Gottes will ich und kann ich nicht verleugnen."
13       Im Streit gegen die unchristlichen Lehren giebt er zu, auf seine Widersacher bisseg gewesen zu sein, will es aber nicht bereuen, hat sich viel- (385) mehr vorgenommen, "in solcher Emsigkeit und Schärfe zu bleiben", wofür er auch das scharfe Exempel Christi habe. Und über seine Angriffe auf die päpstliche Kurie sagt er gar: "Das ist wahr, ich habe frisch angetaste den römischen Stuhl, den man nennet römischen Hof, von welchem auch weder Du selbst, noch jemand auf Erden anders bekennen kann, denn dass er sei ärger und schändlicher, denn je kein Sodom, Gomorra oder Babylonien gewesen ist; und so viel ich merk, so ist seiner Bosheit hinfort weder zu raten noch zu helfen, es ist alles überaus verzweifelt und grundlos da worden; darum hat mich's verdrossen, dass man unter Deinem Namen und der römischen Kirche Schein das arme Volk in aller Welt betrog und beschädigte;
14 dawider hab ich mich gelegt und will mich auch noch legen, so lang in mir mein christlicher Geist lebet, -- nicht dass ich verhoffte etwas auszurichten in dem allergreulichsten römischen Sodom, -- sondern dass ich mich als einen schuldigen Diener erkenne aller Christenmenschen, daher mir gebühret, ihnen zu raten und zu warnen; -- denn das ist Dir selbst ja nicht verborgen, wie nun viel Jahre lang aus Rom in alle Welt nichts anderes denn Verderben des Leibes, der Seelen, der Güter und die allerschädlichsten Exempel aller bösen Stücke geschwemmt und eingerissen haben, welches als öffentlich am Tag jedermann bewusst ist, dadurch die römische Kirch, die vor Zeiten die allerheiligste war, nun worden ist eine Mordgrube über alle Mordgruben, ein Bubenhaus über alle Bubenhäuser". 
15       Und nun will er auch mit Bezug hierauf von Leo das günstigste denken, will ihm das beste wünschen und raten. 
16        "Indessen", sagt er, "sitzest Du, heiliger Vater Leo, wie ein Schaf unter den Wölfen und gleichwie Daniel unter den Leuen; -- was kannst Du Einiger wider so viel wilde Ungeheuer? und ob Dir schon drei oder vier gelehrte, fromme Kardinäle zufielen, -- Ihr müsstet eher durch Gift umkommen, ehe ihr vornehmet der Sache zu helfen; es ist aus mit dem römischen Stuhl, Gottes Zorn hat in überfallen ohne Aufhören; -- die Krankheit spottet der Arznei, Pferde und Wagen geben nichts auf den Fuhrmann. Das ist die Ursach, warum es mir allzeit ist leid gewesen, dass Du ein Papst worden bist zu dieser Zeit, der Du wohl würdig wärest, zu besseren Zeiten Papst zu sein. --
17  O wollte Gott, dass Du, entledigt von der Ehre (wie sie es nennen, Deine allerschädlichsten Feinde), etwa von einer Pfründe oder Deinem väterlichen Erbe Dich erhalten möchtest! Denne, sag mir, wozu bist Du doch nutz in dem Papsttum, denn dass es, je ärger es ist, je mehr Deiner Gewalt und Titel missbraucht, die Leute zu beschädigen an Gut und Seele. -- O Du allerunseligste Leo, der Du sitzest in dem allergefährlichsten Stuhl! Wahrlich, ich sag Dir die Wahrheit, denn ich gönn Dir Gutes". (krfrih#23) (386) 
18        In den Brief und nicht, wie er anfänglich wollte, in das damit verbundene Büchlein hat Luther auch dasjenige aufgenommen, was er über den bisherigen Verlauf seines Handels und über Eck sagen wollte. Er fährt fort: er würde auch gegen jenen römischen Hof nicht rumoert haben, sondern hätte ihn fortstinken lassen, weil ja doch die Mühe an ihm verloren sei, und hätte sich ins stille ruhige Studium der heiligen Schrift begeben, um hiermit seinen Landsleuten förderlich zu werden, wenn nicht der böse Geist mit unsinnigen Ehrgeiz den Eck erweckt hätte, dass dieser ein ihm von ungefähr entfallenes Wörtlein über das Papsttum aufgreife und ihn damit in eine Disputation hineinreisse. (krfrih#34
19 Dadurch sei dann ein nicht kleiner Teil des römischen unchristlichen Wesens an den Tag gekommen. Jener sei des Papstes wahrer Feind; an seinem Exempel möge man lernen, dass kein schädlichere Feind sei, denn ein Schmeichler. (krfrih#37) -- Von da aus geht Luther auf das Begehren über, welches Miltitz und der Augustinerkonven an ihn gestellt haben und welchem er willig mit seinem gegenwärtigen Brief an den Papst nachkomme. Jene, sagt er, "vermeinten, es sei die Sache noch nicht im Abgrund verloren, wo der heilige Vater Leo wollte nach seiner angeborenen, hochberümhten Gütigkeit die Hand daran legen". (krfrih#42) Und er erklärt seinerseits: 
