W. Köhler



Luther und die Kirchengeschichte
nach seinen Schriften, zunächst bis 1521
von Lic. Dr. W. Köhler
Erlangen 1900

Indhold: Kapitel 1: Die Instructio summaria und die sogenannte Anweisung Tetzels. (7-25) Kapitel 2: Die Ablassbulle Leos X. (26-32) Kapitel 3. Die Bannbulle. (32-59). Kapitel 4: Die Bulle In Coena Domini. (59-76) Kapitel 5: Die sogenannte apostolische Glaubensbekenntnis (76-97). Kapitel 6. Das sogenannte athanasianische Symbol (98-100). Kapitel 7: Das fünfte Laterankonzil (100-115) Kapitel 8: Das Baseler Konzil. (115-122). Kapitel 9: Das Concilium Nicaenum (122-162) Kapitel 10: Das Constanzer Koncil und Johann Huss. (167-236). Kapitel 11. Tauler (236-289). Kapitel 12: Dionysius Areopagita (289-299). Kapitel 13. Hugo von St. Victor (299-301. Kapitel 14. Bernhard von Clairvaux (301-333). Kapitel 15. Bonaventura (333-341). Kapitel 16: Gerson. (342-363). Kapitel 17: Zusammenfassung: Luthers geschichtligne Auffassung der Mystik.
 

Fra side 162, kapitel 10: Das Constanzer Koncil und Johann Huss.

In der Erscheinung des Hussitismus hatte das römische Reich deutscher Nation zum ersten Male die Schrecknisse einer das ganze Volk von den höchsten bis zu den niedersten Ständen erregenden religiösen-politischen Bewegung kennen gelerht. Gewiss hatte es vor Huss freigeisterische Regungen gegeben, sie haben nie gefehlt seit Konstituirung der ecclesia catholica, aber teils hatte die Elastizität der Curie dieselben, teils mit teils ohne Zugeständnisse, wieder unter sich gezwungen, teils führten sie ein Dasein, welches auf grösseren Einfluss auf die Nation nicht zu rechnen hatte. Anders stand es mit der von Huss ausgegangenen Bewegung. Von kleinen, mehr persönlichen Anfängen ausgehend war sie bald Nationalsache der Böhmen geworden, und die politische Verbindung Böhmens mit dem Kern des deutschen Reiches hatte (163) zur Folge, dass sie dorthin übersprang. Indem sie auf dem Costnitzer Konzil zur Verhandlung kam, gewann sie das Interesse der gesamten dort vertretenen Welt. Mit der feierlichen Verdammung Hussens durch das Konzil hatte man offiziell der Bewegung den Stempel der Ketzerei aufgedrückt, und erselbe war haften geblieben an ihr bis in die Zeit Luthers hinein, wie mannigfach und wechselvoll auch die Ereignisse sich in ihrem weiteren Verlauf gestaltet haben mochten. Die Curie hat niemals die Iglauer Kompaktakte, welche den Friedensschluss zwischen Utraquisten, König und Kirche einleiten sollten, rechtlich anerkannt und bestätigt, der "Böhme" blieb für den Curialisten Ketzer, und auch der schliesslich bis zur unbegrenzten Dauer verläugerte Landfrieden von Kuttenberg war nur eine um der unerträglichen Verhältnissen willen notwendig gewordene facon de vivre gewesen (Dungersheim (reprobatio orationis excusatoriae Bl Ajj) bemerkt von den Böhmen treffend: ficte subiecti sunt, non veraciter), ohne den prinzipiellen Standpunkt der Curie anzutasten. Zudem hatte sich ja alsbald nach jenem Friedensschlusse die Brüderunität als Separation abgezweigt, eine Reaktion gegen die beginnende Verweltlichung der utraquistischen Staatskirche. Im Volke vollends verband sich vielfach mig dem Bilde von Huss das der hussitischen Kriege; man wusste vielleicht wenig von dem Ketzer und den Gründen seiner Verdammuing, in den Augen der Menge genügte die noch lebendige Erinnerung an die Schrecknisse, die im Gefolge der hussitischen Bewegung aufgetreten waren, den, den man für den Urheber derselben hielt, zum Ketzer zu machen. Und dass das berühmte Constanzer Konzil ihn verurteilt hatte, liess vollends nicht daran zweifeln. Die Sonderbewegungen innerhalb des Hussitismus wusste man im Volke kaum, Böhme war Böhme d. h. Ketzer, einerlei ob Utraquist oder Mitglied der Unität. "Wir brauchen heute den Namen "böhmische Ketzer", wenn wir (164) jemand verabscheuen als vom Teufel besessen", sagt Luther einmal in einer Predigt (WA 4,614). Es hat auch an litterarischen Schmähschriften gegen die Böhmen nicht gefehlt, Hieronymus Dungersheim schrieb ein kurzes Büchlein und ein umfangsreiches Buch gegen sie, Jacob Ziegler 1512 seine libri quique adversus Waldenses [d. h. die Böhmen], ein Buch "so gross wie des Tacitus Geschichtswerk" -- um nur diese zu nennen.

Diesen Stand der Dinge muss man sich gegenwärtig halten, um die Bemühungen der Gegner, Luther auf hussitischen Boden hinüberzutreiben, die Entrüstung, welche seine böhmischen Neigungen hervorriefen, und auf der anderen Seite die Grösse des Lutherschen Standpunktes auch dem Vorwurfe der Ketzerei gegenüber zu verstehen.

Andererseits war doch immerhin ein äusserer Friedenszustand zwischen Rom und den Böhmen vorhanden. Und wenn auch rechtlich verdammt, hatte der Hussitismus auch auf deutschen Boden seine geheimen Anhänger, hussitische Propaganda war, namentlich am Mittelrhein und in Franken thätig gewesen. (165) War der Hussitismus vor allem Laienbewegung, das erste eruptive Geltendmachen der Laienkultur, die ihrerseits klerikale Reservate beanspruchte und so letztlich zu einer Revolution auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete führte, so begreift sich gerade aus diesem Charakter der Bewegung, dass sie ihre Spuren auf deutschem Boden zurückliess. Sie wurde, und nicht in allzu bescheidenstem Masse, Moment der wirtschaftlichen Unwälzung, die sich dort vorbereitete, und der Gedanken über Ideale einer Güterverteilung, die in den Köpfen zu spuken begannen, und hat den Hass gegen den Klerus schüren helfen. Und wo man sich durch hussitische Reminiscenzen nicht in oppositionelle Bahmen treiben liess, da wusste man wenigstens darum, und wo man weiss, pflegt man sich Gedanken zu machen. Luther redet von dem "mummeln von Johan Husz an vielen ortten deutsches landts (WA 6,591 = eckbull#65). Namentlich an den Pflegestätten der Bildung werden politische Ereignisse nicht vergessen, und "Erfordia Praga", immerhin durch den Namen an den Herd der böhmischen Häresie erinnernd, war wohl nicht die einzige Universität, an welcher man von Huss sprach, und das Erfurter Kloster wohl nicht das einzige, welches Bücher von Huss in seiner Bibliothen bewahrte. -- Das muss man sich vergegenwärtigen, um ganz zu verstehen, wie Luther jenes Nebeneinander von Rom und Böhmen beurteilt, und wie seine Sympathie mit den Böhmen entstehen und sich zur Eins-Erklärung mit ihnen steigern kann. Das Milieu ist hier Luther entgegengekommen, er sagt selbst einmal: "es ist imer die rede bey ehrlichen leuten blieben, da Hus sey gewalt und unrecht geschehen" (Vorrede zu den "4 christlichen Briefen so Joh. Huss zu Costenz an die Behmen geschrieben" (1536 og 37)) und nennt die Fama, dass man Huss durch falsche Richter verdammt habe, (166) robustissima, sodass sie kein Papst und keine hohe Schule aus dem Wege schaffen könne (WA 6,185). Freilich, der leitende und treibende Führer in der ganzen Entwicklung seines Verhältnisses zu Huss ist er selbst gewesen. Mochten die Verhältnisse ihm entgegenkommen, und mochten die Gegner es sein, die der anderen Strömung über Huss folgend den böhmischen Ketzer an ihn heranrückten, ohne persönliche Geistesthat, persönliche Stellungnahme zu dem an ihn Herangebrachten wäre kein Urteil Luthers über die Böhmen entstanden. -- Die ersten Nachrichten über Eindrücke, welche Luther von der böhmischen Häresie empfing, führen in seine Studienzeit zu Erfurt. Wie sich in dem oben erwähnten Namen der Universität aussprach, war ein Bewusstsein von geschichtlichen Beziehungen derselben zu der hussitischen Bewegung -- deutsche Lehrer und Studenten waren zu Beginn derselben dorthin übergesiedelt -- haften geblieben. Man erfährt auch von einem Dr. Pfennig, welcher böhmisch gesinnt gewesen sein soll. Endlich hat, wie Luther in der Schrift "von den neuen Eckischen Bullen und Lügen" erzählt, sein "institutor Johann Greffenstein, gelehreten und frumen man" in seinen Vorlesungen den Studenten gegenüber die Aeusserung gethan, Huss sei "on unterricht, ohn beweyszung on ubirwindung" hingerichtet worden (WA 6,591 =eckbull#63). Es war eine freie akademische Aeusserung, die aber im Volke und bei den Studenten auf Beifall rechnen konnte, und es wäre falsch, daraus Hussitismus des Grefenstein oder gar der Universität schliessen zu wollen. Auch in dem Lutherschen Freundeskreis waren böhmische Neigungen nicht vertreten. Der junge Student wird kaum weiter über jene Aeusserung und das, was man sonst in Erfurt von Huss sprach, nachgedacht haben, erst die spätere Zeit, da er intensivstes Interesse an Huss hatte, liess sie in seinem Bewusstsein lebendig werden. Was ihn ins Kloster hineintrieb, (167) hatte mit Zweifel an de Universalität seiner Kirche nichts zu thun, und auch im Kloster war es der Gedanke an sein Heil, der ihn quälte. Und da er einst "auff der Librarey inn ein buch fiel, da Johannis Huss Sermones auffgezeichnet und drinne geschrieben stunden", (Nachwort zu den 4 christlichen Briefen) lockte ihn die Neugier "in des Ertzketzers Schriften" hineinzuschauen; er will darin so viel gefunden haben, dass er sich entsetzte, warum doch solcher Mann verbrannt wäre, der so christlich und gewaltig die Schrift habe führen können. -- Man wird billig fragen dürfen, ob hier nicht die Erfahrung späterer Jahre mitspricht (Luther sagt selbst: "denn ich des Costenzers Conzilii geschicht noch nicht wusste" ebda.); jedenfalls wird das richtig sein, dass er in Respekt vor dem kirchlichem Verdammungsurteil das Buch zuschlug und den Ketzer vergass; ob er es blutenden Herzens that, sich tröstend mit dem Gedanken, dass Huss vielleicht solches, ehe er Ketzer geworden sei, geschrieben habe, wäre wiederum zu fragen. Viel besser scheint Luthers damaliges Urteil über Huss eingeschlossen zu sein in seiner Erzählung, da er noch wäre zu Erfurt im Kloster gewesen, hätte er einmal zu D. Staupitz gesprochen: "Ei, lieber Herr Doktor, unser Herr Gott gehet ja so gräulich mit den Leuten um, wer kann ihm dienen, wenn er also um sich schläget? Wie wir das noch an unseren Widersachern sehen, deren er gar viel erschrecklich gestraft und weggeräumt hat, die sich zu unser Zeit wider die Lehre des Evangelii aufgelehnet haben". (cf Förstemann-Bindseil I 169) -- Da Luther in der genannten Schrift sie kurz vorher erwähnt, wird auch die Erzählung von den beiden Vikaren Proles und Zacharias "die ich von Dr. Staupitz selbs gehöret habe", in die Klosterzeit zu Erfurt fallen. Köstlin macht darauf aufmerksam, dass des Zachariä Grabmal im Kloster die Veranlassung gegeben haben könnte. Proles habe im Gothaer Kloster ein Gemälde seines Vorgängers gesehen, "der (168) hat gemalet an seinen paret eine Rose"; da habe er ausgerufen: "behutte mich gott, dass ich diese rose nicht trage". Denn ungerechter Weise habe Zachariä den Huss überwunden durch Fälschung einer Bibelstelle, die man in Huss eigene Bibel habe schreiben und durch welche man ihn dann habe überführen lassen; dafür habe er die päpstliche Rose bekommen (WA 6,590 =eckbull#59ff). -- Auch hieran hat Luther erst später sich erinnert, als durch Eck das Constanzer Konzil in seinen Gesichtskreix gerückt war, und erst später ist ihm Dr. Zacharias Typus der Fälscherei geworden (n168). Wohl lediglich referierend, ohne für Huss Sympathien erwecken zu wollen, hat Staupitz Luther die Erzählung mitgeteilt, gerade so wir Proles trotz jener Aeusserung über Huss keine hussitische Neigungen hatte. Jedenfalls ist Luther dadurch nicht von seinem streng kirchlichen Standpunkt abgebracht worden.

Seine frühesten Aesserungen spiegeln in dieser Sache den getreuen Sohn der römischen Kirche. In seinen Vorlesungen über den Psalmen 1513-1516 hat er wiederholt Veranlassung genommen, von den Böhmen zu sprechen, er rangiert sie in die gleiche Reihe mit den Ketzern, nur dass es ihn besonders bitter berührt, dass die böhmischen Ketzer der Deutschen Nachbarn sind. Er bespricht z. B. das Psalmwort: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und meint, es sei bedeutungsvoll, dass um Besserung des Herzens gebeten werde, weil dort der Sitz der superbia sei; man könne wohl leicht äusserlich sündlos sein, aber die Herzensbefleckung verunreinige dann um so mehr. "So waren ohne Zweifel gewisse (169) Häretiker, die sehr keusch lebten. Und heute sind die Böhmen, unsere Nachbarn, die in allen Dingen der Reinheit fast uns übertreffen, mit Ausnahme des Herzens, welches Hochmut befleckt, und das ist des Teufels Lieblingsspeise. (WA 3,292) Gewiss ist beachtenswert, dass Luther die böhmische Sittenstrende lobt, aber die äussere Tugendhaftigkeit wird auch an den übrigen Ketzern gelobt. Der Vorwurf der superbia ist das Entscheidende, und der trifft auch die Böhmen. "Während die Stolzen in ihrem Hochmut (superbia) uns Schwache verspotten, verspotten sie in Wahrheit sich selbst (sofern sie nämlich vom Teufel irre geleitet sind)." "O dass dich die Ketzer das bedächten, unsere Pigharden, unsere Nachbarn!" so sagt er bei Auslegung von Psalm 59 (WA 3,334). Zu Psalm 119 bemerk er: "So giebt es auch jetzt stolze (superbi) und allzu heilige Ketzer, die allzu viel auf ihre Verdienste hoffen, mehr als auf Gottes Wort. Christus wollte nicht nur unter die Uebelthäter gerechnet werden, sonder auch sterben und gekreuzigt werden, und nun will ein Pigharde allein unter die Gerechten gerechnet und für heilig gehalten werden! er will also mehr sein als Christus!" (WA 4,361) -- Hier erfährt man den speziellen Lehrpunkt, gegen welchen der Vorwurf der superbia sich richtet, gegen die Forderung der sittlichen Gutbeschaffenheit der Priester, wie sie die Böhmen erhoben, und nun weiss man, dass die "Ketzer" mit welchen Luther jene in gleiche (170) Linie setzt, die Donatisten vor allem sind, deren Charakteristikum für Luther das Postulat der sittlichen Heiligkeit der Gläubigen ist und ass sein historisches Urteil über die "Reinheit" der Böhmen von jenem Lehrpunkt aus gefasst ist. Von seinem Sündenbewusstsein aus -- vergl. die mystisch gefärbte Herabziehung Christi unter die Sünder -- hat Luther den Hussitismus verworfen, es ist interessant zu beobachten, dass an jenem Punkte die überlieferte Beurteilung der Böhmen für ihn aktuell wird: denn mit genialer Intuition hat er den dogmengeschichtlichen Kernpunkt der böhmischen Bewegung damit getroffen. Aus dem Widerspruch der Thatsachen mit den Idealen, die der Klerus aufstellte, sind die mittelalterlichen Reformbewegungen entstanden, darum greifen sie nahezu alle zu der Forderung des vollkommenen Lebens.

Gewiss hat Luther damals noch weitere Differenzpunkte gekannt, er weiss, dass man über die Sakramente und den Primat der römischen Kirche streitet, aber darüber referiert er nur nebenbei, ein Beweis, dass sein religiöses Interesse -- denn dieses haftete damals allein an der Sünden- bez. Gnadenlehre -- der Massstab seiner geschichtlichen Beurteilung ist. Daher stehen auch selbst jene referierenden Bemerkungen in einem Zusammenhang, der (171) letzlicht wiederum auf den Vorwurf der superbia hinausläuft. In einer Predigt auf Petri Kettenfeier 1516 sagt er: mag man sich noch so sehr grosser Erleuchtungen und wunderbarer Werke rühmen, wie unsere Piccarden und ander Schismatiker, das gilt nichts dem gegenüber, dass man sich von der Einheit und Ordnung der Kirche trennt. (WA 1,69)

Man sieht, die Ketzerei der Böhmen steht Luther fest. "Die Böhmen haben die ganze römische Kirche verdammt und halten Alles, was man an Gehorsam ihr thut, für Sünde" sagt er einmal. (WA 4,77) Ein klares Bewusstsein der böhmischen Parteiunterschiede hat Luther noch nicht besessen, die Böhmen waren ihm allesamt qua solche Ketzer. Es lässt sich nicht absehen, dass er unter den Piccarden speziell die Brüderunität verstand, wie es in Böhmen Sitte war, ihm wechseln die Begriffe Bohemi und Picardi ohne Unterschied ab. --

Und doch hat Luther einmal, auch in der Psalmenvorlesung, einem Ausspruch gethan, der ahnen lässt, dass eine neue Beurteilung der Böhmen möglich werden konnte. Er knüpft an ein Psalmwort eine klare Erläuterung des kirchlichen Traditionsbegriffes als Entwicklungsprinzipes. Implicite, so sagt er, ist von Anfang an die volle Wahrheit in der Kirche vorhanden, aber nicht explicite; sie ist verhüllt und wird erst in einer Stufenfolge von Entwicklungen offenbart, sodass die Kirche von einer Wahrheit zur anderen fortschreitet. (WA 4,345) Nun aber pflegen die Menschen am Aeusseren zu haften, wollen nur das, was sie explicite an Wahrheit besitzen, gelten lassen und sträuben sich daher gegen neue Wahrheiten, weil sie dieselben nicht als Manifestationen der Entwicklung eines ihrem Wahrheitsbesitz immanenten (implicite) Prinzipes anzuerkennen vermögen. So haben es die Böhmen gemacht; sie sind Ketzer, weil sie auf altem Standpunkt stehen geblieben sind, nicht fortschreitend mit der Entwicklung der Wahrheit. Vom Traditionsprinzip aus musste Luther so urteilen. Aber wie nun, wenn dieses fiel? Wenn er nun selbst zurückgriff auf die frühesten Wahrheitstufe explicite? Standen dann die Böhmen dieser nicht näher als die Kirche mit ihren jüngeren und jüngsten "veritates"? (Luther nennt die immaculata conceptio solche nova veritas). -- Und enthielt denn die Rangierung der Böhmen innerhalb der Auswicklung der Wahrheit nicht die Anerkennung von Wahrheitsmomenten bei ihnen? Er bezeichnet die Sakramentslehre und die Stellung zum römischen Primat als antiquiert bei den Böhmen, wie, wenn er nun selbst an den hier eingenommenen Positionen Roms rüttelte, musste er dann nicht mit den Böhmen sympatisieren? So ahnt man die künftige Entwicklung; obwohl er es selbst nicht gemerkt hat, wird die Starrheit des Ketzerbegriffes den Böhmen gegenüber durchlöchert.