20 c        "Also bitte ich, zu Deinen Füssen liegend, Du wollest, so es möglich ist, Deine Hände dran legen, den Schmeichlern, die des Friedens Feinde sind und doch Friede vorgeben, einen Zaum einlegen. Dass ich aber sollte widerrufen meine Lehre, da wird nichts draus; -- dazu kann ich nicht leiden Regel oder Mass, die Schrift auszulegen, dieweil das Wort Gottes, das alle Freiheit lehret, nicht soll gefangen sein. Wo mir diese zwei Stücke bleiben, soll mir sonst nichts aufgelegt werden, das ich nicht mit allem Willen thun und leiden will. Ich bin dem Hader feind, will niemand reizen, will aber auch ungereizt sein. Es mag je Deine Heiligkeit mit kurzen Worten alle diese Haderei zu ihr nehmen und austilgen und daneben Schweigen und Frieden gebieten, welches ich allezeit zu hören ganz begierig bin gewesen". (krfrih#44ff
21         Sofort aber wird seine Bitte wieder zur Mahnung: 
       "Darum, mein heiliger Vater, wollest je nicht hören Deine süssen Ohrensinger, die da sagen, Du seiest nicht ein lauterer Menschen, sondern gemischt mit Gott, der alle Dinge zu gebieten und zu fordern habe. Es wird nicht so geschehen,Du wirst's auch nicht ausführen. Du bist ein Knecht aller Knechte Gottes und einem fährlicheren, elenderen Stand, denn kein Mensch auf Erden. (krfrih#47) -- Siehe, wie ungleich sind Christus und seine Statthalter; -- ich fürchte fürwahr, sie seien allzuwahrhaftig seine Statthalter: denn ein Statthalter ist im Abwesen seines Herrn ein Statthalter; wenn denn ein Papst im Abwesen Christi, der nicht in seinem Herzen wohnt, (387) regieret, ist derselbe nicht allzu wahrhaftig Christi Statthalter? was mag denn aber ein solcher Papst sein, denn ein Endchrist und Abgott? -- (krfrih#50f)
22 Ich bin vielleicht unverschämt, dass ich eine solche grosse Höhe zu lehren werde angesehen, von welcher doch jedermann soll gelehret werden, und wie etliche Deiner giftigen Schmeichler Dich aufwerfen, dass alle Könige und Richterthrone von Dir Urteil empfahen. (krfrih#52) Aber ich thue es aus lauter treulicher Sorge und Pflicht, die jedermann billig zwingt, für unsere Nächsten uns zu bekümmern, und lässt uns nicht achthaben auf Würde oder Unwürde, so gar fleissig sie wahrnimmt des Nächsten Gefahr. (krfrih#53
23 Dieweil ich denn weiss, wie Deine Heiligkeit schwebet zu Rom, das ist auf dem höchsten Meer, welches mit unzähligen Fährlichkeiten auf alle Orten wütet, so habe ich's nicht für ungeschickt angesehen, dass ich Deiner Majestät so lange vergesse, bis ich brüderlicher Liebe Pflicht ausrichte. Ich mag nicht schmeicheln in solcher ernster, fährliche Sache; so mich etliche nicht wollen verstehen, wie ich darin Drin Freund und mehr denn Dein Unterthan sei, so wird er sich wohl finden, der er versteht." (krfrih#54
24         Schliesslich reicht er dem Papst sein Büchlein dar zu einem guten Wunsch und Anfang des Friedens und der Hoffnung, und um ihm zu zeigenm, mit welcherlei Arbeiten er gern umginge und wohl auch fruchtbarlich umgehen könnte, wenn's ihm die unchristlichen Schmeichler des Papstes zuliessen. "Es ist," sagt er, "ein klein Büchle, so das Papier wird angesehen, aber doch die ganze Summa eines christlichen Lebens darin begriffen, so der Sinn verstanden wird; ich bin arm, habe nicht anderes, damit ich meinen Dienst erzeige; so bedarfst Du auch nicht mehr, denn mit geistlichen Gütern gebessert zu werden." (krfrih#55f
25         Luther schrieb das Büchlein, um es dem Papst zu dedizieren, lateinisch und deutsch, die deutsche Ausgabe, welche zuerst fertig wurde, erschien unter dem Titel: "Von der Freiheit eines Christenmensches", mit einer Zuschrift an den evangelisch gesinnten Stadtvogt Mühlpfort in Zwikau. (n387
26        Was Luther in diesem Büchlein oder Traktat ausführen wollte, ist mit jenen Worten seines Briefes bezeichnet: es ist nichts geringeres als in aller Kürze "die ganze Summe eines christlichen Lebens". Alles aber führt er zurück auf den Glauben und leitet es ab aus ihn. Mit diesen hebt er an (in seiner lateinischen Schrift): eine leichte Sache dünke wohl vielen der christlichen Glaube und es könne doch keiner richtig davon schreiben und verstehen, der nicht des Glaubens Geist unter Drangsalen innerlich erfahren habe; wer ihn aber einmal verschmeckt, der könne nie genug davon schreiben, reden, denken oder hören. 
27 cEben in diesem Glauben findet Luther die wahre Freiheit eines Christenmenschen. Davon will er hier reden als einer, der zwar seiner Dürftigkeit sich bewusst sei, der aber doch einen Tropfen des Glaubens unter grossen und mannigfachen Stürmen der An- (388) fechtung erlangt zu haben hoffe. Und zwar will er mit seinem Büchlein "allein den Einfältigen" dienen. 
28        Damit man gründlich möge erkennen, was ein Christenmensch sei und was es sei um die Freiheit, der ihm Christus erworben und davon St. Paulus so viel schreibe, stellt er voran de zwei Sätze: 
     "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand unterthan;
      Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann unterthan". (krfrih#63)
29        Die beiden Sätze stehen klärlich 1 Kor. 9,19: "Ich bin frei in allen Dingen und habe mich jedermans Knecht gemacht". Beides scheine stracks wider einander zu sein. Man müsse aber interscheiden zweierlei Natur in Christenmenschen, nämlich den neu innerlichen, geistlichen Menschen und der alten und äusserlichen leiblichen Menschen. Um dieses Unterschiedes willen gelte für ihn, was gesagt sei von der Freiheit und von der Dienstbarkeit. (krfrih#64f
30       Luther nimmt im ersten Hauptstück den inwendigen geistlichen Menschen vor, um zu sehen, was dazu gehöre, dass er ein fromm, frei Christenmensch sei und heisse. 
31        Es ist, sagt er, offenbar, das ihn dazu keinerlei äusserlich Ding machen kann, wie immer es genannt werden mag. Des Leibes Freiheit oder Gefangenschaft, Gesundheit oder Krankheit, Essen, Trinken und alles Leben reicht nicht an die Seele. (krfrih#67f) Es hilft ihr auch nichts, ob der Leib heilige Kleider anlege, wie die Priester, oder in der Kirche sei, oder leiblich bete, faste, wallfahre und alle gute Werke thue. Weiter nützt der Seele auch nicht ihr eigen Sinnen, Meditieren und Dichten. (krfrih#69) Nur ein Ding hat sie im Himmel und auf Erden, darin sie lebe, fromm, frei und Schrit sei. Das ist das heilige Wort Gottes, nämlich das Evangelium von Christus, der da spricht: "Ich bin die Auferstehung und das Leben", von ihm, der für uns Fleisch geworden und gestorben und auferstanden ist. (krfrih#71
32 Wo die Seele dieses Wort hat, bedarf sie keines andern Dinges mehr, sondern hat in dem Wort Genüge, Speise, Freude, Friede, Licht, Kunst, Gerechtigkeit, Wahrheit, Weisheit, Freiheit und alles Gute überschwenglich. (krfrih#72) Und dieses Wortes rechten Brauch ist der Glaube. In dir ist nichts denn dein Verderben, wie der Prophet spricht zu Israel (Hos. 13,9). Dass du aber aus dir und von dir, das ist aus deinem Verderben kommen mögest, setzt Gott dir vor seinen lieben Sohn und lässt dir durch sein Wort sagen, du sollst in denselben mit festem Glauben dich ergeben und frisch in ihn vertrauen, so sollen dir um desselben Glaubens willen alle Sünder vergeben werden, alle dein Verderben überwunden sein, und du gerecht, wahrhafgit, befriedet, fromm, und alle Gebote erfüllet, und du von allen Dingen frei sein, wie St. Paulus sagt: ein rechtferriger Christ lebt nur von seinem Glauben  (krfrih#75) (389) (Röm 1,17). -- 
33 Wohl ist die heilige Schrift geteilt in zweierlei Worte, in Verheissungen oder Zusagen und in Gebote oder Gesetze Gottes. Diese aber lehren wohl, was man thun soll, allein sie geben keine Stärke, sondern zeigen dem Menschen sein Unvermögen und lehren an ihm selbst verzweifeln. (krfrih#78) So kommt dann das andere Wort und spricht: willst du alle Gebote erfüllen und deiner bösen Begierden und Sünden los werden, wie die Gebote fordern, -- siehe da, glaub an Christus, in welchem ich dir zusag alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit; glaubst du, so hast du; denn ich hab kürzlich in den Glauben gestellt alle Ding, dass wer ihn hat, soll alle Ding haben und selig sein, wer ihn nicht hat, soll nichts haben. (krfrih#81