Nicht Luther selbst hat die erste Annäherung an die Böhmen gesucht, seine Gegner waren ihn mit den Ketzern in Verbindung zu bringen bemüht. Tetzel ist der erste gewesen. (Also nicht Eck, wie man gewöhnlich annimmt). In seiner "Vorlegung wyder einen Sermon von ablas und gnade" stellte er Huss und Wiclif als Ketzertypen hin: insbesondere hätten sie die Satisfaktion und die "sakramentierliche Beichte" geleugnet, in seinem 13ten Artikel (WA 1,245) stimmte Luther mit ihnen überein. (tetzaflad1#5). Die Absicht Tetzels leuchtete ein: Luther in den Verdacht böhmischer Häresie zu bringen und dadurch selbst zum Ketzer zu stempeln. Es ist ihm nicht gelungen; wie die ganze Tetzelsche Affäre in (173) Miskredit kam, so drang auch jener Vorwurf nicht durch. Auch des Prierias Vorwurf, Luther wolle wohl nach Böhmen ziehen und ein neues Schisma hervorrufen, (WA 2,51) hatte keine weitere Wirkung. Luther selbst hat sich dadurch nicht anfechten lassen, seine Bemerkung, dass die Böhmen alle Sakramente gelten lassen (WA 1,312), ist gegen Eck gerichtet und will nicht als Sympathiebeweis verstanden werden, er wusste sich von böhmischer Ketzerei völlig frei, indem er jede Beziehung zu den Böhmen ablehnt. (cf WA 1,425: 555 = res04#11) Nach wie vor sind ihm die Pikarden "unglückselige Ketzer", ja Typus der Ketzerei (WA 1,425; 286; 312; 506), nur verschiebt sich entsprechend der Neigung des religiösen Interesses der Ansatzpunkt seiner Polemik. Charakteristisch für die Böhmen ist ihm jetzt ihre Verwerfung des Fegfeuers (WA 1,292; 555f) oder der Heiligenverehrung (WA 1,426). -- Es scheint, als habe Luther in der damaligen Zeit erstmalig litterarische Produkte der Böhmen in Händen gehabt. In der lateinischen Erklärung der 10 Gebote sagt er bei Besprechung des ersten Gebotes, die Böhmen rühmten sich als wenn sie allein den einen Gott verehrten und "überschwemmen uns mit einem Haufen von Schriftstellen, in denen sie verbieten mehr als den einen Gott anzubeten, als wenn wir das je gehindert hätten!" Und auch die Stelle in den Resolutionen, da er angiebt, die Pikarden behaupteten zu der Zeit der Apostel habe es kein Fegfeuer gegeben (WA 1,555f. (res04#11) Diese Stelle bespricht Catharinus in seiner zweiten Schrift gegen Luther Bl. 102), dürfte kaum aus mündlicher Ueberlieferung geflossen sein. Wird sich die von Luther benutzte Schrift eruieren lassen? Der Versuch wenigstens sei gemacht. Huss' Schriften müssen ausscheiden, so gern man auch zunächst an seine "Auslegung der 10 Gebote" denken möchte; nicht nur, weil spätere Aeusserungen Luthers beweisen, dass er damals noch nichts von Huss kannte, sondern insbesondere, weil Luther an der zweitgenannten Stelle den Ketzer als haereticus vix quinquaginta (174) annos nuper natus bezeichnet. Das passt für Huss nicht (Wenn Luther von der hussitischen Bewegung spricht, sagt er, Bohemi nondum centum annorum, cf WA 2,280f), es stimmt aber vortrefflich zu dem Alter der Brüderunität, die sich 1467 -- Luther schreibt 1518, da kämen 51 Jahre heraus -- konstituirte. Somit wird die Schrift in den Kreisen dieser zu suchen sein. Dann aber wird man die Stelle heranziehen dürfen aus Luthers Schrift "Verklärung etlicher Artikel in dem Sermon von dem h. Sakrament" 1520, an welcher Luther von einem Buch der Pikarden, d. h. jetzt für ihn: Brüderunität, das er gesehen, spricht. (WA 6,80). Es hindert nichts, dieses Buch mit dem zu identifizieren, aus welchem die obigen Aeusserungen stammen sollen. Dann aber muss es eine Schrift gewesen sein, in welcher die alleinige Anbetung Gottes als schriftgemäss erwiesen wurde mit Polemik gegen Heiligenkult, die Apostolicität der Fegfeuerlehre und die Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl geleugnet war und "noch ettlich mehr ketzer stück" sich fanden. Zezschitz in seinem Buche "die Katechismen der Waldenser und böhmischen Brüder" (Erlangen 1863) glaubte das in Luthers "Erkläring etlicher Artikel" erwähnte pighardische Buch wiedergefunden zu haben in dem tractatus cujusdam (ut putant) Boëmi .. in utraque lingua adversus tyrannidem Romanae curiae, von welchem Luther in einem Briefe an Johann Lang vom 18. Dezember 1519 spricht. Aber abgesehen davon, dass bei dieser Annahme eine besondere Quelle für die dem Jahre 1518 zugehörigen Notizen gesucht werden müsste, will sich die sehr unbestimmt gehaltene Aeusserung in dem Briege an Lang nicht mit der bestimmt ausgesprochenen Erklärung, (175) dass er sich um ein pighardisches Buch handle, von dessen Lehrinhalt Luther sogar etwas anzugeben weiss, vertragen. Auch die Conclusiones Bighardorum oder selbst die sog. Kinderfragen, Bücher, die Luther damals schon gekannt haben könnte, wenn er auch später erst sich über sie äusserte, können nicht in Betracht kommen, weil in ihnen die Charakteristika sich nicht finden, die das zu suchende Buch nach Obigen haben muss. Vortrefflich aber würde die sogenannte Excusatio Fratrum Waldensium contra binas literas Doctoris Augustini datas ad Regem 1508 passen. Hier nämlich wird gegen den Heiligenkult schaft polemisiert, schärstens hervorgehoben, dass man nur Gott allein anbeten dürfe und durch eine Fülle von Bibelstellen dafür Beweis geführt. Von dem Fegfeuer heisst es: scriptura sacra non dat de hoc testimonium, de quo primitiva ecclesia nihil scivit neque sequaces per longum tempus -- zweimal wird ausführlich die bekannte Abendmahlslehre der Brüder vorgetragen und deutlich das betont, was Luther an der genannten Stelle als häretisch bezeichnet, Christus non est hic [in Abendmahle] cum corpore naturali, mansione existenter et corporaliter, cum suo substantialo assumpto corpore, quocum sedet nunc ad dexteram dei, non potest multiplicari, u. a. Endlich war über die Existenz der Seele nach (176) dem Tode, die constitutiones humanae, die Jungfrau Maria in einer Weise gesprochen, die Luthers Urteil über "ettlich Ketzerei mehr" begreiflich erscheinen lässt. --

Mit den Resolutionen zu seinen Ablassthesen beginnt eine Verschiebung des Verhältnisses Luthers zuy den Böhmen. Sie ist bedingt dadurch, dass Luther unter dem tieferen Eindringen in die kirchlichen Schäden und unter dem wachsenden Widerspruch, den sein Tadel, dessen Berechtigung er für selbstverständlich gehalten hatte, erfuhr, leise anfängt, nicht mehr nur die ihre Aufgabe falsch erfassenden Diener der Kirche, sondern diese selbst verantwortlich zu machen. Unter diesen Bedingungen beginnt Luther allmählich Verständnis für die Böhmen zu gewinnen: zunächst freilich derart, dass er gleichsam die Eifersucht der Kirche wachzurufen sucht, indem er ihr vorhält, dass sie den Böhmen Anlass zu Tadelungen biete. Bleibt er damit noch auf Seite der Kirche, so st doch unverkennbar, dass nur ein kleiner Schritt von hier hinüberführte zur Anerkennung böhmischer Lehren. Dann aber musste auch ihre Einrechnung unter die "Ketzer" fallen, die zunächst noch festgehalten und inhaltlich dahin vermehrt wird, dass zu den genannten Punkten nur an der Vernunft normierte Schriftinterpretation kommt (WA 1,696) -- wohl ein Schluss, den Luther aus der Art des biblischen Beweismaterials der Böhmen für ihre Ablehnung der Heiligenverehrung gezogen hatte.

Mit Bezug auf die Lobpreisungen der Ablassgnaden in der Instrucitio summaria äussert er: "Mich schmerzt es, dass nun auch unseren ketzerischen Nachbarn, den Pikarden, Gelegenheit (177) geworden ist, mit Grund -- also alle andren Beschuldigungen hält er noch für unbegründet -- die römische Kirche anzuklagen, wenn sie hören, dass solches in ihr gelehrt wird. (WA 1,589 = res07#43). Und als er sich scharf ausspricht gegen die kirchliche Strafpraxis des Verbrennens der Ketzer an Stelle sachlicher Ueberwindung, fügt er bei: Und diese Gedanken erwähne ich deshalb, damit nicht die Pikarden, unsere Nachbarn, die Ketzer, das unglückselige Volk, das seine Freude hat an römischen Schmutz wie der Pharisäer über den Zöllner, aber kein Mitgefühl, damit sie nicht glauben, wir wüssten nicht um unsere Fehler und Flecken, und allzusehr über unser Elebd triumphieren, wenn wir uns den Anschein des Verschweigens und Billigens geben". (W 1,625 = res10#82) -- Von welcher Seite aus nun jener Appell an das Ehrgefühl der Kirche sich in Anerkennung der Böhmen umwandeln würde, schimmert durch in eine Aeusserung Luthers, die seine seit den Resolutionen veränderte Position gleichsam auf ein Prinzip bringt, deren letzte Konsequenzen den römischen Kirchenbegriff stürzten. In der Erörterung über den thesaurus indulgentiarum sagt er, weder durch Schrift- noch Vernunftgründe können eine derartige Lehre approbiert werden, sondern lediglich durch Kirchenautorität. Das aber heisse die Kirche dem Spott der Ketzer preisgeben. "Denn was kümmert diejenigen, welche die römischen Kirche nicht folgen, wie die Ketzer, die Pigharden, eine Kirchenentscheidung? Wenn sie nun mit Vernunftgründen oder sonstige Autorität kommen, wie will sich die Kirche wehren?" (WA 1,608 = res09#52) -- Offenbar wird hier die "Kirche" auf eine breitere Basis gestellt, als es die römische Kirche von ihren Prinzipien aus vertragen konnte. Letztere dekretierte, ohne sich um die Häretiker zu bekümmern; Luther hingegen mit seinem Wunsche nach Argumentation, die auch für die Ketzer gilt, bringt die Kirche in ein Rücksichtsverhältnis zu denselben. Damit aber beginnt die Hierarchie, deren Macht in ihrem rücksichtslos geltend gemachten Willen liegt, erschüttert (178) zu werden, es löst sich von ihr ab eine -- zunächst für Luther noch nicht definierbare -- Gemeinschaft, due auf allgemein anerkannte Autoritäten -- zu denen Luther auch die Schrift rechnet -- gegründet ist. Prinzipiel aber war damit Raum gewonnen für Einbeziehung der "Ketzer" in die neue Gemeinschaft; denn von dem, was sie zu Ketzern stempelte, war mit den Satzungen, die Rom von sich aus aufgestellt hatte, das Meiste gefallen. Jetzt war der Punkt erreicht, wo Thatsache werden konnte, was oben als eventuelle Möglichkeit erschien. Vom neuen Kirchenbegriff aus musste sich die Anerkennung der Böhmen durch Luther vollziehen: in Leipzig hat sie sich vollzogen.

Bekanntliche liess Eck, nachdem er schon vorher versteckte Anspielungen auf die Verwandtschaft Lutherscher Gedanken mit hussitischer Ketzerei gemacht hatte, in der Leipziger Disputation die Gelegenheit sich nicht entgehen, bei dem Streite um den päpstlichen Primat Luthers Position in Verbindung mit der böhmischen Häresie, wie sie zu Constanz verdammt war, zu bringen. Er nahm damit die von Tetzel und Prierias versuchte Machination in umfassender und raffinierterer Weise auf. Zunächst zählt er einige zu Constanz verdammte Sätze auf, bittet Luther gleichsam um Verzeihung, dass er die Ketzer in die Disputation einführe, um dann aber eine verzweifelte Aehnlichkeit der Lutherschen Behauptungen mit den Böhmen zu konstatieren. (WA 2,275 = eck03#41). Luther hat die Beleidigung, welche in Ecks Worten für ihn liegen musste, sofern sie ihn bei der gesamten Zuhörerschaft dieskreditierte, wohl gefühlt und weist sie entrüstet zurück. Aber unverkennbar ist seine Zurückweisung mehr formell als sachlich. Der strittige Punkt wird verklausuliert und das "Unrecht" der Böhmen herübergespielt ins ethische Gebiet, die Verletzung der Liebe und Einheit des Geistes infolge ihres Schismas. "Auch wenn die Böhmen in der Frage nach den ius divinum Recht hätten," so, hypothetisch, beginnt er, um alsbald auf die Stellung der Griechen zu jener überzuspringen. Nur zum Schlusse, gleich als wollte er noch einmal seine Orthodoxie dokumentieren, kommt er nochmals (179) auf die Böhmen zu sprechen: Wenn das Papsttum iure divino bestände, so wären alle Griechen "böhmische Ketzer". (WA 2,276 = eck03#47) -- Doch Eck war nicht der Mann, sich durch Worte täuschen zu lassen; (eck04#13) er merkte die Schwäche der Lutherschen Argumentation, und so forderte er Luther auf, er möge doch gegen die Böhmen schreiben, wenn er so sehr gegen sie sei. Luther wiederholte zunächst seinen Protest, suchte auszuweichen, erklärte, er habe es nur mit der Stellung der griechischen Kirche zu thun; dann aber brach die nur mühsam aufrecht erhaltene Zurückhaltung, und Luther sprach offen aus: "Unter den Artikeln des Johann Huss oder der Böhmen sind viele sehr christlich und evangelisch, welche die Kirche nicht verdammen kann, wie der: es ist nicht heilsnotwendig zu glauben, dass die römische Kirche anderen überlegen sei" (eck04#3) oder der: "die päpstliche Würde stammt vom Kaiser". (eck04#8) Und jetzt dreht Luther den am Morgen geäusserten Satz um und sagt: "Wenn die Böhmen Ketzer sind, weil sie den römischen Bischof nicht anerkannt haben, so ist Eck auch, der die Griechen zu Häretikern macht". (WA 2,280 = eck04#10) -- So war die nur noch künstliche Einheit, in welcher sich Luther mit der Kirche geglaubt hatte in Beurteilung der Böhmen, gebrochen. Jetzt war von der römischen Kirche mit Bewusstsein eine neue Gemeinschaft abgesprengt -- Luther nennt sie die communio sanctorum (WA 2,279 = eck04#3) -- und wenn ein hussitischer Satz dieselbe vertreten hatte, so gehörten damit faktisch die Böhmen mit hinein in diese Gemeinschaft, mochte auch Luther zunächst noch in Nachwirkung (180) traditioneller Anschauung sie als Schismatiker beurteilen. Thatsächlich war diese Beurteilung der Separation überwunden mit der Aufstellung des spirituellen Kirchenbegriffs, wie er damals bei Luther sich gebildet hatte. Es war ausserordentlich kühn, einen von der Kirche in aller rechtlichen Form verurteilten Ketzer für "sehr christlich" und "evangelisch" zu erklären; er hatte sich dadurch als mit jenem solidarisch bezeichnet, war also in den Augen der Kirche selbst Häretiker. -- Luther war sich selbst nicht über alle Konsequenzen seines kühnen, im Affekt gesprochenen Wortes klar. Eck sah wiederum hier schärfer. Auf einem Konzil war Huss verurteilt; wer also den Ketzer auf die Stufe der Christlichkeit erhob, verwarf damit das Konzil, und in den Augen der Kirche war es, man möchte sagen ein handgreiflicheres Vergehen, die Konzilsautorität zu leugnen, als einen Ketzer für christlich zu halten. Gewiss emanzipierte sich die Kurie in praxi von konziliarer Normierung, aber rechtlich angesehen, blieb das Konzil oberste Entscheidungsinstanz, und wer es verwarf, verwarf letztlich die Kirche. Und nun handelte es sich um das Constanzer Konzil! eine Kirchenversammlung, deren Glanz noch in Luthers Zeit hinüberleuchtete. Mochte freilich die Curie selbst um der Souveränetät des Papsttums willen dasselbe desavouiren, in den Augen der Menge war es ungeheuerlich, das "hochheilige" Konzil anzuzweifeln. Darauf rechnete Eck, und Luther war noch ein zu getreuer Sohn seiner Kirche, um zu replizieren, dass die Curie selbst in der Frage der höchsten kirchlichen Autorität das Constantiense verwerfe. -- Scheinbar gleichgültig zieht Eck die Konsequenz aus Luthers Worten: "der verehrenswerte Vater hat gegen das Constanzer Konzil behauptet, einige Artikel des Huss (181) und Wiclif seien christlich". Entrüstet fiel ihm Luther in die Rede: "es ist nicht wahr, dass ich gegen das Constanzer Konzil gesprochen habe". Gewiss, formell hatte er das nicht, aber die Logik Ecks war zwingend. Und Eck ging weiter: wenn ein Konzil in einigen Artikeln geirrt hat, so kann es auch ein mehreren geirrt haben, d. h. die Unfehlbarkeit des Konzils ist unhaltbar. (WA 2,284 = eck04#41f) Luther liess sich die Anerkennung dieser Folgerung wiederum abringen, die überkommene Anschauung von der Hoheit der Konzile haftete noch bei ihm fest; (n181) so meint er zunächst, jene "christlichen" Artikel seien zu Constanz nicht verdammt, sondern betrüglich in die Akten eingeschoben worden; dann lenkt er ein wenig ein: das Konzil nenne nur einige häretisch, andere irrig, wieder andere blasphemisch oder verwegen (WA 6,600), da sei es zum mindesten fraglich, ob die in Rede stehenden in die Kategorie der ersteren gehörten, vielleicht seien sie nur als temerarii gekennzeichnet, und diese Kennzeichung könne auch der Wahrheit begegnen, wie sie Christus begegnet sei. Die Sophistik dieser Unterscheidung (n181a) kennzeichnet deutlich das verzweifelte Bemühen Luthers, die Konzilsautorität zu halten. Doch Eck führt die Quellen und Vernunftgründe (n181b) für die Unmöglichkeit einer Unterschiebung falscher Artikel ins Feld und macht geltend, dass selbst wenn die betr. Artikel nur temerarii wären, das doch etwas ganz anderes sei als christianissimi et evangelici. Die Logik war wiederum auf Ecks Seite, ebenso, wenn er immer wieder seine Worte auf die Frage nach der Unfehlbarkeit der Konzilien hinausspielte (n181c). Und so gab denn Luther endlich die Erklärung ab: "das behalte ich mir vor -- und man muss es (182) sich vorbehalten, -- dass ein Konzil mitunter geirrt hat und irren kann (eck06#39). Eck versäumte nicht zu antworten: "wenn Ihr glaubt, en rechtmässig versammeltes Konzil irre und habe geirrt, so steht Ihr mir gleich dem Zöllner und Heiden". (eck06#95). Luther mochte über sein kühnes Wort erschrocken sein, er bog ein: "vom Konzile ist nicht die Rede, es handelt sich um das ius divinum". (eck07#1) Doch weiss er jetzt auch einen sachlichen Rückhalt geltend zu machen: er spielt Konzil gegen Konzil aus, das Nicänum gegen das Costnitzer: Stützt Eck sich auf dieses, so fällt er hinsichtliche des Nicänums demselben Vorwurfe anheim, wie er ihn gegen Luther hinsichtlich des Costnitzer Konzils erhebt; das grössere Recht aber liegt bei Luther, weil jenes ehrwürdiger ist als dieses. (WA 2,313 = eck07#1) Dann lenkte er noch weiter ein und erklärte in Glaubenssachen wenigstens irre Konzil und Kirche nicht (WA 2,339 = eck09#54). --