34        Warum aber vermag der Glaube so viel, und dass keine guten Werke ihm gleich sein können?
          Alle die Gottesworte sind heilig, wahrhaftig, gerecht, aller Güte voll. Darum wer ihnen mit einem rechten Glauben anhängt, des Seele wird mit ihnen vereinigt so ganz und gar, dass alle Tugenden des Wortes auch eigen werden der Seele. Kein gutes Werk hängt an dem göttlichen Wort, wie der Glaube, kann auch nicht in der Seele sein; sondern allein das Wort und der Glaube regieren in der Seele. Wie das Wort wird, so wird auch die Seele von ihm, gleich als das Eisen glutrot wird wie das Feuer aus der Vereinigung mit ihm. (krfrih#83f)
35         Weiter ist's mit dem Glauben also gethan, dass, wer einem andern glaubt, der glaubt ihm darum, dass er ihn für einem frommen, wahrhaftigen Mann achtet, welches die grösste Ehre ist, die ein Mensch einem andern thun kann. Also auch wenn die Seele Gottes Wort festiglich glaubt, so hält sie ihn für wahrhaftig, fromm und gerecht; sie giebt ihm recht, ehrt seinen Namen, lässt mit sich handeln, wie er will. So ehret Gott sie wiederum und hält sie auch für fromm und wahrhaftig, und sie ist es auch; denn dass man Gott die Wahrheit und Frömmigkeit gebe, das ist Recht und Wahrheit und macht recht und wahrhaftig. (krfrih#86f
36         Der Glaube macht endlich nicht bloss, dass die Seele dem göttlichen Wort gleich werde, sondern er vereinigt sie mit Christus selbst gleichwie eine Braut mit ihrem Bräutigam. Da werden, wie St. Paulus (Eph. 5,30) sagt, Christus und die Seele Ein Leib. So werden auch beider Güter, Fall, Unfall und alle Dinge gemein, dass, was Christus hat, der gläubigen Seele eigen wird, und was die Seele hat, Christi eigen. Er hat alle Güter und Seligkeit: die sind der Seele eigen. Sie hat alle Untugend und Sünde auf ihr: die werden Christi eigen. (krfrih#90
37 Hier hebet sich an der fröhliche Wechsel und Streit: so denn Christus, der Gott und Mensch, welcher ohne Sunde, und dessen Frömmigkeit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, der gläubigen Seelen Sünden durch ihren Brautring, d. i. den Glauben, sich selbst zu eigen macht und thut als hätte er sie gethan, (390) so müssen die Sünden in ihm verschlungen und ersäuft werden; denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark. (krfrih#91
38 Also wird die Seele von ihren Sünden lauterlich durch ihren Mahlschatz, das ist des Glaubens halber, ledig und frei und begabt mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christi. Ist nun das nicht eine fröhliche Wirtschaft, da der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie entledigt von allem Übel, zieret mit allen Gütern! (krfrih#92
39        So wird der innere Mensch gerecht, fromm, frei und selig durch den Glauben. 
      Und des weiteren noch will Luther zeigen, was wir so in Christo haben und welch grosses Gut demnach ein rechter Glaube sei: zu einem geistlichen Königtum und Priestertum wird die mit Christus verbundene Seele erhoben. 
40        Denn Christus, der Sohn Gottes, ist König und Priester. Sein Reich ist nicht irdisch, sondern stehet in geistlichen Gütern; seinem geistlichen, unsichtbaren Regiment sind aber auch alle Dinge im Himmel und auf Erden unterworfen. Also auch sein Priestertum stehet unsichtbar im Geiste, darin, dass er vor Gottes Augen ohne Unterlass die Seinen vertritt, für uns bittet und uns inwendig im Herzen lehret. Und diese seine Ehre und Würde teilt er nun mit allen Christen, wie St. Petrus (1. Petr. 2,9) sagt: ihr seid ein priesterlich Königreich und ein königlich Priestertum. (krfrih#100
41         Durch den Glauben nämlich wird ein Christenmensch so hoch erhoben über alle Dinge, dass er ein Herr aller wird geistlich: nicht dass er leiblich ihrer mächtig sei, sie zu besitzen wie die Menschen auf Erden, aber sie müssen ihm alle unterthan sein und helfen zu seinem Besten und zu seiner Seligkeit, es sei Leben oder Tod, Gutes oder Böses, Gegenwärtiges oder Zukünftiges, wie St. Paulus sagt (Röm. 8,28. 35ff.; 1 Kor. 3,22). Das ist eine rechte allmächtige Herrschaft, die da regiert auch in leiblicher Unterdrückung. (krfrih#101f
42        Und noch mehr als König sein, ist dass wir Priester sind, dieweil das Priestertum uns würdig macht, vor Gott zu treten und für andere zu bitten, wie solches Christus uns erworben hat. (krfrih#103) Dem Wörtlein Priester ist Unrecht geschehen, wenn man es, statt auf die Christenheit insgemein, allein auf den kleinen Haufen zieht, welchen man geistlichen Stand nennt; (krfrih#105) die heilige Schrift giebt keinen andern Unterschied als den von Dienern oder Schaffnern (Haushaltern 1 Kor. 4,1), welche den andern Christen den Glauben und die christliche Freiheit predigen sollen, dieweil wir zwar alle Priester sind, aber doch nicht alle schaffen und predigen können. (krfrih#106)
43          Wer mag nun ausdenken die Ehre und Höhe eines Christenmenschen? durch sein Königreich ist er aller Dinge mächtig, durch sein Priestertum ist er Gottes mächtig, denn Gott thut (Psalm 145,10) den Willen derer, (391) die ihn fürchten, und erhöret ihr Gebet: zu welchen Ehren der Christ nur allein durch den Glauben und durch kein Werk kommt. 
44        So muss man Christum predigen: nicht bloss sein Leben und Werk obenhin als eine Historie, sondern warum er kommen sei, wie man sein geniessen soll, was er mir gebracht und gegeben hat. Da wird das Herz fröhlich und lernt mit dem Apostel dem Tod und der Sünde Trotz bieten und sagen: Wo ist nun, Tod, dein Sieg? wi ist nun, Tod, dein Spiess? dein Spiess ist die Sünde; aber Gott sei Lob und Dank, der uns gegeben hat dn Sieg durch Jesum Christum (1 Kor. 15,56f). (krfrih#110
45         So viel will Luther gesagt haben vom innerlichen Menschen, von seiner Freiheit und Hauptgerechtigkeit, welche keines Gesetzes, noch guter Werke bedürfen. Er wendet sich im zweiten Haupstück zum andern Teil dem äusserlichen Menschen und will hier denen antworten, welche sich an seinen vorigen Reden ärgern und sprechen: "warum sind dann die guten Werken geboten? so wollen wir guter Dinge sein und nichts thun." Nein, antwortet er, nicht also! es wäre wohl also, wenn du allein ein innerlicher Mensch wirst und schon ganz geistlich geworden, welches nicht geschieht bis an den jüngsten Tag. Es ist und bleibt auf Erden nur ein Annehmen und Zunehmen, was in jener Welt vollbracht wird. (krfrih#112f
46        Er redet zuerst davon, dass der Mensch im eignen Leibe bleibe und diesen regieren müsse, ihn mit Zucht treibend und übend, dass derselbe dem innern Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere,noch widerstrebe. Und zwar meint er damit nicht bloss den materiellen Leib, sondern das Fleisch mit seinen Lüsten, -- den widerspenstigen Willen, den der innerliche, mit Gott eins gewordene Mensch noch in seinem Fleisch vorfinde und welcher der Welt dienen wolle und suche was ihn gelüste (nach Röm. 7,23) (krfrih#115
47         Das, sagt Luther, möge der Glaube nicht leiden und lege sich mit Lust dem Willen des Fleisches an seinen Hals, ihn zu dämpfen; alle, die Christo angehören, kreuzigen ihr Fleisch, mit seinen bösen Lüsten (Gal. 5,24). Hiernach könne auch jeder selbst das Mass nehmen für die Kasteiung des Leibes; jeder möge nämlich fasten, wachen und arbeiten, so viel als er sehe, dass dem Leib not sei, seinen Mutwillen zu dämpfen; nicht dass man auf diese Werke selbst sehen und meinen dürfte, wohlgethan zu haben, wenn man nur ihrer recht viele und grosse gethan habe. Noch dürfe man meinen, durch sie vor Gott fromm zu werden. Nicht in dieser Meinung thue die gläubige Seele die Werke; sondern weil die Seele durch den Glauben rein sei und Gott liebe, wolle sie gerne, dass auch alle Dinge und vor allem ihr eigner Leib rein wäre, und suche durch solche Werke nicht die Gerechtigkeit vor Gott, sondern thue sie aus freier Liebe, weil es Gott also gefalle, des Willen sie gern aufs allerbeste thäte. (krfrih#116f) (392) 
48        Luther knüpft hieran weitere Erklärungen über die Werke überhaupt und ihr Verhältnis zu des Christen Gerechtigkeit und Frömmigkeit. Adam, sagt er, war ins Paradies gesetzt, dass er daselbst arbeite; nun war er von Gott fromm geschaffen, und sollte es nicht erst werden durch sein Arbeiten; doch dass er nicht müssig gehe, gab ihm Gott zu schaffen, und das sollten eitel freie Werke sein, um keines Ginds willen gethan, denn allein Gott zu Gefallen. (krfrih#120) Ein Bischof, der seines Amtes Werke übt, wird dadurch nicht Bischof; vielmehr wenn er nicht zuvor zum Bischof geweiht wäre, würden diese seine WErke nichts taugen. Desgleichen jeder Handwerker wird nicht dadurch Meister, dass er die Werke thut, sondern wie der Meister ist, darnach sind die Werke. Also machen gute fromme Werke nimmermehr einen guten frommen Mann, sondern ein guter frommer Mann macht gute fromme Werke. (krfrih#122f