Man schoss ab über diesen Punkt. Eck unterliess nicht, in der Behandlung der nun folgenden Fegfeuermaterie Luthers Ansichten als "pikardenfreundlich" zui bezeichnen (WA 2,323 = eck08#7). Luther wies mit energischer Behauptung der Realität des Purgatoriums kurzer Hand jeder Verdacht ab (WA 2,324 = eck08#10), hier also ganz auf seinem früheren Standpunkt beharrend. Eck wiederholte noch ein zweites Mal seinen Vorwurf (WA 2,335 = eck09#18), Luther hielt eine Replik nicht mehr für notwendig. --

Ein letztes Mal zog Eck das Constanzer Konzil in die Debatte bei Erörterung des Ablasswesens; er behauptete, dasselbe habe unter seinen Artikeln auch die Verachtung des Ablässe verdammt (n182); (183) die Folgerung zu ziehen: also ist Luther mit seiner Verachtung derselben ein Gegner des Konzils, überliess er dem Publikum. Aber Luther parierte: "ich habe niemals die Indulgenzen verachtet oder ihre Verachtung gelehrt, ich habe nur gesagt, man könne das Geld besser verwenden, aber prerogativa melioris non est contemptus deterioris" (WA 2,347 = eck10#26). Den von Eck geäusserten Gedanken, dass das Konzil selbst seinen Teilnehmen Ablass verteilt habe, überging er klugerweise. Wohl oder übel musste Eck die Luthersche Abwehr gelten lassen; er unterliess aber nicht die Bemerkung, dass Luther in früheren Schriften sich nicht so massvoll geäussert habe (WA 2,351 = eck11#4). --

Bei dem letzten Verhandlungspunkte, über die Busse, was es jedoch Luther selbst, der das Constantiense heranzog, zu seiner Unterstützung. Indem er, die Streitfrage erweiternd, die Reservationen verwirft, spricht er aus, auch das Konzil habe jene Reservationen verdammt; allzu grossen Wert wolle er freilich darauf nicht legen (WA 2,379 = eck13#48). --

Überblicks man die Leipziger Disputation, so ist der Fortschritt in Luthers Stellung zu den Böhmen evident. Die Persönlichkeit ihres Nationalhelden ist in den Vordergrund gerückt, vom Kirchenbegriff aus ist er ihm nahegekommen, indem er seinen Kirchenbegriff bei ihm wiederzufinden überzeugt war. Mit der Anerkennung des Huss aber fiel die Autorität des Costnitzer Konzils, zugleich aber rückte es damit in Luthers Interesse. -- (184)

Welches sind Luthers Quellen gewesen? Viel hatte Luther offenbar bisher über Huss und das Constanzer Konzil nicht gelesen, erwähnt hat er sie wenigstens nicht. Mehr gelegentliche Notizen oder Aeusserungen der Gegner mögen ihm Kenntnis vermittelt haben; vielleicht mag er auch in jener Zeit "inn den ersten tractetlin" des Erasmus von Rotterdam, die später noch in seinem Besitz waren, gelesen haben: "Johannes Hus ist exustus non mortuus das ist Johannes Huss ist verbrandt und noch nie überwunden" (n184) und seine Gedanken darüber gehabt haben, aber Genaueres war auch das nicht. Er erwähnt in frühester Zeit (WA 1,446f; EA 45,242; WA 7,567) -- im Magnificat hat er sie später wiederholt -- eine erbauliche Geschichte von zwei zum Constanzer Konzile reitenden Cardinälen, denen ein Hirte als Muster der Demut erscheint, weil er weint, dass er Gott noch nie gedankt habe, dass er ihn nicht auch zu einer hässlicher Kröte, sondern zu einem Menschen, der aufrecht gehen könne und Vernunft besitze, gemacht habe. Die Historie dient beide Male erbaulichen Zwecken, lässt jedenfalls keine Studien übe die Geschichte des Constanzer Konzils erschliessen, sie stammt aus der Ueberlieferung, vielleicht einem Sammelbuch erbaulicher Histörchen. Die Schriften Dungersheims gegen die Böhmen, die er kannte, und in der Leipziger Disputation wie in Briefen wegen ihrer thörichten Polemik tadelte (WA 2,287 ??), berichteten nahezu nichts von Huss und dem Konzile, ebenso das erwähnte pighardische Schriftchen. Es ist eine Verwirrung der historischen Begebenheit, wenn Luther in den Tischreden erzählt, er habe in Augsburg auf den Vorwurf des Kardinals, er sei Gersonist, geantwortet: "ich thät es aus Geheiss und Befehl des Concilii zu Costnitz; denn dasselbe hat sich am Ersten wider den (185) Papst gelegt und der Päpste wohl drei abgesetzt". Gewusst mag er wohl damals darumb haben, aber sich nicht darüber ausgesprochen; sein Interesse haftete, soweit es sich mit der böhmischen Angelegenheit beschäftigte, an einzelnen böhmischen haeretica, nicht an Huss und dem Konzil, das ihn verdammte.

Hat nun etwa schon die Vorbereitung zur Leipziger Disputation ihn die Konzilsakten studieren lassen? Ihre Lekture wäre nicht auffallend gewesen, es gab ihrer Drucke mehrere, Eck machte auf den offiziellen Druck sub forma authentica in Leipzig aufmerksam (WA 2,294 = eck05#90), und in Wittenberg befand sich ein Exemplar derselben. Aber es muss auffallen, dass Luther bei der Klarlegung des Planes der Disputation jener Akten nicht gedenkt; er bringt nur den donatistischen Irrtum der Böhmen wieder zur Sprache. Auch geht aus der ganzen Verhandlung hervor, dass ihm Ecks Wendung auf das Constantiense völlig unerwartet kam (n185), er brauchte Mühe, sich zu fassen. Man bemerkt, dass die Citierung der Konzilsartikel erst am Nachmittag erfolgt, während Eck am Morgen den Vorwurf böhmischer Häresie gegen Luther erhob (WA 2,279 = eck04#1). Das lässt es wahrscheinlich werden, dass Luther in der Pause unter den Büchern, die man mitgebracht hatte, aber nach Ecks Verlangen nicht gebrauchen durfte (cf WA 2,393), nachschlug, sich kurz über Huss orientierte an der Hand der Akten. Dafür dürfte sprechen, dass Luther die Hussschen Artikel zunächst ungenau wiedergiebt. Luther citiert: tantum est una ecclesia universalis, in den Akten heisst es: universalis sancta ecclesia tantum est una. Er fügt die Bemerkung hinzu, ein anderer Artikel laute ähnlich -- offenbar (186) weiss er ihn aber nicht anzugeben. Am anderen Morgen giebt er ihn, er hat inzwischen nachgesehen. Jetzt stimmen die Citate mit den Akten, trotzdem sie ausführlicher sind. Er nennt: una -- unica der Akten kommt kaum aus Differenz in Betracht -- est sancta universalis ecclesia, quae est predestinatorum universitat (eck05#31)-- das war der Articulus similis -- ferner: universalis s. ecclesia tantum est una (beachte jetzt die veränderte, den Akten conforme Wortstellung! (eck05#31 sammenlignes med eck04#3)) sicut tamen unus est numerus omnium praedestinatorum, ferner: duae naturae, divinitas et humanitas sunt unus Christus (artikel 4) und endlich: divisio immediata humanorum operum est, quod sunt vel virtuosa vel viciose quia si homo est viciosus et agit quidquam, tunc agit viciose et si est virtuosus et agit quidquam, tunc agit virtuose (artikel 16 se eck05#33). Den Satz hingegen, den er am Tage vorher noch nannte: non est de necessitate salutis credere Romanam ecclesiam esse aliis superiorem (eck04#4) war gleichfalls ungenau citiert; er lautete in den Akten non est etc... supremam inter alias ecclesias, und die Unsicherheit Luthers giebt sich darin zu erkennen, dass er nicht weiss, ob es un einen Wiclifschen oder Hussschen Satz sich handelt (n186). Das kurze Sätzchen: papalis dignitas a Caesare inolevit (artikel 9) musste beim ersten Nachfragen sich dem Gedächtnis einprägen, auch ist dasselbe schon vorher Luther bekannt gewesen (cf WA 2,159), wohl aus mündlicher Ueberlieferung. -- Eine derartige Aeusserung, es seien die genannten Artikel fälschlich untergeschoben, war auch nur möglich bei Unkenntnis der Akten, ebenso die andere, Schmeichler hätten Huss verdammt (WA 2,294, 279 = eck05#91; eck04#3); Eck hatte Recht, wenn er entgegenhielt, der Befund der Akten mache das unmöglich, da sie eine eingehende Diskussion und in allen rechtlichen Formen gehaltene Verdammung konstatierten. (WA 2,295 = eck05#91) (187)

Es war zu erwarten, dass Luther nunmehr sich über das Konzil informieren würde; aus seinen "Erläuterungen über die Leipziger Verhandlungen" geht hervor, dass er es gethan hat. Er will jetzt seine Behauptungen erhärten ex ipsius Concilii verbis, er citiert die Artikel mit der Einführungsformel quae sic habent und fügt am Schlusse hinzu: haec ibi (cf WA 2,406, 398 = releip03#31; releip01#48). Den oben an vierter Stelle genannten Satz giebt er, wie er ihn schon Eck gegenüber als augustinisch bezeichnet hatte (n187), in augustinischer Färbung wieder: omnis actus hominis aut est bonus aut malus (n187a), ebenso formt er den Satz Hussens über die Papstwürde um nach seinem Streitobjekt mit Eck. Was Luther jetzt über den Beschluss des Lateranense gegen das Constantiense sagt, (WA 2,400 = releip01#57; cf releip03#20ff; releip05#86). ist gleichfalls an den Akten orientiert: "auch das Constanzer Konzil hat auf dem jüngsten eine nicht kleine Einbusse an Autorität erlitten, indem dieses die Superiorität des Papstes über das Konzil statuierte, während jenes das Gegenteil behauptete". Luther hat letzteres in dem Bericht über Sessio 5 gelesen. Wie sich Luther diesen Beweis denkt, ersieht man aus einer späteren Aeusserung in "Grund und Ursach aller Artikel" bezw. der Assertio omnium articolorum. Luther sagt dort: "Johannes Huss leugnet nit, dass der Papst der Ubrist sei in aller Welt; nur das will er, ein böser Papst sei (188) nit ein Glied der heiligen Christenheit" (EA 24,134 = assty05#35). Offenbar muss von dem Gegensatze zwischen Welt und heiliger Christenheit aus interpretiert werdeen. Der Husssche Satz lautet in den Akten: "wenn der Papst böse ist oder ein praescitus, so iest er wie Judas ein Teufel und nicht das Haupt der h. streitenden Kirche". Diese sancta ecclesia militans ist aber für Luther jene spirituelle communio sanctorum, wie er sie bei Huss wiedergefunden zu haben glaubte. Deren Haupt aber ist Christus, nicht der Papst. Aber, so interpretiert Luther weiter, damit ist ein Papsttum iure humano nicht ausgeschlossen (ass04#5), der Papst kann der "Ubrist der Welt" bleiben, das geht die "h. Kirche" nichts an. Selbst in Todsünde kann er diese Ehrenstellung nicht verlieren, sofern dieselbe ja in das religiös-moralische Gebiet fällt, welche mit jenem weltlichen Rang nichts zu thum hat. Man sieht, wie klärlichst die in der Schrift an den christlichen Adel niedergelegten Gedanken sich in obiger kurz nach der Leipziger Disputation ausgesprochenen Aeusserungen zu entwickeln beginnen. Ob Luther Huss richtig verstanden hat und nicht vielmehr unter- stat auslegte, ist eine andere Sache. -- Aus Sessio 14 ersah Luther, dass das Konzil sein statuirtes Superioritätsrecht über den Papst auch praktisch ausgeübt hatte (WA 2,434 = releip05#86). --

Man hat bisher angenommen; Luther habe die Ausgabe der Konzilsakten Hagenau 1500 benutzt. Indem ich der Ansicht beistimme, möchte ich doch einige Bemerkungen über diese Annahme geltend machen. Dagegen scheint zunächst nichts einzuwenden, dass man jene von Luther an 2 Stellen ausdrücklich als Citat aus den Akten bezeichneten Worte: quidam ex eis sunt notorie haeretici, quidam erronei, alii blasphemi, alii temerarii et (189) seditiosi, alii piarum aurium offensivi (WA 2,398 = releip01#48) auf Einsichtnahme jener beruhen lassen will; das beigesetzte ex ipsius Concilii verbis und haec ibi lässt in der That nahezu wörtliches Citat vermuten. Aber man darf diesen Text nicht in der Ausgabe von 1500 zu Sessio 15 wiederfinden wollen, bezw. bei Harduin, der allerdings einen den obigen Worten sehr ähnlichen Text bringt, den Text der Hagenauer Ausgabe, dem er zu folgen verspricht, getreu reproduziert wähnen. Die Hagenauer Ausgabe liesst an den beiden Stellen, an denen sie die verdammten Artikel bringt: ex eis plures esse erroneos, alios scandalosus et nonnullos eorundem esse notoris haereticos, d. h. sie lässt das piarum aurium offensivos, pluresque temerarios et sediosos aus; ebenso lesen die Ausgaben Mailand 1511, Paris 1512. Nun bleibt ja freilich die Möglichkeit, dass eine der anderen Ausgaben -- sie waren mir leider nicht zugänglich -- zu Sessio 15 analog dem Harduinschen Texte las. Aber mir will wahrscheinlicher sein, dass Luther jene Worte überhaupt nicht nach Sessio 14 sondern Sessio 7 wiedergiebt. Es handelt sich dort um die Verdammung der Wiklifschen Sätze, der Text der Hagenauer Ausgabe lautet: et plures fuisse et esse notorie haereticos ..., alios ... erroneos, alios scandalosos et blasphemos, quosdam piarum aurium offensivos, non nullos temerarios et sediciosos; es fehlt also keines der Attribute. Da für Luther die Wiklifsche und Husssche Sache eins war, mochte er die ersterem geltenden Worte auch für letzteren bestimmt erachten, zumal ja thatsächlich nach (190) den Akten dort Aehnliches ausgesagt war. -- Die verdammten Artikel des Huss sowohl wie Wiklif stehen an 2 Stellen in den Akten, in Sessio 15 bezw. 7 und zusammen am Schluss in der Verdammungsbulle Martins V. Die von Luther geltend gemachten Worte in dem Hussschen Satze über die ethischen Handlungen et si est virtuosus et agit quidquam, tunc agit virtuose fehlen nun in dem Bericht über Sessio 15, finden sich hingegen in der Verdammungsbulle; Artikel 2 des Huss heisst an erster Stelle: sicht tantum est numerus unus, an zweiter; sicut tantum unus est numerus, Luther folgt letzterer Lesart. Da in der Bulle die Sätze beider, Wiklifs und Huss', hinter einander standen, mochte es nahe liegen, sie als Quelle häufiger zu benutzen als die Sessionsberichte.