49 Nicht die Früchte tragen den Baum, sondern der Baum trägt die Früchte: ein böser Baum keine guten, ein guter Baum keine bösen Früchte, wie Christus spricht Matth. 7,18. (krfrih#124) Fromm aber macht der Glaube, und so macht er dann auch die guten Werke. Er allein macht die Person fromm und gut, welche die Werke thun soll, und die Werke zeigen dann nur äusserlich an, wer fromm oder böse sei. (krfrih#127) Darnach ist leicht zu verstehen, wie gute Werke zu verwerfen und nicht zu verwerfen seien. Verwerflich nämlich werden sie durch die darin sich hängende verkehrte Meinung, dass wir durch sie fromm und selig werden wollen; sie vermögen das nicht und nehem sich's doch vor und greifen damit der Gnade in ihr Werk und Ehre. (krfrih#134
50         Nachdem Luther dies über die Werke insgemein erklärt hat, lässt er auf die Werke, die ein Christenmensch gegen den eignen Leib und die Lüste des Fleisches üben solle, die Werke folgen, die derselbe gegen andere Menschen zu thun habe: 
51         Der Mensch lebet, wie in seinem Leib, so auch unter andern Menschen auf ERden; er kann nicht ohne Werke gegen dieselben sein, muss je mit ihnen zu reden und zu schaffen haben. Nun ist ihm auch dieser Werke keines zur Frömmigkeit und Seligkeit not. Aber eben darum, weil er für sich selbst an seinem Glauben genug hat und durch den Glauben aller Güter Gottes in Christo geniesst und für sich nur Mehrung solchen Glaubens bedarf, hat er nun die Werke, ja sein ganzes Leben in der Welt für seinen Nächsten übrig und soll seine Meinung in allen seinen Werken nur frei dahin richten, dass er den andern damit diene und nütze sei. (krfrih#138
52 Also stellet Paulus Phil. 2,1ff. ein christliches Leben hin und führet Christum zum Exempel ein, welcher, da er voll göttlicher Gestalt war und für sich selbst genug hatte und seines Lebens, Wirkens und Leidens nicht zum Frommwerden oder Seligwerden für sich bedürfte, sich des alles entäussert hat und geberdet wie ein Knecht allein zu unserem Besten. (krfrih#139f
53 Dazu ist uns (393) unwürdigen, verdammten Menschen der volle Reichtum aller Frömmigkeit und Seligkeit von Gott lauterlich umsonst und aus eitel Barmherzigkeit durch und in Christo geschenkt. So sollen wir solchen Vater, der mit seinen überschwenglichen Gütern uns überschüttet hat, wiederum frei, fröhlich und umsonst thun, was ihm wohlgefällt, und gegen unsern Nächsten werden wie Christus für uns geworden ist. Siehe, also fleusst aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein rein, willig, fröhlich Leben, dem Nächsten zu dienen umsonst. (krfrih#141ff
54        Hierzu gehört nach Luther namentlich die herablassende, dienende Rücksicht auf die im Glauben noch schachen Brüder: so habe Christus (Apostl Gesch. 16,3) den Timotheus beschnitten, um den schwachgläubigen Juden nicht Anlass zu bösen Gedanken zu geben, habe aber des Titus Beschneidung verweigert, weil man daraus einen Zwang und etwas zur Seligkeit Nötiges habe machen wollen (Gal 2,3). (krfrih#144
55 Dahin will er ferner die Werke der Priester und Klöster gerichtet haben, -- nicht dass man durch sie fromm und selig werden wolle, sondern dass jeder den andern willfahre, seinen eignen Leib regiere und den andern Exempel gebe, auch also zu thun. (krfrih#146) In dieser Gesinnung, sagt er, könne jeder auch leicht in die unzähligen Gesetze des Papstes und der Kirche sich richten, indem er sie den Brüdern und Vorgesetzten zulieb thue und leide, obschon die Tyrannen sie mit Unrecht fordern. (krfrih#148
56 Er hat dann an den Schluss der lateinischen Ausgabe seines Traktats noch eine besondere Anweisung über das Verhalten zu solchen Satzungen und Ceremonieen angehängt, hat darin gewarnt vor fleischlichem Missbrauch der Christenfreiheit, hat weiter ermahnt zu jener Rücksicht auf die Schwachen und insonderheit auf die heissblütige, rohe Jugend, die der Zucht durch äussere Gesetze und Übungen noch bedürfe, will hingegen den Ceremonieenmenschen und Feinden der Freiheit getrotzt und stracks das Entgegengesetzte von ihren Forderungen gethan haben, sieht in den Ceremonieen immer eine Gefahr, vor der die Glaubensgerechtigkeit sich hüten müsse, und vergleicht sie endlich mit Zurüstungen zu einem Bau, die man weglege, wenn der Bau fertig sei. 