Es ist merkwürdig zu sehen, wie er Stachel, den Eck in Leipzig in Luthers Gemüt gesenkt hatte, darin haftete. Immer wieder kommt Luther in seinen Resolutionen auf das Constanzer Konzil zu reden; man sieht, wie es ihn beschäftigt, hauptsächlich die beiden Gedanken von der Negierung des Papsttums iure divino und des absoluten Entweder-Order der sittlichen Akte. Der letztere war die Grundwahrheit, welche, einst Ausgangspunkt, nunmehr gleichsam der begleitende Grundakkord seiner religiösen Interessen war (n190), der erstere das Moment, welcher erst erledigt werden musste, ehe der neue Kirchenbegriff sich durchringen konnte; er steht noch so im Vordergrund, dass die Linie, die in Leipzig jenen andeutete, noch nicht weitergeführt ist. -- Luthers Urteil über das Constanzer Konzil ist jetzt klar und bestimmt. Jetzt "steht es fest" (WA 2,398 = releip01#48), dass nicht alle hussitischen Artikel ketzericht waren, jetzt ist es selbstverständlich, dass (191) Konzile irren (n191). Seine Behauptung, einige Artikel seien untergeschoben, erscheint in der milderen Form, ein Thomist habe die Hand bei Fixierung der Artikel im Spiele gehabt (WA 2,399 = releip01#53; WA 2,421 = releip04#76). Und während er in Leipzig mit Emphase noch an der Häresie der Böhmen festhält, schiebt er jetzt hinter die Worte Boëmi et haeretici ein; ut Eccii verbis tonem (releip01#54). Auch gebraucht er den Namen "Pikarden", der als Schmähun empfunden wurde, jetzt nicht mehr, mit einer Ausnahme, in der sie noch einmal als Typus donatistischer Häresie erscheinen (WA 2,632). --

Luther ahnte wohl nicht, in welches Wespennest er mit seiner Leugnung der Unfehlbarkeit des Constanzer Konzils und der unverhohlenen Sympathie für Huss gestochen hatte; von allen Seiten umschwirrte ihn jetzt das Gelichter der Römlinge, (WA 2,244f) und immer wieder ertönte der Ruf: Ketzer! Mochte man ihn auch ermässigen zu dem Rufe: Ketzerfreund! (Boemorum patronus) (WA 2,406 = releip03#32), rechtlich war das dasselbe. Es war ein wohlberechneter Feldzugplan, den man gegen Luther inszenierte, sein Ziel sollte das Ende des Huss sein. Eck unterliess nicht, alsbald in einem Schreiben an den Kurfürsten Luther wegen böhmischer Häresie zu verdächtigen (BE220719#6). Neben Eck trat Dungersheim, dann Emser, zunächst heuchlerisch (192) in seinem Brief an Zack, dann offen in allen seinen Schriften. Alveld, dem eifrigsten Verbreiter von Luthers böhmischer Ketzerei (n192), gelang es dann, die Brücke ausfindig zu machen, über welche das Ketzergift nach Eisleben gekommen war: von Sangerhausen, dem Ketzernest, war es herübergespritz und hatte so gleichsam Luther schon in der Wiege infiziert; schliesslich ging man noch weiter und sprengte das Gerücht aus, er sei in Böhmen geboren, zu Prag erzogen und habe von Kind auf "das Wiklifsche Dogma" kennen gelernt. "O mores, o homines! o tempora indigna literis Evangelicis et veritate" bemerkt dazu Spalatin in seinen Annalen. Catharinus wirft Luther vor, er habe Freude daran gehabt, zu billigen, was Huss gesagt habe (catlut09#29), Johannes Antonius Modestus und Heinrich VIII vom England äusserte sich ähnlich (in seinem Gegenschrift auf de captivitate Babylonica), kurz, es war das Wohlfeilste geworden, Luther den "Böhmen" zu nennen, was er sagen mochte, war (193) "hussitisch". Noch während der Disputation verschrie man ihn in Leipzig als Böhmenpatron (WA 2,275;299 = eck03#42; eck06#8), sodass Luther für notwendig befand, in deutscher Sprache zur Corona zu reden, um sich zu rechtfertigen; andere griffen auf Aeusserungen Luthers über die Heiligenverehrung zurück und behaupteten, er verwerfe dieselbe mit den Pigharden; sie wussten nicht oder wollten nicht wissen, dass er gerade gegenteilig einst sich geäussert hatte. Crotus Rubeanus schrieb an Luther, in Rom konzentriere sich der Hass der Päpstlinge auf die religio bohemica atque approbatio Hussaici dogmatis. Auch die später auftauchenden Gerüchte, er sei nach Böhmen geflohen, spiegeln die Meinung seiner Gegner über ihn wieder. Wenn man in Worms in den Verhandlungen mit Luther immer wieder auf das Constanzer Konzil und Huss zurückkam, so lag darin nicht nur der Wunsch, die Konzilsautorität gewahrt zu sehen, sondern auch eine Konzession an die Menge, der man das Aegernis nehmen musste, das sie an der Reprobation des Konziles von Constanz nahm. --

Gegenüber dem Drängen der Gegner berührt Luthers vornehme, überlegene Ruhe angenehm. Mit Eck hat er es zunächst zu thun. Sein kurzer Brief an ihn hält mit aller Energie den Hussschen Satz über die Qualität der sittlichen Handlungen fest (WA 2,702). Seine erstere grössere Schrift contra malignum Eccii iudicium ist darauf berechnet, den Spiess gegen Eck umzukehren (cf WA 2,632: age retorqueamus in ipsum autorem ineptas suas nugas). Auf die von Eck aus den verdammten Artikeln des Wiklif und Huss ausgezogenen Sätze (es sind Sats 36, 38, 41 von Wiklif, 7, 10, 15 von Huss), -- er giebt sie in Eckschen von dem Original unbedeutend abweichende Wortlaut -- die seine These von der Leugnung des ius divinum des Papsttums treffen sollten, geht er (194) nicht weiter ein. Eck irre sich, nicht alle nenne das Konzil "voll Irrtums", nur einige (WA 2,643). Er nimmt dann den von ihm von Anfang an verworfenen böhmischen Satz von der moralischen Indefektibilität der Priester und weist Eck nach, dass seine Interpretation von Luc. 22,32 hinüberführe in jene "verderblichen donatistischen und pighardischen Irrtümer" (WA 2,632f). Dass Luther an der Verwerflichkeit jenes Satzes festhielt, zeigt seine grosse Zurückhaltung bei Besprechung des Artikels: die Böhmen sind bessere Christen als wir (WA 2,651). Offenbar ist derselbe, mag ihn nun Franz Günther aufgestellt haben oder nicht (WA 2,621f), mit Rücksicht auf die böhmische Forderung der priesterlichen Sittenstrenge aufgestellt. Luther verweist nur auf das Apostelwort: wer bist Du, der Du einen fremden Knecht richtest? (WA 2,651) Offenbar vermeidet er näheres Eingehen (cf WA 5,46). Dass ein Entgegenkommen für die Böhmen aber darin nicht liegt, zeigen seine Aeusserungen gegen Emser.

Er fertigt ihn klar und bestimmt ab. Die Art des Emserschen Angriffs (cf WA 2,655) brachte es mit sich, dass Luther die konservativeren Momente seines Verhältnisses zu den Böhmen hervorhebt. Er geht zwar nicht etwa hinter die in den Resolutionen eingehaltene Linie zurück, überschreitet sie aber auch nicht. Es liegt ihm daran zu betonen, dass er das böhmische Schisma nicht will, weil es die Einheit der Kirche, die Luther mit dem Papsttum iure humano erhalten wissen möchte, sprengt und gegen das Gebot der Liebe verstösst (WA 2,661 = lutems01#26): "Du nennst mich einen Katholiken, der Patron der Böhmen nicht sein will, und daran thust Du Recht". Andererseits aber freute er sich der dogmatischen Uebereinstimmung mit den Böhmen: "ich will, ich wünsche, ich bitte, (195) ich bin dankbar dafür, dass meine Sätze den Böhmen gefallen, o dass sie auch den Juden und Türken gefielen!" (WA 2,663 = lutems01#45) Und dass die Böhmen für ihn beten, wie man sagt, ist ihm lieb, wie jedes Fürbittegebet erfreut (WA 2,664, 667, 607). -- Es ist charakteristisch, dass er nicht sagt: ich will etc., dass die böhmische Sätze mir gefallen. Jene Wendung gab nur offen die Thatsache wieder, welche aus dem bisherigen Verlauf dieses Abschnittes resultiert und den folgenden begleiten wird: dass nämlich sein religiöses Bewusstsein das Primäre ist, dass er von hier aus an die böhmischen Sätze herantritt, denen ein Wert für Luther nur insofern zukommen kann, als sie eine Saite des Inneren anschlagen oder eine leise vibrierende in starke Schwingung versetzen. --

Vor die vornehmlich für Alveld berechneten Aeusserungen Luthers über die Böhmen fällt ein Ereignis, welches die ganze Sachlage verändern sollte: Die Anknüpfung persönlicher Verbindung mit den "Ketzern". Nicht nur Hass trug die Disputation Luther ein, auch Freundschaft. Schon in Leipzig hatten die dort anwesenden Böhmen ihre Sympathie für Luther kundgegeben, wie Herzog Georg sagte, war es das Lautwerden früherer Hoffnungen auf ihn, einige Böhmen, wohnten der Disputation bei, man betete in Böhmen für ihn, gegen Emser konnte Luther den Trumpf ausspielen: "es kommen zu mir täglich aus verschiedenen Weltgegenden Briefe gelehrtester Männer, die der Wahrheit glückwünschen und nur dieses fürchten, ich möchte nicht so glücklich forfahren, wie ich begann, und widerrufen" (WA 2,662 = lutems01#37). Die Meissner Geistlichkeit schäumte vor Wut, dass die Böhmen Luther als ihren Patron feierten; die Ermordung Luthers sei um deswillen keine Sünde. Freilich, als Emser infolge grober Indiskretion an Johann Zack von böhmischen Briefen an Luther (196) schreiben konnte, wies Luther es Eck gegenüber mit Entrüstung als Unwahrheit zurück (WA 2,707f). Mit Unrecht, es waren Briefe von Böhmen an Luther unterwegs, am 3. Oktober 1519 hatte er sie in Händen, Spalatin schickte sie ihm mit dem Boten vom kurfürstlichen Hofe aus zu. Zwei ultraquistische Pfarrer wandten sich an ihn, ihre Briefe sind lebendiges Zeugnis für die Stimmung, mit welcher man in Böhmen der Lutherschen Bewegung gefolgt war. "Viele Deiner Traktate von mancherlei Art sind uns zu Händen gekommen, daher kennen wir Dich ganz, wer und wie Du bist". Sie bewundern seinen Mut, fast mit Huttenschen Rhetorik spornen sie zum Ausharren an, er habe in Böhmen viele Freunde, freilich auch hier schon Feinde, aber die Wahrheit werde ihn, den sächsischen Huss, schon retten. Doch wichtiger als diese Worte war ein sie begleitendes Buch: Huss Schrift de ecclesia. Es war das Erste, welches Luther von Huss kennen lernte, "denn ich leyder, sagt er selbst, zu Leyptzk in der Disputation nit hatte gelesen Johann Huss" (WA 6,587). Ein gewisser Jacobus, von dem wir Näheres nicht wissen, hat nach Prag die Kunde von der Leipziger (197) Disputation getragen, man mochte wohl in Böhmen merken, wie lückenhaft Luthers Kenntnisse von Huss waren -- als Quellen nennen sie im (allgemeinen richtig) die aura vulgi und die Konzilsakten, das sei zu wenig für Luther, -- dem will man abhelfen, darum schickt man jenes Buch, und gerade jenes, weil es die Grundlage der ungerechten Verdammung Hussens in Constanz gebildet habe. Es ist rhetorische Floskel, wenn Rozdalowsky schreibt, er habe gehört, Luther selbst sehne sich sehr nach den Büchern des Huss. Soweit ging sein Interesse für die Böhmen noch nicht; es war bisher nur ein Nebeninteresse, welches an die Frage vom päpstlichen Primat sich angehängt hatte; infolgedessen betraf es auch mehr das Constanzer Konzil, Huss nur insofern, als er zur Exemplifizierung der Irrigkeit desselben diente. Jetzt erst, mit der Lektüre von de ecclesia, löst sich in Luthers Bewusstsein Huss vom Constanzer Konzil los und gewinnt selbständige Bedeutung.

Zunächst freilich lassen ihn die Briefe der Böhmen kalt, er hat eher zu tadeln als zu loben (til Staupitz 3-10-19); fast scheint es, als habe ihn Spalatin zur Beantwortung der Briefe gedrängt, auch dass er durch den rhetorisch geschulten Melanchthon dem Boten dis Antwort in die Feder diktiern lässt, verrät geringes persönliches Interesse; und seine Werke beizugeben war Anstandspflicht (til Spalatn 15-10-19). Es scheint auch, als habe Luther es für nicht so dringend gehalten, die Hussche Schrift zu lesen; die Streitigkeiten mit Eck, Emser, Unterhandlungen mit Miltitz, die Sermone für die Herzogin Margaretha von Braunschweig und die lateinische Kirchenpostille nahmen zunächst seine Zeit in Anspruch, vielleicht auch mochte (198) die Erwartung des Schiedspruches der Universitäten zum Schweigen raten. Leider lässt sich die erste Aeusserung Luthers über die Lektüre der Schrift nicht sicher datieren, sie muss spätestens Ende Februar 1520 fallen (Enders II nr 280). Frappierend bricht sie heraus: "ich habe bis jetzt ohne Vollbewusstsein davon alle Lehren des Johannes Huss gelehrt und festgehalten, ebenso auch Johann Staupitz, kurz wir sind alle Hussiten, ohne es zu ahnen, Paulus schliesslich und Augustin aufs Wort Hussiten. Siehe, bitte, das Ungeheurliche, wohin wir gekommen sind ohne die Führung und Leitung der Böhmen. Ich weiss vor Staunen nicht, was ich denken soll, wenn ich die schrecklichen Gerichte Gottes an den Menschen sehe, dass nämlich die offenkundigste evangelische Wahrheit, die schon öffentlich als mehr als 100 Jahre verbrannt ist, als verdammt gilt, und man darf das nicht offen aussprechen. Wehe dem Lande!" --

Mit einem Schlag hat die Husssche Schrift Luther auf den Höhepunkt der Entwicklung hinaufgehoben, rückhaltloser anerkennend konnte er sich nicht aussprechen; geht doch die Anerkennung in Identifizierung seiner selbst mit jenen auf. Mit sicherer Hand legt er gleichsam einen Querschnitt in die Geschichte und zeigt die Punkte, wo nach seine Ueberzeugung das gesunde Evangelium von Pathologischen sich sondert. Paulus, Augustin, Huss, Staupitz, er selbst, sind die Repräsentanten der veritas evangelica. (199) Zeigt die Wahl gerade dieser -- er hat sie später noch einmal genannt, den Staupitz auslassend (WA 4,588; EA 10,2,116 nennt er Huss den "rechten Paulus") -- die individuell und unbedingt religiös bedingte Art des Urteils, so ist auch ihre Nebeneinanderreihung nicht im Sinne geschichtlicher, sondern, wenn man sagen darf, religiöser Kontinuität gedacht. So klar wie nur möglich spricht Luther hier aus, dass die Böhmen nicht etwa völlig neue Wahrheiten ihm mitteilen, sondern nur vorhandene Keime und angesetzte Blüten zur Entfaltung und Vollblüte brachten, ein Urteil über das Prius seiner Religiosität, welches die bisherigen Ergebnisse dieser Untersuchung nur zu bestätigen vermögen.

Versuchen wir im einzelnen zu zeigen, an welchen Punkten infolge der Lektüre von Huss de ecclesia ein Fortgang in Luthers Anschauungen zu konstatieren ist. Wenn auch hier und da mündliche und schriftliche Mitteilungen, sei es seiner Freunde, sei es der Böhmen, mit denen er fortan in Verkehr blieb, oder die Lektüre diesbez. Schriften sein Wissen bereicherten, der entscheidende Faktor der Entwicklung bleibt jenes "edle Christlichs Buchlain" (WA 6,587). Luther hat für dasselbe Propaganda zu machen gesucht; seine Studenten schickt er am 19. März 1520 den frisch erschienen Druck, der fügt hinzu, alle, die ihn gelesen, hätten nahezu ein Mirakel darin erblickt. 2000 Exemplare habe Anshelm in Hagenau ausgegeben. Er konnte die Genugthuung (200) haben, dass man sie kaufte; allenthalben teilten die litterarisch interessierten Freunde sich das Erscheinen mit.