57         Nichts für sich selbst also soll der Christ in seinen guten Werken suchen; er soll vielmehr das Seinige frei dahingeben, dass die anderen Leute desselben geniessen mögen. Das bezieht dann Luther auf alles Wirken christlicher Nächstenliebe, auf äusseres Wohlthun, wie aufs Dienen mit geistigen Mitteln und Gaben. Dahin zieht er endlich auch die geistlichen Güter des Glaubens und der Gerechtigkeit selber, die wir von Christus empfangen; auch mit ihnen soll der Christ dienen, sich mitteilen, für andere eintreten. (krfrih#151
58 Eben dies ist das höchste und letzte, wozu Luthers Darstellung der dienende Liebe freier Christenmenschen uns führt, -- entsprechend jener höchsten Idee christlicher Gemeinschaft, die wir namentlich (394) schon in seinem Sermon vom Sakramente des heiligen Leichnams Christi (S. 303) vernommen haben. Mit diesen Sätzen nämlich führt er sein zweites Hauptstück und weiter sein ganzes Büchlein zum Schlusse: 
59        Siehe, also müssen Gottes Güter fliessen aus dem einen in den andern und gemein werden, dass ein jeglicher sich seines Nächsten also annehme, als wäre er es selber. Aus Christus fliessen sie in uns, der sich unser hat angenommen in seinem Leben, als wäre er das gewesen, was wir sind. Aus uns sollen sie fliessen in die, so ihrer bedürfen, also gar dass ich muss auch meinen Glauben und Gerechtigkeit für meinen Nächsten setzen vor Gott, seine Sünden zu decken und abzubitten, muss sie auf mich nehmen und an ihnen arbeiten und dienen nichts anders denn als wären sie mein eignen, eben wie Christus uns allen gethan hat. Siehe, das ist die Natur der Liebe, wo sie wahrhaftig ist; da ist sie aber wahrhaftig, wo der Glaube wahrhaftig ist. (krfrih#151
60        Aus dem allem folget der Beschluss, dass ein Christenmensch lebet nicht ihm selber, sondern in Christo und seinem Nächsten: in Christo durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fähret er über sich in Gott, aus Gott fähret er wieder unter sich durch die Liebe, und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe. 
61      Siehe, das ist die rechte geistliche, christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten: welche alle andere Freiheit übertrifft, wie der Himmel die Erde; welche Gott uns gebe recht zu verstehen und zu behalten. Amen -- (krfrih#152
62         Das ist die Gabe, welche Luther dem Papst überreichen und mit welcher er zugleich den "Einfältigen" dienen wollte. So hat er hier dargelegt, was ihm Kern seiner ganzen Lehre und der ganzen göttlichen Heilswahrheit war. Keine seiner bisherigen Schriften hat denselben zu einer so gereiften und köstlichen Darstellung gebracht wie dieser kurze, rasch entworfene Traktat mit den reichen, allumfassenden und zugleich so einfach gegliederten, praktisch religiösen Grundideen, mit der hoch sich emporschwingenden und wiederum so schlicht und anmutig fliessenden Sprache, mit dem kühnen, christlich stolzen und zugleich so demütigen, kindlich frommen und seligen Geiste. -- 
63  Dabei tönen hier, wo Luther von den Tiefen des Lebens in Gott zu handeln hat, wieder ganz die Weisen jener deutschen Mystik wieder, die für seine eigne Entwicklung so wichtig geworden ist. Sein Schriftchen reiht sich den edelsten Blüten derselben an. Aber wie sieht der unergründliche Gott, in welchen jene Mystik die Seelen sich versenken lehrte, bei ihm jetzt so licht da als derGott, der in seinem Worte sich offenbart, als der Gott der Liebe, der den ganzen Reichtum seiner Güter den gläubigen Seelen erschliesst. -- 
64 Man hatte ihm vorgeworfen, dass er mit seiner Lehre vom Glauben den guten Werken und der Sittlichkeit Eintrag thue. Er (395) hat darauf jetzt kürzer und zugleich doch noch vollständiger und klarer als in seinem früheren Sermon von guten Werken geantwortet. Wir sehen ihn auf den Grundsatz zurückgehen, welcher für die ganze sittliche Betrachtung als erster feststehen muss und in der kirchlichen Werkheiligkeit doch so grob verleugnet wurde: dass am innern Menschen, an der Gesinnung alles gelegen. Ihm nun ist die Grundgesinnung wesentlich Glauben, d. h. hingebendes Aufnehmen jener barmherzigen, göttlichen Liebe; es scheint ihm im Glauben alle innere Sittlichkeit aufzugehen. 
65 Aber wie voll und mächtig tritt bei jenem innern Menschen mit dem Glauben und mit dem, was der Glaube aufnimmt, eben auch schon die ganze gottergebene und gottgemässe Gesinnung, der freie, freudige, kämpfende und wirkende Gottesliebe ins Leben. In dem einen grossen Worte, dass der Glaube fromm mache, hat er mit der Vergebung der Schuld vor Gott, der Gerechtannahme durch Gott und der Seligkeit in Gott auch schon diese ganze Durchdringung der Gesinnung durch Gott zusammengeschaut und zusammengefasst. Und das Wirken im äussern Leben und im Dienste des Nächsten, welches hieraus fliesst, ist dann ebenso freie, wie uneigennützige von aller Selbstsucht gereinigte Sittlichkeit. 