Zunächst ist an dem Punkte, an welchem Luther persönliches Interessse an den Böhmen gewann, am Kirchenbegriff, jetzt der Höhepunkt erreicht. Schon in Leipzig war das Rücksichtsverhältnis, in welches die Kiche den Böhmen gegenüber gesetzt werden sollte, faktisch einer Einbeziehung derselben in die (spirituelle) Kirche gewichen, aber der Nachdruck der Lutherschen Behauptungen lag auf einem negativen Moment, der Negierung des ius divinum des Papsttums. Das wird jetzt anders (cf WA 5,450). Die Husssche Bezeichnung der Kirche als congregatio (Huss: de ecclesia, S 1ff) wird nunmehr von ihm synonym gebraucht mit seiner Fassung der communio sanctorum, erstlich in seinen Psalmenvorlesungen. In Erläuterung des Psalmwortes: "non congregabo conventicula eorum de sanguine (Ps 14,6) präzisiert er allen quaestiones infinitae gegenüber den Kirchenbegriff auf die congregatio spiritualis hominum, non in aliquem locum, sed in eandem fidem, spem et charitatem spiritus. Damit ist die Lokalisierung der Kirche in Rom ausgeschlossen, sie ist universell: darum gehören auch die, welche nicht unter Rom stehen, als solche nicht (201) unter die Ketzer. Ausdrücklich findet er diesen Gedanken wieder in Huss' Satz: ecclesia universalis est praedestinatorum universitas. Zu Leipzig habe er den tiefen Sinn dieser Worte, die er damals zu verteidigen unternahm, noch nicht gekannt; seitdem aber Huss' Buch de ecclesia erschienen sei, sei er von ihrer "Christlichkeit" voll überzeugt (WA 5,452). -- Seiner Schrift "vom Papsttum zu Rom" legt er das Husssche Schema von den verschiedenen Bedeutungen des terminus ecclesia zu Grunde. (Huss' de ecclesia gengivet i WA 6,588??). Seinen Widersachern gegenüber geht er in der Assertio omnium articulorum so weit, dass er seine Ansicht über den Charakter der Kirche als Glaubensgemeinschaft direkt aus Huss' Buch de ecclesia entlehnt zu haben behauptet, "damit es nicht scheint, als schmücke ich mich mit fremden Federn" (WA 7,130 = ass03#51; cf WA 5,208) Endlich hat er in Worms sich offen zu dem bekannt, was er über Huss hinsichtlich des Kirchenbegriffs geschrieben und gelehrt hatte. Bekanntlich legte die römische Partei in Worms allen Nachdruck darauf, Luther zur Anerkennung der konziliaren Autorität zu bewegen (WA 7,836, 839): von da us glaubte man weiter banen zu können, denn damit hatte man eine objektiv entscheidende Norm, das Gefährliche für Rom war die Verlegung der Autorität in das eigene Ich, wie Luther es letztlich behauptete. Nach Lage der Dinge musste sich die Frage nach der Konzilsautorität zuspitzen auf das Costnitzer Konzil. Hatte nun Luther vor dem Reichstage zunächst mit nicht miszuverstehender Beziehung auf das Costnitzer Konzil geäussert,  , es (202) liegt am Tag, dass Konzilien öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben", dann aber ausdrücklich dieses Urteil auf das Constantiense präzisiert, so äusserte er Vehus gegenüber "erstlich dass er keine Concilii dan das zu Kostnitz angegriffen hat .. .. umb des Irrthums willen in der Leer und glauben, wann es sey zu Kostnitz verdampt der artikel des glaubens "ich glaub die heilige christliche Kirche" in diesem artickel des Johannes Huss "es ist eine einige gemeine christliche Kirche, das do ist die anzal aller auserwelten und von got versehen heiligen" (WA 7,846). Alle Beweisgründe, die für die Richtigkeit der Verdammung vorgebracht wurden, wies Luther ab und wollte sein Urteil um keinen Preis widerrufen (WA 7,850; 853; 854; 878). --

Zwei Folgerungen ergaben sich aus Luthers Kirchenbegriff, wenn er ihn mit dem des Huss gleichsetzte. Ist die Kirche geistige Gemeinschaft und als solche aller Orten, so ist auch den Böhmen prinzipiell der Zutritt zu dieser Gemeinschaft gestattet, jedenfalls sind sie nicht mehr als Ketzer aus derselben auszuschliessen. Dementsprechend sagt auch Luther: "die Böhmen sind nicht Ketzer"  -- aber was bedeutet nun der Zusatz "sondern Schismatiker?" (WA 6,79; 80; cf WA 2,605,675; 4,147) Offenbar liegt hier ein Residuum traditioneller Anschauung vor. Hier ist die Norm der Beurteilung nicht die Kirche als communio sanctorum, sondern die unter dem Papste als Oberhaupt geeinte rechtlich organisierte Gemeinschaft. Diese kennt den Begriff "Schismatiker", wie sie den des "Häretikers" kennt, jene nicht. Nun will ja freilich Luther das Papstthum iure (203) humano bestehen wissen, und noch ist er zu der strengen Scheidung von "weltlich Schwert" und "geistlich stand" nicht durchgedrungen, das erklärt jenen Rückfall in die mittelalterliche Anschauung, der immerhin en Fortschritt war gegenüber der früheren Gleichsetzung von haeretici und schismati als Titulatur der Böhmen (WA 6,505). Bedeutsam aber wird nunmehr, dass Luther -- inzwischen ist die Schrift an den Adel geschrieben -- als man jene Beurteilung Bohemi non haeretici sed schismatici in der Bannbulle inkriminierte, das sed in et unwillkürlich umänderte. Es war die Konsequenz seines Kirchenbegriffs, er zog sie wohl ihm selbst unbewusst. (Se side 52!).

Zweitens resultierte aus Luthers Kirchenbegriff das allgemeine Priestertum der Gläubigen, wiewohl es nicht gleichzeitig mit diesem erstmalig ausgesprochen wurde. Hatte Luther die Ueberzeugung, jener sei identisch mit hussitischer Lehre, so darf es nicht überraschen, dass er auch dieses den Böhmen zuschreibt. Aber es bedurfte eines Anstosses, um ihn diese Konsequenz ziehen zu lassen. Emser nennt in der Gegenschrift auf Luthers Buch an den Adel die Lehre vom allgemeinen Priestertum einen "pickardischen, grubenheimerischen punct". "Luther kan ouch mit keinem buchstaben antzeigen, das die leyen ye den geringsten clerick ich schweig ein priester gemacht oder tzumachen gehabt hatten, er wol uns dann an die Pickard weissen, bey denen pfarrer und Sawhirten ein ding ist" (Enders: Luther und Emser I 79). Noch klarer drückt er sich in seiner "Quadruplica" aus, Luther habe "seyne Ketzerey (204) nicht von seiner mutter, der Christenlichen kirchen, sonder in der Pickhart schul gelernet, bei welchen alle wuchen eyner an der tzech, wie sie gesessen sint, die schweyn ausstreybt und yhr pfarrer ist, er sey schuster, schneyder" (ebd II 136). -- Auf der Wartburg hat Luther die Quadruplica gelesen, in der Wartburgschrift über die Privatmesse, in der lateinischen sowohl wie der deutschen, wird das allgemeine Priestertum auf einen Artikel des Huss gestützt. "Wir schliessen also: es giebt nur ein und allen Christen in der Kirche gemeinsames ministerium verbi. Folglich seid ihr mit Eurem Priestertum Satansdiener. Deshalb habt Ihr auch diesen Artikel des Johann Huss verdammt, dass es nämlich nicht jedermann erlaubt sei, Christum zu lehren und von jedermann zu hören" (WA 8,425; 498). Man merkt dass Luther sich auf der Wartburg befindet, d. h. die Akten des Konziles nicht vor sich hatte. Ein derartig lautender Artikel ist zu Costnitz nicht verdammt worden, es müsste denn Luther ihn missverstanden haben. -- Und hat (205) er ganz vergessen, dass er früher gegen die prätendierte moralische Indefektibilität der böhmischen Priester geeifert hatte? Noch in Leipzig hatte er deutlich ausgesprochen, er verdamme den hussitischen Artikel, dass man einen sittlich tadelhaften (malus) Priester verwerfe (WA, 2,302 = eck06#33), ähnlich hatte er im Psalmenkommentar als Thorheit dargethan, die sacerdotes impii abzuthun (WA 5,46). Damals hatte er gewusst, dass die Böhmen die Priester aus der Menge der Laien heraushoben als besonderen Stand, jetzt hat er sie auf die Höhe seines Standpunktes hinaufgehoben. Offenbar sieht Luther die böhmische Forderung von der sittlichen Heiligkeit der Priester jetzt in anderem Lichte. Denn sonst wäre es unbegreiflich, wie er unter Berufung auf Joh. 20,22f seinen Satz, dass ohne den h. Geist niemand Sünden vergeben könne, also, da niemand das Vorsandensein des h. Geistes beim anderen nachweisen könne, die Priesterabsolution unnütz sei, in seinem ersten Teile in dem zu Costnitz verdammten Artikel des "Huss oder Wiklif" wiedersieht, dss ein in Todsünde befindlicher Priester nicht die Sakramente verwalten kann (WA 8,162). Gewiss kommt Luthers Forderung schiesslich auf das gerade Gegenteil der böhmischen Praxis hinaus, aber jener Satz erscheint bei ihm als positive (206) Stütze einer Behauptung, die er selbst vertritt, er wird nicht verworfen.

Ebenfalls mit dem Kirchenbegriff hängt zusammen die Bschränkung der Schlüsselgewalt auf das Diesseits. Auch dafür ist Luther Huss jetzt Stütze. Aus Huss' Schrift de ecclesia (n206) hat er ersehen, dass der Böhme sich gegen den Ablass für die Rompilger gewandt hat. "Also ist geschehen zu den Zeiten Joannis Huss, dass der Papst den Engeln im Himmel gebot, der römischen Wallbrüder Seelen gen Himmel zu führen, die auf der Romfahrt starben. Wider solchen schrecklichen Frevel und mehr denn teuflich Vermessen sich Johannes Huss legt" (EA 24,128; WA 7,421).

Ueber die böhmische Abendmahlslehre hatte Luther bisher nur gelegentlich sich geäussert, ohne persönliches Interesse. In einer Predigt, wohl aus frühester Zeit, vergleicht er die Böhmen mit den Samaritanern. Wie diese zu den Juden standen, so jene zur Kirche. "Es war zwischen Juden und Samaritanern, wie heute zwischen uns und den Böhmen in der Eucharistie kein Einvernehmen ist" (non convenit; WA 4,614) Auf welcher Seite aber Luther das Recht sieht, zeigt der den Samaritanern gemachten Vorwurf, dass sie contra legem handelten, das hiess auf die Böhmen angewandt contra ecclesiam catholicam (ebda.) Das infolge der Leipziger Disputation geschehene Studium der Konzilsakten, nicht zum wenigsten Huss' Buch de ecclesia und sonstige Mitteilungen liessen ihn zunächst mit persönlichen Interesse, dann auch milder sehen. Doch bedurfte es wiederum eines äusseren Anstosses, um das innerlich Herangereifte heraustreten zu lassen. Damit kehren wir zu Luthers Gegnern zurück.

Ohne auch nur mit einem Worte die Böhmen zu erwähnen und auch wohl innerlich mehr durch zwingende Macht des (207) Bibelwortes (WA 2,743; 6,79) gedrängt als durch den böhmischen Ritus beeinflusst, hatte Luther im Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des h. Leichnames Christi es als wünschenswert bezeichnet, dass ein Konzil die communio sub utraque wiederum einführe. Sofort witterte man böhmische Ketzerei dahinter, die beiden Monstranzen auf dem ersten Blatt des Druckes sollten Utraquismus verraten, in dem künstlerichen Schmuck der Rückseite sah man Anspielung auf Huss. Herzog Georg fand das Büchlein "fast pragisch" und schrieb voll Besorgnis an den kurfürstlichen Vetter nach Wittenberg (cf Löscher III 920); Alveld u. a. folgten nach mit Schmähungen. Luther hielt eine Rechtfertigung für notwendig. Wie anders klingt jetzt sein Urteil! "Das ist aber nit die sach, darumb die Bemen werden ketzer gescholten, das sie beyder gestalt niessen... dann die Romisch kirck hat dasselb vorzeyten, wie wissentlich ist, den Bomen zugelassen (im Baseler Konzil); was aber mag zugelassen werden, das ist nit und wirt nymer mehr ketzerey" (WA 6,79). Wenn man bedenkt, dass die römische Kirche selbst in der communio sub utraque den geringsten der böhmischen Irrtümer sah, so wird Luthers Äusseerung verständlicher; immerhin erhebt er sich über die römische Beurteilung. Er gesteht sogar den Böhmen zu, dass sie die Schrift auf ihrer Seite haben (ebda. cf WA 6,504 = capt#54), böswillig hätten die Gegner die böhmische Lehre von der communio sub utraque als Ketzerei verschrien unter dem (208) Volk, "sonderlich an der Bemischen grentz" (ebda).  Geboten hat Christus keinerlei Gestalt, deshalb ist es falsch, sowohl bei den Böhmen wie bei den Römischen, nur die communio sub utraque bez. sub una für christlich zu erklären, aber wenn denn nun einmal die Böhmen "so schwach waren ynn yhrem glauben und gewissen, dass sie nit davon on ergerniss mugen fruntlich geweysset werden" (WA 2,80), so solle man doch den schwachen Bruder in Liebe tragen. Beistimmen kann er ihnen nicht in allen Punkten ihrer Lehre, er macht Differenzierungen. Er hat gehört oder gelesen, dass sie die bekannte Stelle Joh. 6,54 für den Utraquismus geltend machen, dazu habe man kein Recht, "dan der Herr sagt nichts vom sacrament an dem ort, sondern von dem glauben in Gottis und des menschen Kind, das ist Christum" (cf WA 6,80). -- er hat später dieses Urteil wiederholt (WA 6,502 = capt#37). Endlich weiss er "durch ein aussgelassen buch, das ich gesehen", dass ein Teil von ihnen "nit glauben, dass Christus' fleysch und blut warhafftig da sey". Diese "Pigharden" hält er für Ketzer und spricht das Ketzerurteil über sie: "gott erbarm sich über sie". Gemeint ist, wie aus nicht viel spätere Äussungen hervorgeht, die Brüderunität. Es geht wohl auch auf mündliche oder schriftliche Mitteilung zurück, wenn Luther das Wort des Meissener Bischofs: "Gehorsam sei besser dan opfer", auf denselben zurückspringen lässt mit dem Zusatz "dan eben denselben spruch furen die Bemen auch (209) widder uns und schelten uns ungehorsam dem Evangelio daryn beyde gestalt von Christo geordneth sei" (WA 6,139, cf 149; EA 27,81; n209). Spöttelnd hält er dem Bischof zum Narren: wenn denn nun das jüngste Konzil die communio sub utraque verdammt hat, nun gut, so galt sie doch vor demselben nicht als häretisch sondern als christlich. Soll sie nun seit 10 Jahren ketzerisch sein? Hütet Euch, vor den Böhmen Euch nicht zu blamieren". (WA 6,149).

Angerecht durch die Polemik der Gegner sah Luther sich zu eingehender Beschäftigung mit der Abendmahlslehre veranlasst; ihr Ergebnis wurde niedergelegt in der Schrift von der babylonischen Gefangenschaft (provocatus et exercitatus dabo libere quae sentio, WA 6,502 = capt#36). Bekanntlich äusserte hier Luther sich freier als bisher, freier als auch später. Die Freiheit seiner Auffassung spiegelt sich wieder im Urteil über die Pikarden, es ist milder geworden, fast anerkennend. Stufenweise lässt sich die Herabmilderung verfolgen, man sieht, wie er in seinen Studien langsam fortschreitet. Schon in der Antwort auf den Stolper Zettel, kaum einen Monat nach seinem scharfen Ausfall, nimmt er die Pikarden gleichsam in Schutz und spielt sie gegen den Bischof aus. Derselbe hatte es für gut befunden, die communio sub una zu rechtfertigen durch die Concomitanz. Luther spottet über die weise Vorsicht: wozu das sagen? Hat je jemand anders geglaubt? Sogar die Böhmen nicht. Denn wenn auch die Pikarden die Präsenz Christi unter irgend einer Gestalt leugnen, sagen sie doch nicht, dass er etwa auf die beiden Gestalten verteilt und somit nur sub utraque "ganz" sei (WA 6,139,149).  Das war ironisch gemeint und hiess eine Selbstverständlichkeit durch eine logische Unmöglichket überbieten; doch sieht man, dass er nicht nur Worte der Verdammung für die Pikarden hat. Ein halbes Jahr später, in der Schrift an den christlichen Adel, anerkennt er nahezu ihre Abendmahlslehre. "Wenn ich wüsste, dass die Pikarden keinen Irrtum hätten im Sakrament des Altars, denn dass sie (210) glaubten, es sei wahrhaftig Brot und Wein natürlich da, doch drunter wahrhaftig fleisch und blut Christi, wollt ich sie nicht verwerfen; denn es ist nicht ein Artikel des Glaubens, dass Brot und Wein nicht wesentlich und natürlich sei im Sakrament" (WA 6,456). Es fällt auf, dass Luther hier die Abendmahlslehre ganz anders wiedergibt als an den beiden früheren Stellen. Nach diesen sollte überhaupt Fleisch und Blut Christi nach pikardischer Lehre nicht im Abendmahl gegenwärtig sein, jetzt "unter" Brot und Wein. Offenbar hat Luther inzwischen sich genauer über die pikardische Abendmahlslehre informiert, se es durch eingehender Lehtüre der ihm bereits bekannten Litteratur, sei es durch mündliche oder anderweitige schriftliche Belehrung. Köstlin hat vermutet, die Schrift des Lukas von Prag von 1520 sei Luther zugekommen; das ist möglich, aber durchaus nicht sicher. Es thut nicht viel zur Sache, eine bestimmte Schrift namhaft machen zu können, wichtiger ist, dass thatsächlich die Brüderunität jenes "unter" in der Abendmahlslehre, und zwar vornehmlich durch Lukas' Einfluss, vertrat. Freilich im ganz anderen Sinne. So wie Luther meint, dachte die Unität längst nicht mehr, er hat sie misverstanden. Ihre Abendmahlslehre ist mannigfachen Schwankungen unterworfen gewesen, bald mehr bald weniger die Realpräsenz betonend in oft unklarer Mischung des sinnlichen und geistigen Genusses, niemals aber zum taboritischen Radikalismus fortschreitend, bis dann Lukas (211) von Prag unter offenbaren Einfluss Wiklifs die dreifache Distinktion des Brotes aufstellte, des natürlichen, geistlichen und sakramentlichen, und die substantielle Gegenwart Christi ausschloss, worin die Unität ihm folgte. Das mittlere, die gläubige Anegnung Christi ist das wertvollste, die beiden anderen sind Mittel zur Erlangung desselben. Bei dem sakramentlichen wird scharf die Transsubstantiation abgewiesen und die Wesenheit des Brotes betont, hingegen in unklarer Weise von dem Sein Christi im Sakrament geredet, "sakramentlich" sei Flesch und Blut Christi gegenwärtig, d. h. letztlich "geistlich mächtig und wahrhaftig" ("als der er höhte Herr und Regent im Himmel und auf Erden"), aber "unter" dem Brot und Wein, die um unserer sinnlichen Schwachheit willen als siechtbaren Zeichen gleichsam Anreizungsmittel sind. Soweit ist alles klar; eine Verwirrung aber bringt Lukas dadurch in seine Darstellung, dass er den Substanzbegriff auch für die geistige Präsenz verwertet und nur durch den Zusatz "sakramentlich" die letztere andeutet. Das, und, damit zusammenhängend, ein Wertlegen auf den äusseren Genuss von Wein und Brot mag Luthers Missverständnis erklären. Auch halte man sich gegenwärtig, das jene Distinktion für Luther etwas gänzlich Neues waren; wie er stets geneigt war, nach seiner eigenen Ueberzeugung, gleichsam nur durch die eigene Brille den Anderen zu lesen und Abweichendes nur da zu finden, wo es gar zu grob sich gab, so hat er auch hier kein Auge gehabt für die subtilen Unterscheidungen. Fleisch und Blut Christi sind präsent, das war ihm das Entscheindende; über das "wie" konnte dann nach seiner Meinung gar keine Frage sein. Und doch lag hier der Kernpunkt. Während für Luther die Substantialpräsenz feststeht und das "sub" nur unter Voraussetzung (212) eines "cum" und "in" acceptabel gewesen wäre, wird bei den Böhmen auf diese Präpositionen gar nicht reflektiert, und lässt sich das "sub" etwa mit "mediante pane et vino" wiedergeben. Was Luther unter "wahrhaftig Fleisch und Blut Christi" verstand, war der aus dem Himmel niederstiegende verklärte Christus, während die Böhmen diesen lokal bedingt dachten und die Präsenz von dem allmächtigen und allgegenwärtigen Christus als geistiger Grösse verstanden ("nicht auf seiende, natürliche, fleischliche Weise, sondern geistlich, sakramentlich, mächtig und wahrhaftig". Müller). -- Immerhin ist die besprochene Stelle Beweis, dass Luthers spätere Abendmahlslehre in ihrer scharfen Präzisierung der drei Präpositionen in der böhmischen Abendmahlslehre den Ansatzpunkt hat. Sie hat ihm das "unter" zugeführt, aus welchen bei Reflexion das "in" und das "mit" sich ergeben musste. Nachdem d'Ailli, wie Luther in de captivitate Babylonica bekennt, die bisherige Position ins Wanken gebracht hatte scheint es, als sollten die Böhmen mit ihrer Formulierung berufen sein, wenn das Wanken sich zum Stürzen vollendet haben wird, in die Lücke einzutreten. -- In de captivitate babylonicia ist das bedingende "wenn ich wüsste" fortgefallen, Luther anerkennt offen de Consubstantialität von wahrem Brot und Wein mit wahrem Leib und Blut Christi und zwar zugleich offen als böhmisch, so wie er es verstand, will es (213) ruhig gelten lassen, dass man ihn um diese Meinung willen als Hussit und Wiklefit verketzert; (sein königlicher Gegner in England hat nicht ermangelt, ihn daraufhin thatsächlich Hussit zu schelten). Damit ist der Höhepunkt erreicht. Freilich hält Luther wie früher daran fest, dass notwendig weder die communio sub una noch die sub utraque sei, aber sein missbilligendes Urteil über einen Zwang geht diesmal nur auf die Römlihge, nicht auch auf die Böhmen (WA 6,507 = capt#73; cf 456). Ketzerei sei an sich weder die römische noch die böhmische Lehre, aber wenn man denn einmal den Ketzertitel gebrauchen wille, so passe er besser auf die Römer, da jene auf das Evangelium sich stützten. "Die allerchristlichen und evangelischsten sind die Böhmen", so hat er, als man seine Aeusserung über die communio sub utraque in die Bannbulle aufnahm, sein Urteil bekräftigt (WA 5,198). -- Dass gerade das Constanzer Konzil die communio sub una für die Laien fixiert hatte, darauf hatte ihn Alveld gestossen, mochte er es auch selbst schon virher gelesen haben; von nun an rechnet er auch diesen Beschluss zu den thörichten Konzilsentscheidungen, und Hutten stellt sie unter die "Bäpst Satzungen gegen der Lehr Christi". In Worms, Cochlaeus gegenüber, hatte er noch einmal Gelegenheit, die communio sub utraque zu befürworten. --

Es war vorauszusehen, dass durch die Mitteilungen der Böhmen, -- jenes Schreiben der utraquistischen Pfarrer war nicht die einzige Gesandtschaft, Emser spricht voin "teglich post" zwischen Luther und den Böhmen, das war übertrieben, hatte zwar einen wahren Kern, "der Pfarrer zu Leitmaritz sampt (214) zweien Bürgern zu Leitmaritz auch vielmals Botschaft kamen zu ihm" (Löscher III 921) -- durch die Lektüre des Huss'schen Buches, sein Interesse an der Geschichte des hussitischen Ketzerprozesses rege werden würde. Er hat jetzt Flugschriften darüber gelesen, den tractatus cujusdam (ut putant) Boemi adversys tyrannidem Romanae curiae in utraque lingua, die epistola Poggii Florentini de morte Hieronymi ad Leonardum Aretinum (cf WA 6,185), Ulrich v. Richenthals "die deutschen Akta des Concilii mit den viel schilden", und wohl das Eine oder Andere mehr, zumal die Böhmen selbst ihn mit Litteratur versorgten. Nicht zum wenigsten hat er aus den Schriften seiner Gegner gelernt, die sich beeilten, teils allerlei Detail aufzutischen, um die Häresie Luthers zu demonstrieren, teils die Akten sprechen liessen, um die Rechtmässigkeit der Verdammung des Huss darzuthun. Im Wittenberger Frendekreis scheint der Huss'sche Prozess diskutiert worden zu sein, namentlich Carlstadt verrät genauere Kenntnis. Hier und da zerstreut, immer, bald apologetisch bald im engeren Sinn dogmatisch, religiösen Interessen angepasst, begegnen bei Luther Aeusserungen über die böhmische Bewegung. Wie aus but gewürfelten Steinen ein Mosaik, so lässt sich aus ihnen ein Bild komponieren, wie Luther sich die Vorgänge gedacht hat.

Über die böhmischen Parteiverhältnisse war Luther bisher im Unklaren gewesen, er hatte "Böhmen" und "Pikarden" synonym gebraucht. Jetzt haben ihn die böhmischen Freunde belehrt, dass die Gattung in verschiedene Spezies zerfalle, er kennt jetzt drei Parteien. Erstlich die Pikarden. Ihr Charakteristikum ist nicht sowohl die Praxis der communio sub utraque als vielmehr ihr "nit glauben, das Christus fleysch und blut wahrhaftig da sei und etlich mehr Ketzerstück". Nach seinen früheren Aeusserungen (215) darf man zunächst an ihre Leugnung des Fegfeuers und der Fürbitte der Heiligen denken; denn in diesen Punkten dachte Luther auch damals noch wesentlich konservativ. Die Pikarden sind die Brüderunität. An zweiter Stelle nennt er die Grubenhainer, die im Volksmund verrufenste Partei, "was die glauben oder halten, weyss ich nit". Gemeint sind die Taboriten. Endlich "die von beyder gestalt". Ihr Kennzeichen soll -- Genaueres ist ihm nicht bekannt -- lediglich der Utraquismus sein. Von Wichtigkeit ist ihm die Parteitrennung nichg gewesen; als er Reformvorschläge aufstellte, betrafen sie der "Böhmen Sache" wiederum allgemein (cf WA 6,454).

Die Geschichte des Constanzer Konzils stellt sich Luther dar als ein grosses Lug- und Trugwerk des Papstes, als tyrannis wie er einmal sagt (WA 6,184). Es ist charakteristisch, dass er ein Interesse fast nur für den Prozess des Huss hat; auch der Beschluss über die communio sub una tritt ihm hinter diesen zurück; mochte Prierias auf das Dekret über die Superiorität des Konzils über den Papst die Rede bringen, so geht er mit kurzer Glosse darüber hinweg (WA 6,334f), mit dem Punkte war er jetzt fertig. Das Constanzer Konzil ist kein "frei Concilium" gewesen, daher war es nutzlos (WA 6,258 = Cl 1,281,16). Der Curie wird zur Last gelegt alles, was dort zur Verderbnis der Kirche geschah. Wie der Gottlose im Psalmwort, hat der Papst auf dem Konzil "zerschlagn, zerkrümmet, zerfället den armen Haufen mit seiner Gewalt" (WA 8,717). "Das Evangelium oder die göttliche Wahrheit ist zu Costnitz öffentlich verdammt" (EA 10,53; WA 5,392). Hätte man die vom Apostel geforderte Milde und Lindigkeit walten lassen, so wäre das Unheil vermieden worden. So kommt es, (216) dass der Kaiser Sigismund durchweg bei Luther als der unschuldige "fromme" Fürst erscheint. Ihm waren durch den Papst die Hände gebunden; hätte er "frei dürfen handeln, wie er es im Sinne hatte", so wäre in Costnitz der "Bosheit weniger" geworden (WA 6,589). Der Geleitsbruch fällt lediglich dem Papsttum zur Last und rangiert in gleicher Reihe mit den päpstlichen Machinationen gegen Vladislaus von Ungarn und den Kaiser Maximilian bez. Ludwig von Frankreich. Gottesordnung über Papstordnung setzend verwirft Luther aufs Schärfste den Einwand, einem Ketzer brauche man das Geleit nicht zu halten -- da er ihn schon in die Zeit des Konzils verlegt, hat er ihn wohl einer schriftlichen Quelle entnommen. Der "arme" Kaiser hat trotz allem genug büssen müssen: möchte Kaiser Karl, so fügt er bei, nicht an ihm (Luther) ein Gleiches erleben! Es ist ihm nichts mehr geglückt, nicht nur, dass das böhmische Schisma sich an die Verdammung Hussens heftete, er ist ohne männliche Nachkommen gestorben, sein Enkel Ladislaus starb früh, sein Geschlecht ist untergegangen, seine Gattin Barbara stand in bösem Rufe. -- Die Gegenwart muss über Sigismund ein anderes Urteil fällen. Er hat freilich anfänglich versucht, Huss aus dem Ketzerprozess herauszureissen; als man ihm aber vorstellte, dass sein böhmisches Erbe durch jenen in Gefahr stehe, hat er sogar selbst auf Verurteilung hingewirkt. (217) "Er hat also die Zusagen, die Huss nach Constanz verlockt hatten, in aller Form gebrochen".

Doch es wäre verkehrt, diese Beurteilung Sigismunds lediglich als Rückwirkung seiner persönlichen schroffen Verwerfung des Papsttums bei Luther aufzufassen. Seine Zeit urteilte über Sigismund ähnlich wie er; sie sah in ihm nicht den Ketzerrichter, sondern den Reformator, der das grosse Reformkonzil zusammenrief, ja, wie man glaubte, selbst eine "Reformation" schriftlich aufgesetzt hatte. Man kannte dieses Schriftstück, Luther hat es wohl auch gelesen. Die Humanisten schätzten ihn als ihren kaiserlichen Gönner neben Maximilian, kurz, Luthers Urteil befremdete zi seiner Zeit nicht.

Luther hatte bei Erasmus gelesen, dass Huss wohl verurteilt, nicht aber überführt werden sei; in der Zuschrift der Kirchenpostille hat er es noch einmal wiederholt und die göttliche Notwendigkeit aus einer Prophezeiung, dass der Antichrist die Christen mit Feuer verbrennen soll, erkannt (EA 7,5), Doch Luther weiss jetzt genau, wie die Verurteilung vor sich gegangen ist. Hatte er in (218) Leipzig noch das Konzil in Schutz genommen und einem Fälscher die Christianissimi articuli zugeschoben, die in die Akten eingeschmuggelt seien, so erscheint jetzt das Konzil in Parallele mit dem Synedrium,l das falsche Zeugen aufstellte, um ein rechtmässiges Urteil zu erzielen. Vielleicht hat er in Poggios Brief gelesen, dass Hieronymus von Prag in seinem Verhör seinen Richtern entgegenwarf, sie dürften den Zeugen keinen Glauben schenken, zumal sie nicht aus Wahrheitstrieb, sondern aus Hass und Missgunst ihre Aussagen machten. Die persönliche Kenntnis von Hussens Schrift und ihr Vergleich mit den ausgezogenen Artikeln derselben in den Akten hat dann das Gelesene bestätigen lassen, vielleicht mag er auch um die Controversreden zwischen Huss und seinen Zeugen gewusst haben. Er verweist "klerlich" auf "schrift und buchle". -- Auch Detail aus den Verhandlungen ist Luther bekannt. Als man über die communio sub utraque debattierte, "da fur der Florentiner Kardinal erfur und sprach: Ach lasset die Bestien essen und trinken was sie wollen, sie wollen aber uns reformieren und recht lehre, da lasst uns streiten wider sie" (Auf des Bocks zu Leipzig Antwort). Bei der Verurteilung haben "heimlicher weyss" die "Junckherrn unternander drob beradschlagt placet? placet? placet? und also ist er durchs placet der ungelarten tyrannen hyngericht". Ausdrücklich beruft sich hier Luther auf "etlich akta" (WA 6,591). -- Über die verurteilten Artikel des Huss spricht sich Luther jetzt rückhaltslos anerkennend aus. In der Leipziger Disputation hatte er (219) vier hussitische Artikel als christlich anerkannt (WA 2,279f = eck04#3), in den Resolutionen hatten die vier sich in "viele" verwandelt (WA 2,406 = releip03#31), ebenso hatte er Eck geschrieben: "ich halte jetzt viel mehr Artikel des Huss als in Leipzig" (WA 2,702), und als die Bannbulle seine Aussage in Leipzig verdammenswert fand, revocierte er dem päpstlichen Willen folgend seine damaligen Worte: "Ich habe geirrt, nicht einige, sondern alle Artikel des Johann Huss, die man verdammt hat, sind evangelisch uhc christlich" und der Antichrist hat sie in jener "Satanssynagoge" -- absichtlich gebraucht er das Wiklifsche Wort -- verurteilt (WA 5,215; EA 24,134). In seiner Antwort auf die Wormser Revokationsartikel hat er das Urteil wiederholt (WA 7,612).

Luther hatte in der Leipziger Disputation und ihren Resolutionen dem Konzil d. h. faktisch der Curie die Verbrennung des Huss Schuld gegeben. Eck beeilte sich das "Konzil zu Constenz zu entschuldigen" (cf den Titel seiner Schrift WA 6,576) und in seiner prefiden Art Luther bei der Nation in Misskredit zu bringen. Huss sein verurteilt, ehe dne Papstwahl vollzogen worden sei, als die Entscheidung bei den Nationen stand; diesen, nicht der Curie, sei daher der Prozess aufzubürden. Luther musste im ersten Punkte seinen Irrtum eingestehen; was aber den zweiten angeht, so wälzt er doch wiederum die ganze Schuld auf die Curie, die den Kaiser bethört habe (WA 6,589). Hat ihm hier wohl Ulrich von Richenthal zur Prüfung der Eckschen Aussagen gedient, so hat der dort auch gelesen, was er von Huss' Tod erzählt: "Man hat die Erde mit der Asche ausgraben und in den Rhein geworfen". Die Verbrennung hat Luther als (220) etwas ungeheuerliches beurteilt; es ist die erste, welche er kennt, bisher ist man milder verfahren (WA 6,589). -- Doch in Wahrheit ist Huss nicht tot, seine Lehre geht nicht unter: "es hilft sie keyn damnen, kein schreyen, kein plerren, er ist forblieben und gerumet alltzeyt, wie noch keinem Ketzer widerfahren ist (WA 8,229). Man hat in ihm die Wahrheit Christi verdammt (WA 5,392), "die Christmörder in Costnitzer Konzil haben Huss angetastet", (EA 10,84) aber er hat die Papstgewalt definitiv umgestossen (EA 24,124).

Bekanntlich hat Luther in der Schrift an den christlichen Adel die böhmische Frage zu lösen unternommen; er konnte es nur auf Grund genauerer Kenntnis der Verhältnisse. Er hatte "gehört" (Anfang 1520), dass "die grösste sach sey das die Bemen geystliche guter haben zu sich bracht yn dem Schisma" und dass man römischerseits Rückgabe dieses Kirchengutes verlangt (WA 6,81). Zunächst giebt er -- analog wie in der Abendmahlsfrage -- beiden Teilen Unrecht, die sich im Streit um zeitliches Gut hätten vertragen müssen, ein halb Jahr später (wie gesagt, in der Schrift an den Adel) aber liegt die Hauptschuld bei den Römlingen, die Böhmen werden nur gelinde ermahnt. Luther will ihnen die "geistlichen Güter" belassen wissen. Die Forderung war kühn, wenn man bedenkt, welch ein gefährlicher Zündstoff für die Masse darin gelegen hatte und noch lag. Die Einziehung des Kirchengutes war der Punkt gewesen, an welchem sich die hussitische Propaganda am wirksamsten erwiesen hatte; hier war dem Hass der von der Pfaffenherschaft Bedrückten gleichsam ein greifbares Objekt gegeben, auf der Bürger und Bauern Kosten war die Kirche reich geworden, nun sollte sie das Geraubte herausgeben, damit es der Lage der Massen aufhelfe. So war die "hussitische Ketzerei" ein wirksames Moment der sozialen Bewegung (221) des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts. Hier kam die öffentliche Meinung Luther entgegen, und vielleicht hat er von ihr "gehört" über jenen Streitpunkt in Böhmen. Mit fast naiver Sorglosigkeit erhebt er dennoch seine Forderung, ohne zu ahnen, welche Waffe er damit dem Volke in die Hand drücken konnte; Murner hat es geahnt, wenn er in seiner Gegenschrift Luther an die Greuelthaten erinnert, unter welchen die Böhmen ihr Ziel verfolgten, wie sie "Munch und Pfaffen zu todt geschlahen" (Enders II, 520f). Die tief innerlicht religiöse Motivation hat LUther an jene eventuellen Folgen nicht denken lassen; wo es gilt Seelen zu retten, da sollte der Papst nicht eigensinnig auf irdischem Gut bestehen (WA 6,81, 547). -- Seine übrigen Reformvorschläge sind zumeist an den Satzungen des nicänischen Konzile orientiert. Luther fordert, man solle eine Kommission nach Böhmen schicken, um die Verhältnisse zu erkunden. Wenn er sagt "beilieb keinen Kardinal", so erfährt das eigentümliche Beleuchtung durhc die Thatsache, dass König Wenzel 1411 den Wunsch geäussert hatte, es möchte ein Kardinal mit päpstlicher Vollmacht zur Beilegung des Kirchenstreites nach Böhmen gschickt werden. Luther wünscht, der Papst solle sich jeden Eingriff enthalten: ein vom Volke gewählter Erzbischof soll die verschiedenen Parteien zu einen versuchen. In freischer Kühnheit warf er in der "Verklärung etlicher Artikel" etc. die Bemerkung hin, fast "wolt er persönlich hyneyn yn Behemen, vorsuchen, ob ich yhr eyns teyls mocht unter die eynickeit Romisch stuls und zum hauffen bringen" (WA 6,82). -- So hoch Luther Huss schätze, nie hat er den mit ihm getriebenen Kultus gebilligt (cf WA 6,455, 588). Man pflegte den Todestag des Märtyrers zu begehen, noch 1534 klagt Cochlaeus über diese "langeingeführte Gewohnheit". (222).