66 c       Die Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen ist ein tiefreligiöser Traktat, mit welcher Luther ebenso wie mit seinen anderen Traktaten und Sermonen den christlichen Lesern insgemein dienen wollte. Sie ist nicht etwa durch die Bannbulle oder die Absicht desjenigen Schreibens, dem Luther sie nun beigab, hervorgerufen, sondern für diesen Zweck eben nur von ihm benützt worden. 
67 Aber wie sie unmittelbar auf die grossen Streitschriften an den christlichen Adel und über die Babylonische Gefangenschaft folgte, so dürfen wir nun diese drei als die reformatorischen Hauptschriften Luthers zusammenstellen.
68 In der ersten derselben hat Luther die Christenheit insgemein zum Kampfe gerufen gegen jene schmählichen äusseren Missbräuche und Anmassungen des Papstes und der Standes, der allein des geistlichen und priesterlichen Charakters sich rühmte.
69 In der zweiten enthüllt und zerstört er die geistlichen Bande, womit jene in ihren Gnadenmitteln die Seelen knechteten. 
70 In der dritten endlich ist er auf die tiefsten letzten Fragen über das Verhältnis der christlichen Seele zu ihrem Gott und Erlöser und über den Weg und das Wesen ihres Heiles zurückgegangen. Hiermit erst hat er klar und eingehend das feste Fundament dargelegt, dessen der Christenmensch gewiss ist, das keine geistliche Tyrannei ihm rauben darf und von welchem aus jener Kampf geführt werden soll. 
71 Diese dritte Schrift aber tritt nicht mehr als stürmische, zürnende Streitschrift auf. Sie ist ein ruhiges, positives Zeugnis der Wahrheit, vor welcher die Waffen und Bande der Finsternis von selbst zu nichte werden müssen. Sie zeigt uns den tiefsten Grund des christlichen Bewusstseins (396) und Lebens in einer edlen, seligen Ruhe und Sicherheit, welche die über ihm hingehenden Wogen und Stürme des Kampfes nicht zu erschüttern vermögen. 
72 Sie zeigt zugleich, wie fest Luther selbst auf diesem Grunde stand, indem er eben im Höhepunkt des Kampfgedränges sie zu verfassen fähig war. Gegenüber den Anklagen aber, welche soeben die Bulle auf Luther gehäuft hatte, schloss sie nur stillschweigend die eine Frage in sich, ob denn die von ihr vorgetragene Summe der Heilswahrheit wirklich eine Ausgeburt der Hölle sei, und die Aufforderung, erst von diesem Mittelpunkt aus jene einzelnen verdammten Sätze zu prüfen. 
73       Vom Papste war freilich eine Würdigung der Schrift und eine solche Prüfung keineswegs zu erwarten. Bedeutsam klingt auch in Luthers Widmung der Schrift der Beisatz: sie enthalte die Summe christlichen Lebens -- "so der Sinn verstanden werde". (krfrih#56) Beim Papst war kein Verständnis dafür zu hoffen. -- 
74 Der beigegebene Brief an den Papst war ohnedies nichts weniger als in demjenigen Sinne demütig, in welchem Miltitz es gewünscht hatte, obgleich auch ein Melanchthon denselben "ziemlich bescheiden" nannte. (n396). 
75 Er konnte einen Erfolg bei Leo nur haben, wenn dieser, von allen seinen Voraussetzungen päpstlicher Autorität und allen römischen Traditionen sich losreissend, dem Wort und Bussruf des deutschen Mönchs als eines aufrichtigen Mitchristen standhalten konnte und wollte. 
76 Ob Luther dies für möglich hielt? Er mag es nicht für unmöglich gehalten haben so, wie bei Gott kein Ding unmöglich sei. Sein Glaube ging auch in solchen Beziehungen weit, -- viel weiter jedenfalls als seine Welt- und Menschenkenntnis. Seinerseits aber wollte er genug gethan haben, indem er den Verdacht persönlicher Beleidigung Leos abwies, sein letztes offenes Wort zum Papste sprach und dann beim Austritt aus der römischen Kirche die ihn von sich stiess, den Staub von seinen Füssen schütteln konnte. 
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Noter:

n383:  Op. 4. 305. B 1, 489ff. 494f.
n384:  Br 1,491. 495ff. Tzl. 1, 444. 450f. I. G. Droysen: Zeitschr. d. Vereins für Thüring. Geschichte B. 1 S. 170ff. C. R. 1, 286 vom 4. Nov.: Luther hat vor wenigen Tagen an den Papst geschrieben: Seid., Miltitz 31f: Miltitz schickt ein Exemplar der (deutschen) "Freiheit eines Christenmenschen" 16. Nov. an Pirkheimer.
n387:  Op. 4, 219sqq. EA 27,173ff. Niemeyer Neudrucke etc. N. 18. Autograph in Pest: Doleschall, Luthers Testament 1881. S. 2,28. Niederer 1,170. -- In der obigen Übersicht über den Inhalt der Schrift habe ich den Worten der deutschen Ausgabe einzelnes, war nur die lateinische enthält, eingefügt.
n396:  C. R. 1, 268.