Anhangsweise sei hier des "Papstesels" gedacht, den Luther in der Predigt über den 2. Adventssonntag in der Kirchenpostille erwähnt, in welchem er eines jener Zeichen sieht, welche "die Sternmeister und Frau Hulde" nicht "aus natürlichem Lauf" zu erklären vermögen. Lange hat nachgewiesen, dass das bekannte Blatt mit dem Monstrum von Wenzel von Olmütz stammt, dem es aus Italien zukam, und hat es sehr wahrscheinlich zu machen vermocht, dass die böhmischen Brüder es nach Wittenberg zu Luther brachten. Er hatte dann angenommen näher, "dass bei einer der Sendungen, die Luther während des Sommers 1522 aus Mähren erhielt, sich auch der Kupferstick des Wenzels von Olmütz oder eine ähnliche Abbildung des römischen Monstrums befunden hat". Lange hat es für möglich gehalten, dass Luther schon Anfang 1521 in den Besitz jener Abbildung kam, aber keinen Beweis finden können. Derselbe liege in der Kirchenpostille nunmehr vor, und es wird wohl sicher angenonnen werden dürfen, das jener iuvenis eruditus, der ihm das Büchlein des Ulrich Velenus brachte, auch den Papstesel ihm gab. Es wird auch jetzt nicht mehr gesagt werden dürfen, dass Melanchthon der erste Deuter des wunderlichen Tieres gewesen sei und Luther späterhin seine Interpretation acceptierte. Luther giebt in der Postille die Deutung, welche Melanchthon späterhin weiter ausführte: "einen Eselkopf, eine Frauenbrust und -bauch, einen Elefantenfuss ander rechten Hand und Fischschuppen an den Beinen und einen Drachenkopf am Hintersten". "Darinnen das Papsttum bedeutet ist, der grosse Gottes Zorn und Strafe". In dieser Auslegung des Untiers waren die Böhmen Luther vorangegangen. Dass es ursprünglich um ein vom Tiberfluss bei der Ueberschwemmung ausgespieenes Ungetüm sich handelte, ist Luther noch bekannt gewesen. Nur die Jahreszahl 1496, die Melanchthon (223) später nannte, ist ihm nicht mehr erinnerlich, er sagt allgemein: vor kurzen Jahren".

So ausführlich Luther sich mit Huss beschäftigt hat, so wenig weiss er von Hieronymus von Prag und Wiklif, er hat sie gleichsam nur als Anhängsel zu Huss gewürdigt. Gelesen hat er von Wiklif sicher nichts. ebensowenig von Hieronymus. Von diesem erzählt er nur, dass er mit Huss verbrannt worden sei (WA 6,588; 5,221; 389; EA 7,5), was er von jenem weiss, hat er in den Konzilsakten gelesen; daher er nur von "articuli" Wiklifs berichtet (WA 2,633). Schon in de Leipziger Disputation hatte er einen Wiklifschen Artikel citiert und denselben mit Huss'schen Ansichten indeitifiziert. Ebenso hatte er Wiklif und Huss die Behauptung zugeschrieben, die Dekretalen seien apokryph, es war ein Wiklifscher Satz, den Luther in den Konzilsakten las. (Artikel 38 bei Harduin. Eck hatte erstmalig Luther denselben vorgerückt WA 2,643). Den Ausdruck Synagoge Satanae auf kurialistiche Institutionen bezogen entnahm er auch dorther; man hat ihn damals im Wittenberger Freundeskreise besprochen, Melanchthon schreibt, dass Wiklif zuerst die Universität also benannt habe. Als man Luther  seinen Satz: liberum arbitrium post peccatum res est de solo titulo in die Bannbulle setzte, widerrief er ihn in der Assertio omnium articulorum, ihn durch den absoluten Determinismus überbietend ausdrücklicher Beziehung auf Wiklifs zu Constanz verdammten Artikel; omnia (224) de necessitate absoluta eveniunt. Es ist Artikel 27 der verdammten Sätze Wiklifs, den er wörtlich wiedergiebt. Von einer Abhängigkeit etwa des Huss von Wiklif ist ihm nichts bekannt; die beiden stehen ihm nebeneinander (WA 8,717, 162; WA 7,146 = ass04#63 und die unten angegebenen Stellen), fast möchte man sagei ineinander, aber nicht nacheinander. Doch hat seine Zeit hier, soweit ich sehe, geradeso geurteilt. Weil beider Sätze auf dem Constanzer Konzil verdammt waren, war Wiklifit und Hussit gleichbedeutend, darum wechseln auch die Anklagen gegen Luther auf Wiklifitismus und Hussitismus ohne Unterschied ab. (cf WA 2,401; 6,508; 8,210; 273f; 286; 717; 5,231; 7,837). Die Lutherschen Worte: sive sit Wiclef sive sit Huss, non curo geben treffend die Sachlage wieder. --

Es ist ein mannigfach verschlungener Weg, den die Aeusserungen Luthers über die Böhmen den Untersuchenden gehen lassen. Gerade dadurch dass sie nicht bei Seite stehen gleichsam als fremdes Gut, sondern als persönlichster Besitz mit seinen innersten Empfindungen verbunden sind, haben sie etwas Bewegliches, Wechselndes, selbst Sprunghaftes an sich; sie machen die Schwankungen mit, welche durch Einreden der Gegner, Wandelungen der Beurteilungsweise auf Grund eigener Erfahrung bei Luther hervorgerufen werden. Als Richtlinien heben sich deutlich heraus die Leipziger Disputation und die Lektüre von Huss de ecclesia. Jene liess die erste Sympathie lebendig werden, diese wandelte die bisherige antithetische und negative Verwendung Hussscher Sätze um in die positive Billigung und Vertretung derselben. In der frühesten Zeit sahen wir Luther ganz auf dem Boden seiner Kirche stehen. Doch berührt eine gewisse Noblesse der Beurteilungsweise wolhthuend. Gewiss spart er keinde Schärft, um die Ketzerei der Böhmen zu verurteilen, aber die Strenge erniedrigt sich niemals zu gemeiner Schimpferei, wie das bei Emser u. a. der Fall ist. Hier scheut man sich nicht, die alten Lästerungen der Christenverfolger auf ödipodeische Vermischungen und thyesteische (225) Gastmähler gegen die Grubenhainer wiedr aufleben zu lassen. Luther hat um diese Schmähungen wohl gewusst, er hält es für nötig, daran zu erinnern, dass die Böhmen "Menschen seien und kein Vieh" (WA 2,287 = eck05#28f; 665), und hat von Anfang den Gedanken gehabt, dass sie durch Güte und duldsames Entgegenkommen wiedergewonnen werden könnten.

Gegnerischerseits hat man die bedeutende Schwenkung Luthers in seinem Verhältnis zu den Böhmen wohl bemerkt; dafür zeugen nicht nur die nach der Leipziger Disputation wie Pilze aus der Erde schiessenden Schmähungen auf Hussitismus, Heinrich VIII. von England hat ihm in aller Form vorgehalten, dass er nunmehr dasselbe thue, was er früher an den Böhmen verabscheut habe -- er datiert den Umschwung von de captivitate babylonica. Dungersheim sagt ihm schon unmittelbar nach der Leipziger Disputation: "kurz vorher noch hast Du in Deinen Schriften mehr als einmal die Pikarden sichere Ketzer genannt, jetzt spricht Du ihren Patron" (Enders II 176).

An Quellenkenntnis erhebt sich Luther kaum über den Durchschnitt, Eck ist ihm darin überlegen gewesen, er schaltet mit (226) den Quellen in einer sachkundigen Weise, wie sie Luther nie besessen hat. Auch Emser steht Luther nicht nach, ihm ist Gerson und Antonius voin Florenz Hauptquelle für das Konzil, die Luther ja auch beide gekannt, aber nicht für das Constantiense als Quelle benutzt hat. Alveld citiert nach den Konzilsakten. Dass Luther Hussens de ecclesia früher kennen lernte als Freunde und Gegner, verdankte er böhmischer Liebenswürdigkeit, nicht eigenem Forschungseifer. Freunde wie Gegner haben sich alsbald beeilt, den Vorsprung, den Luther hier hatte, einzuholen. Die Kenntnis Poggios und einzelner Flugschriften ist auch nichts Aussergewöhnliches. Die Originalität Luthers liegt nicht in dem Material, welches er hatte, sondern in der Verwertung desselben. Das führt hinüber zu einer zusammenfassenden kritischen Betrachtung seiner Stellung zu Huss.

Zum Ausgangspunkt sei genommen eine Aeusserung Luthers in der Assertio omnium articulorum, die Stelle, an welcher Luther am klarsten sich über Huss ausgesprochen hat (WA 5,216; 7.,135 = ass04#1ff). Er beginnt damit, alle zu Costnitz verdammten Artikel für christlich zu erklären, sieht damit also nochmals in Huss das Evangelium wieder aufgelebt. (WA 7,612). Aber sich selbst setzt er doch nicht mehr völlig auf die gleiche Stufe mit Huss, sondern eine Stufe höher. Es ist nicht richtig, sagt er, mich einen Hussit zu nennen: denn Huss hat viel Geringeres und weniger gesagt (minora et pauciora). Huss ist nur der Anfänger einer Offenbarung der Wahrheit. (velut inchoans lucem veritatis aperire). Er hat freilicht "nicht (227) wenig dem römischen Idol und seinen teuflichtn Statuten genommen", aber nicht genug. Er ist stehen geblieben auf einem Standpunkt, den Luther früher eingenommen hatte (conatus enim fuit vir ille ... id quod et ego in principio conabar), nämlich die Kirche von dem Boden des geistliches Rechtes aus zu reformieren (ut decretis papalibus veritatis opinio salva maneret); das war unmögliche Aufgabe, daran musste er scheitern (at iis salvis ipsum perire necesse erat). Nun präzisiert Luther das Zurückbleiben des Huss auf folgende Punkte: er hat einen gottlosen Papst zwar nicht mehr als membrum ecclesiae gelten lassen, aber dennoch dulden wollen wie jeden Tyran; Luther aber negiert nunmehr den "Sitz der Bestie" überhaupt, es soll kein Papsttum mehr existieren, sodass die Frage nach der sittlichen Qualität seines Trägers hinfällig wird. Ferner nennt Huss die Dekretalen nur "apokryphisch", nicht "gottlos und christwidrig" und des Verbrennens wert. "Vielleicht" -- diese Zurückhaltung ist beachtenswert, es kündet sich hier an das innere Ringen Luthers auf der Wartburg über die vota monastica und den Cölibat -- hat Huss auch darin gefehlt, dass er 12 consilia evangelica aufstellte, wo es doch nur ein solches giebt, die virginitas sive coelibatus". (ass04#7) "Doch, so fügt er entschuldigend bei, in diesem Punkt hat er sich durch Thomas und die Thomisten täuschen lassen". Kurz: "war vortrefflich war an Huss, haben sie verdammt, was aber nicht gut war, gebilligt. So nehme ich meinerseits die verdammten Artikel von Huss auf, aber alles von Huss, wenn auch seine Richter es billigten, lasse ich nicht zu". --

Hier ist ebenso bedeutsam, was gesagt ist, als was nicht gesagt ist. Denn welche Punkte aus den verdammten Artikeln des Huss ihm besonders wertvoll sind, lässt sich auf Grund seiner (228) Rechtsautorität des Papsttums, nämlich die Aufstellung des "Gesetzes Christi", wie es im alten und neuen Testamente enthalten ist, als höchster Norm bei Luther sich findet, freilich als Konsequenz eines anderen massgebenden Gedankenkreises, des Evangeliums von der freien Gnade, nicht als selbständiges Ganzes. Aus der Inkongruenz der biblischen Forderungen mit dem Papsttum, wie es sich gab, ist auch Luthers Polemik gegen dasselbe hervorgegangen, und mehr wie einmal hat Luther Beispiele aus der Geschichte für päpstliche Unsittlichkeit herangezogen und -- genau wie Huss -- gerade daraus die Widerchristlichkeit des Papsttums bewiesen (Huss rekurriert wiederholt auf die Sage von der Päpstin Johanna, cf de ecclesia 138 und 98).

Aber hat nun Luther Recht, wenn er sagt, Huss habe den Papst dulden wollen, wie man einen Tyrannen duldet, und ist es wirklich ein Mehr gegenüber dem Weniger, wenn er seinerseits das ganze Papsttum beseitigt wünscht, handelt es sich nicht vielmehr um eine Verschiedenheit der Gesichtspunkte, die letztlich in einen Gegensatz ausmündet? Luther setzt Huss auf den Standpunkt, den er selbst früher gehabt hat, dass um der Ordnung willen das Papsttum bestehen bleiben könne, ohne Autorität in Heilssachen, wohl aber in Sachen der Disziplin. So denkt aber Huss thatsächlich nicht. Denn diese ihm von Luther zugeschobene Auffassung setzt die Negierung der Bedeuting der empirischen Kirche als Mittel zur Heilserlangung voraus; gerade diese aber hat Huss nicht vertreten. Für ihn hat die "Kirche" eminente Bedeutung, darum ist für ihn auch jene Gleichgültigsetzung des Papsttums unmöglich, er kennt hier nur ein Entweder-Oder, nicht ein Nebeneinander durch Trennung der Wirkungssphären. Indem Huss die lex Christi als absolute Norm der Zugehörigkeit zur Kirche fasst, kann ihm der Papst nur dann Papst sein, wenn er jener Norm gemäss lebt. Thut er es nicht (231) -- und dadurch, dass schon die weltliche Herrschaft dem Gesetze Christi zuwider ist, ist es faktisch perpetuell so -- dann sind alle Mittel anzuwenden, ihm die prätendierte Autoritätsstellung zu nehmen, von einem "tragen" ist da keine Rede mehr, ebensowenig von disziplinarer Oberhoheit. Hier kommt Huss thatsächlich --  freilich auf ganz andere Wege -- bei demselben Ziele an wie Luther. An diesem Punkte hat Luther den Böhmen unterschätzt. Es wird sein Blick vorzüglich an den Stellen gehaftet haben, an welchen Huss jene bedingte Anerkennung des Papsttums ausspricht, die Luther von seinen Standpunkte aus nicht anders mit der Leugnung des Papsttums iure divino in Einklang zu setzen vermochte als dadurch, dass er eine Anerkennung iure humano unterschob. Dadurch, dass Huss die empirische Rechtsordnung der Hierarchie als notwendiges Mittel für die Einheit der Kirche (in umfassendstem Sinne) verwarf, glaubte sich Luther zu der Annahme berechtigt, er wolle überhaupt der empirischen Kirche keine Bedeutung für die Heilserlangung mehr zusprechen. Das war ein Irrtum. Er übersah, dass das Papsttum, dem er (mit Huss) das ius divinum absprach, eine ganz andere Grösse war als das Papsttum, welches Huss bedingt anerkannte. Für ihn handelte es sich beidemale um die Hierarchie, für Huss nur im ersten  Falle, im zweiten hingegen um einen -- allerdings partikularen -- Bestandteil der empirischen Kirche, sofern sie als sittliches Gottesreich Mittel ist für die Erlangung des Heils.

Vergegenwärtigt man sich dieses, so ergiebt sich, dass Luther zu zwei Punkten den Kirchenbegriff des Huss misverstand: erstlich übersah er die Bedeutung der empirischen Kirche für ihm, sodann die Spezialisierung derselben als sittlicher Gemeinschaft des Reiches Gottes. Beide Punkte hängen aufs Engste zusammen. Luthers Interesse haftet an der Huss'schen Definition der Kirche als ecclesia una quae est praedestinatorum numerus. Alle die sich an diese Definition knüpfenden Bestimmungen, dass die Kirche Glaubensobjekt, universal sei, nicht aufgehe in organisierten Rechtsanstalten, waren ihm wertvoll. Jene Definition war für (232) sein Bewusstsein notwendige direkte Ergänzung der Leugnung des Papsttums iure divino, für Huss war sie es nur mittelbar, sofern sich die empirische Kirche zwischenschob. Damit aber wird die Bedeutung jener ideellen Grösse bei beiden eine ganz andere. Huss sieht in ihr gleichsam ein über den Gläubigen Schwebendes, welches die geheimnisvolle Einheit derselben ist, von der man wohl allgemein die Bedingung zur Zugehörigkeit feststellen kann -- das Prädestiniertsein -- ohne derselben aber persönlich gewiss zu werden, sodass man auf die vermittelnde Hülfe der empirischen Sakramentskirche angewiesen ist. Für Luther aber fällt diese Vermittlung fort, weil ihm die congregatio fidelium nicht mehr wesentlich als ein zu erstrebendes, vor dem Gläubigen liegendes Ziel erscheint, sondern eine reale Gemeinschaft bereits gewiss sind. Luther lässt also den Kollektivbegriff nur gelten als Zusammenschluss der des Heils gewissen Individuen, während bei Huss der Kollektivbegriff für die Individuen überhaupt nie praktisch wird, es sei denn als Lockmittel, zum Sakramentgebrauch anzuleiten. Dass aber Luther jene Zwischenschiebung der empirischen Kirche zwischen das Individuum und den geistigen Kirchenbegriff übersehen konnte, mag dadurch begreiflich werden, dass ihm selbst die congregatio fidelium nicht als ecclesia invisibilis in schroffer Trennung neben und über der empirischen Gemeinde stand, sondern in Wort und Sakrament ihr erkennbares Zeichen für den Gläubigen besass, für diesen real, "empirisch" auf Erden existierte und aus dieser Gemeinde heraus aus dem Worte geboren wurde. Diese Verbindung zwischen congregatio fidelium und empirischer Gemeinde glaubte er wiederzufinden, wenn Huss die empirische Kirche als Mittel für die Erreichung der Einbeziehung in die ideale hinstellte; dass hier thatsächlich schroffste Differenz, sowohl in der Fassung der Empirie wie in der Mittlerbedeutung der Gemeinde vorlag, entging ihm.

So ist also die Uebereinsstimmumg zwischen Luther und Huss wesentlich formell, beide kennen einen ideellen Kirchenbegriff, (233) bestimmen ihn aber unterschiedlich und vindicieren ihm durchaus verschiedene Bedeutung. Schon die Bedingung der Zugehörigkeit ist hier wie dort nicht die gleiche, bei Huss die Prädestination, bei Luther der persönlichen Glaube. Und gerade um dieses persönlichen Glaubens willen fällt die Bedeutung der Sakramente als Kanäle gleichsam der einzugiessenden Gnade, -- der Standpunkt der Macht der empirischen Kirche für Huss -- für Luther dahin. Allerdings wird vom Glaubensbegriff aus andrerseits verständlich, wie Luther die Differenz in der Fixierung jener Bedingung entgehen konnte. Je nach der Antithese nämlich wechselt sein Glaubensbegriff. Gilt es ihn gegenüber der magischen Wirksamkeit der Sakramente zu betonen, so erscheint er als Persönlichkeitsthat, steht er aber der Werkgerechtigkeit gegenüber, so ist er lediglich That Gottes bez. der Gnade (cf z. B. WA 5,460 mit 8,157, 169). Die Antinomie zwischen dem Thun Gottes und dem Thun des Menschen hat Luther in unserer Zeitperiode nicht gelöst, weil er sich an überkommenen Begriffen orientierte, die es zu bekämpfen talt. Die Verfolgung der zweiten Linie aber führte zur Prädestination, und Luther hat dieselbe in unserem Zeitabschnitt nie bekämpft, vielmehr führte seine ganze Gedankenentwicklung notwendig zu derselben hin. Hat er nun ausdrücklich sich auf Wiklif, der ihm mit Huss rücksichtlich der Lehre identisch war, berufen, um die absolute Determination der Willenshandlungen zu erweisen, so kann es nicht befremden, dass er seine eigene Meinung in der Huss'schen Definition ecclesia = numerus praedestinatorum wiederzufinden glaubte.

Und wie steht es mit der Konsequenz des allgemeinen Priestertums? Huss kennt sie nicht, kann sie nicht kennen, da er ihre Voraussetzungen nicht kennt. Indem er der empirischen (234) Kirche heilvermittelnde Bedeutung zuschrieb, hat er dieselbe gut katholisch im Priestertum als dem Verwalter der Sakramente konzentriert, ja, er war so inkonsequent, während er sonst das sittliche Leben nach der lex Christi als Bedingung der Verwirklichung der wahren Kirche fasst, nicht darauf zu reflektieren, ob nun etwa bei einem Priester die Gutbeschaffenheit nur heuchlerisch war, weil das Wesentliche doch wieder die von ethischen Qualitäten unabhängige rite vollzogenen priesterliche Funktionen waren. Wie konnte ihn da Luther misverstehen? Zunächst schon deshalb, weil er ihm seinen Kirchenbegriff unterschob, aus dem jene Lehre resultierte. Dadurch wurde es möglich, die Befugnisse, die Huss thatsächlich dem Laien zuschrieb im Sinne des allgemeinen Priestertums zu deuten. Huss gibt dem Laien das Recht, im Falle der Not zu taufen, auf Grund der lex Christi dem mit ihr nicht in Einklang stehenden Priester, Bischof oder Papst zu massregeln und will dementsprechend das Binden und Lösen nicht ohne weiteres dem Priester als Priester zugesprochen wissen. Hier waren Ansatzpunkte für Luther, den Sondercharakter des Priestertums bei Huss verschwunden und die Laien zu Priestern heraufgehoben zu sehen. --

Indem nun aber Luther die Bedeutung der empirischen Kirche für Huss übersah, entging ihm, dass dieser sie näher als sittliches Gottesreich fasste, und so konnte es ihm begegnen, dass er die böhmische superbia, heilig sein zu wollen nicht mehr tadelt. Er hat auch hier mit seinen Augen Huss angesehen und so in der inneren Glaubensstimmung das Konstitutive der Zugehörigkeit zur Kirche bei Huss gesehen, nicht in der sittlichen Qualität. Dass vollends eine Inkongruenz vorlag bei dem Böhmen zwischen seiner Definition der Kirche als numerus praedestinatorum und als sittliches Gottesreich, hat er nicht bemerkt. Freilich lag ein Ansatz vor, es zu bemerken, darin, dass ihm das Halten der consilia evangelica auffiel. Aber er vermochte diesem Einzelpunkt (235) nicht seine Stellung im Gesamtorganismus des hussitischen Systems anzuweisen, er erschien ihm als Rest der Tradition bei Huss. --

So ergiebt sich das merkwürdige Schauspiel, dass Luther Huss an dem Punkte, in welchem seine Grösse liegt, unterschätz hat, hingegen da, wo dieser genuin katholische Ideen wiedergab, bedeutend überschätze. Er hat den Schlüssel zum Verständnis der Abweichung das Huss von traditioneller Lehrweise gesehen in dem Gedanken, die Kirche sei Gemeinschaft der Prädestinierten und hat diesen mit seinem Kirchenbegriff und seinen Konsequenzen identifiziert; er hat nicht bemerkt, dass es sich hier um Ideen handelte, welche seine Kirche seit Augustin nie verleugnet hatte. Doch wird man zu seiner Rechtfertigung sagen dürfen, dass Theorie und Praxis in derselben sich nicht deckten, dass sie im praktischen Leben die empirische Kirche so stark betonte, dass der Zweck, dem diese als Mittel diente, die Einverleihung in das corpus Christi mysticum zurücktrat, so stark zurücktrat, dass Luther eine reformatorische That da zu sehen glauben konnte, wo jener Zweck in hellstes Licht gesetzt und zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht wurde. Schon bei Augustin war es ihm ähnlich gegangen, er hat ihn nicht verstanden, darum auch Huss nicht, der sich -- in korrekter Weise -- auf diesen berief. Dass nun aber diese Betonung der geistigen Einheit bei Huss dem Papsttum einen tötlichen Stoss versetzte und in Verbindung mit dem Begriff der Kirche als sittlichen Gottesreiches dasselbe, wie es thatsächlich war, beseitigte, diese neue, reformatorische That des Huss hat Luther nicht zu würdigen verstanden.

Indem Luther den Böhmen und mit ihm den Briten eine Stufe tiefer als sich selbst innerhalb der historischen Entwicklung setzte, hat er sie schlechthin als "Vorreformatoren" bezeichnet und jene Schätzung des Huss und Wiklif herbeigeführt, die in der evangelischen Kirche herrschend geblieben ist, bis in der jüngsten Vergangenheit in der scharfen Fixierung des reformatorischen Kirchenbegriffs ein neuer Schlüssel zum Verständnis jener gefunden (236) wurde. Nunmehr erscheinen in dem Glorienscheine der Märtyrer evangelischer Wahrheit, sondern als Reformer auf dem Boden katholischer Anschauungen, und auch dem Konstanzer Konzil wurde eine gerechtere Beurteilung zu teil, als sie Luther Von seinen vorgefassten dogmatischen Ideen aus zu geben vermochte.

XI. Tauler.

Kapitel 14.Bernhard von Clairvaux

In den Anfechtungen seiner Klosterzeit hat, soweit wir wissen, Bernhard von Clairvaux erstmalig für Luther Bedeutung gewonnen. (302) Autoritäten seiner Kirche gaben dem unter dem Kampfe um die Erprobung ihrer Erlösungsmacht Niedergebeugten tröstende Aufrichtung. War eine dieser Autoritäten das kirchliche Bekenntnis, so eine andere der wohl neben Augustin im Volksbewusstsein und in den Schriften der Gelehrten am meisten gefeierte, mit dem Zauber des Idealmönchen nicht minder wie mit dem des Achtung findenden und fordernden Kirchenfürsten ausgestattete Bernhard. Derselbe Klosterbruder, der ihn an den Glauben an eine Vergebung der Sünden erinnerte, wies ihn auf eine Predigt Bernhards, in welcher das apostolische Wort von der Rechtfertigung aus Gnaden angeführt wurde (cf Hering: Die Mystik Luthers S. 6). --

Vielleicht ist dieser Hinweis Anlass geworden, dass Luther Schristen Bernhards las; seine erste uns überkommene litterarische Arbeit verrät die Lektüre, und ihr Einfluss bewegt sich in der Richtung, die der weise Pädagog im Kloster angegeben hatte. Die Glaubensgewissheit aber umschloss für Luther dank der persönlichen Erfahrung die qualvolle Vernichtung des eigenen Selbst, und dieser uns wohlbekannte Gedanke des wechselseitigen Widerspiels des alten und neuen Menschen klingt durch seine Citate aus Bernhard durch. Das heisst aber soviel, dass ihm dieser zuerst als Mystiker, so wie Luther die Mystik verstand, entgegentrat. --

"So du anfängst besser zu werden, hörst du auf, gut zu sein, sagt Bernhard", schreibt Luther über den Anfang des 4. Psalmes (WA 3,46, cf. WA 4,364) zur Lösung des Problemes, welches derselbe in der unmittelbaren Folge von dankbarer Gewissheit über die zugesagte göttliche Hülfe und dem dringenden Miserereruf dem Exegeten bot. Damit man nicht träge werde und sicher durch den erfahrenen Trost -- quae est pessima tentatio -- dringt der Psalmist sofort wieder auf Gebet um Hülfe. Nur durch beständige ruhelose Aktion im Kampf (303) gegen sich selbst (semper sumus in motu, semper iustificandi, qui iusti sumus ... non est status in via dei, ipsa mora peccatum (WA 4,364, cf WA 1,649, cursus et non status.) kann man den Heilsprozess zu glücklichen Ende zu führen hoffen -- der bekannte Gedanke mystischer Entwerdung in Lutherscher Prägung. Das gelegentlich gesprochene, die zu einer Versammlung zusammengetretenen Aebte zum Pflichteifer anspornende Wort des Heilige vertieft sich Luther zur religiös-ethische Norm. Denselben Gedanken variiert er in der Sentenz: "Wer nicht beständig zur Busse eilt, zeigt dadurch, dass er der Busse nicht bedarf" (WA 1,653 = lutpri01#56; WA 3,105; cf Sermones in Quadrag. III 3, Migne 183,175). Als er in seiner ersten These ihn öffentlich ausgesprochen, aber der Dominikaner Peierias ihm entgegenhielt, der Mensch könne doch nicht immer Busse thun, gab er ihm unter Wiederholung der erstgenannte Stelle die Form: auf dem Wege Gottes stille stehen und nicht weiter gehen, heisst rückwärts gehen" (WA 1,649 = lutpri01#23; cf Ep. 385, f. 254,4. Migne 192,461). Der Gedanke kehrt wieder in einem anderen der Interpretation des 6. Verses des 91. Psalmes sich anschliessenden Citat. Es erscheint dort unter den Feinden, den Versuchungen, über welche nur der Glaube hinwegheben könne, neben der pussilanimitas ad viam dei inchoandam propter adversitates imminentes, der cupiditas seu avaritia, der singularitas sub specie boni magnum malum inferens -- keine dieser tentationes ist uns fremd -- auch die vana gloria de incepta vel adepta sanctitate (WA 4,74). Ihr und den (304) anderen Anfechtungen gegenüber gilt es in humilitate proficere. Gleichsam 4 Stationen auf dem Entwerdungswege, die man nach einander passieren muss, sind diese, alle -- die erste nicht ausgeschlossen -- um die Herausstellung des Ich sich gruppierenden Gefährdungen. Die von Luther gebrauchten termini finden sich im Anschluss an das Psalmwort alle wörtlich bei Bernhard (cf Sermo in Cant XXIII. Migne II. S. 957), nur -- es ist das wohl nicht ganz bedeutungslos -- fehtl bei Luther die bei Bernhard deutlich hervortretende Beziehung der pusillanimitas auf die Furcht vor dem Eintritt in einen Mönchsorden propter insuetae austeritatem disciplinae. Die Exemplifizierung dieser Anfechtungen an den Versuchungen Christi, die Luther anschliesst, findet sich auch bei Bernhard. Uebrigens führt Luther in den Scholae nur näher aus, was er mit kurzer Notiz der Auslegung des Faber Stapulensis, die ihm als Präparation für die eigene diente, an den Rand geschrieben hatte (WA 4,510f). --

Was für den einzelnen gilt, überträgt Luther auf die Kirche; auch ihr ist die Ruhe nicht tauglich (WA 3,417), ut Bernardus ait, ecclesia fuit amara sub tyrannis, amarior sub hereticis, amarissima sub pacificis et securis. Frei giebt Luther Bernhards Worte wieder(cf In Cant. sermo XXXIII Migne 183,959), seine Anknüpfung an Jes 38,17, mit welcher Stelle er sein Urteil einführt, hat er ihm entnommen. --

Ist also die Unruhe dem Christen förderlich, so muss für ihn Bernhards Wort gelten, für das bei den römischen Klassikern sogar Luther eine Parallele aufzuzeigen weis: nunquam minus solus quam cum solus sum (WA 3,481). Die Kirche kennt solche Menschen, sie sind, wie wiederum Bernhard bezeugen muss (In Cant sermo XXVII, Migne 183,920; das Citat ist von Luther wörtlich wiedergegeben), (304) ihre Zierde, verherrlichen Gottes Ruhm auf Erden, schön wie die Felle Salomos. Bernhard selbst gehört zu ihnen, er weiss davon zu sagen, wie wunderbar die Thränen der Ergebung und Hoffnung -- in charakteristischer Zusammenstellung! -- die Seele erquicken (WA 3,233). --

Aber trotz des Segens der Unruhe giebt es für den Mystiker doch einen Ruhepunkt: Christus. Indem es die kirchliche Tradition erforderlich macht, in den mystischen Erlösungsprozess, der an sich einer besonderen innergeschichtlichen Erlösungsthat entraten könnte, das Werk Christi einzuschieben, wird jener nach der religiösen Seite hin verstärkt durch die Betonung der Sündhaftigkeit bez. auf der anderen Seite der Erlösungsgewissheit. Christus erscheint als der Befreier von der Sündenmacht, deren dem Individuum fühlbare Subjektivität für Bernhard nicht zurücktritt hinter der Fassung als gleichsam kompakter Masse, und so kann der Mystiker in Devotion vor Christus, insbesondere seinen Wunden, seine Befreiung geniessen. Für diese Gedankengänge führt Luther Bernhard als Zeugen an. Anima secundum Bernhardum non habet requiem nisi in vulneribus Christi, Christi Wunden sind das Nest, in dem der unruhig hin und her flatternde Vogel sich niedersetzen kann (n305). Die Welt kennt freilich diese göttliche Gnadengabe in Christus nicht, darum hat sie ihn auch gekreuzigt und der Predigt seiner Apostel sich widersetzt, ut pulchre Bernhardus in quodam sermone meditatur (WA 3,175, cf Migne 182,244 oder 183,685ff). Der aber, dem Gott sich genahet hat, ist dadurch auf den Gipfenpunkt (306) der Erkenntnis gelangt: intelligam, quando venies ad me (WA 4,134, cf Sermo in Cant LXIX, Migne 183,1112f, oder Sermo LXXXIV S. 1184f), einer Erkenntnis also nicht durch Spekulation, sondern durch die innere Erschliessung Gottes an den Gläubigen. Dem entspricht es, wenn Luther meint, zwar die Macht und Weisheit Gottes könne man sehen, ohne sie gespürt zu haben, aber die Güte Gottes müsse man erfahren, sonst könne man sie nicht sehen, geschweige denn ihr glauben und vertrauen. Si quis animam Bernhardi haberet, hic versum istum bene saperet (WA 3,186); d. h. mit anderen Worten: der natürlichen Vernunft ist eine gewisse Kenntnis Gottes allerdings möglich (cf dazu Kirchenpostille EA 10,2 S. 188ff), aber gleichsam eine tote, man kann erschliessen, dass er mächtig und weise ist, wie das ja auch des Teufels Glaube ist, aber sein innerstes Wesen muss er offenbaren, die Kenntnis davon ist lebendigstes subjektives Erlebnis. Ita ut recte B. Bernardus dixerit, quod delicata est consolatio divina et non datur admittentibus alienam (WA 4,331; cf Migne 183,219). In dieser Erfahrung Gottes aber ist zugleich beständige Selbstverdammung mit gesetzt -- damit ist der Zirkel geschlossen, um von neuem zu beginnen. Unde b. Bernardus: o felix anima, quae in conspectu Dei seipsam semper iudicat et accusat. Si enim nos ipsos iudicaremus, non utique a Deo iudicaremur (WA 4,198, cf Migne 183,47). --

Die Gedanken, die er noch vor der entscheidenden Wendung im Jahre 1517 für den eigenen Vortrag niederschrieb, konnte Luther ohne Aenderung wiederholen, als er 1519ff seine Psalmenvorlesung dem Druck übergab. Die Form freilich hat sich gewandelt, von den früheren Citaten begegnet nur eins wieder, aber der Inhalt ist geblieben. Wiederum wird als Erfordernis die innere Unruhe hingestellt -- nunquam minus solus sum, quam dum solus sum (WA 5,286, cf Migne 83,984f) -- wiederum als die schwerste Versuchung das (307) Ausruhen auf eigenen Leistungen bezeichnet (cf WA 5,136, cf Migne 83,200), wiederum ist Christus die Quelle des Heils, daher es heisst: "Küsset den Sohn" d. h. seid Christo unterworfen in höchster Demut (WA 5,72, cf Migne 183,795), wiederum muss Gott seine Barmherzigkeit in Christo offenbaren und dann erlangt der also in Demut sich hingebende die höchste Erkenntnis -- alles sonstige Wissen von Gott ist als "spekulativa" tot -- und wiederum muss diese Erkenntnis in Wechselwirkung stehen mit dem richterlichen Urteil über sich selbst, durch die humilitatio wie Bernhard sagt, führt der Weg zur Tugend der humulitas (cf WA 5,508, cf Migne 193,969ff). --

Man wird erkannt haben, wie sehr Luthers Psalmenauslegung unter Bernhards Einfluss steht, obwohl er ihn eingangs unter seinen Quellen nicht nennt (WA 5,22). Bernhard ist ihm gleich Augustin Musterinterpret der Psalmen (cf WA 5,47), wie dies wiederum ihre ganze Kraft an ihm bewährt haben: video D. Bernhardum omnem suas (308) eruditionis copiam hinc hausisse (ebda.). Ein Blick in Bernhards Schriften lehrt die Richtigkeit dieses Ausspruches. --

Die Gedankenfolge, wie wir sie aus den Psalterauslegungen zusammensetzen, ist Luthers übrigen Schrift nicht fremd. Bernhard selbst muss ihm als Beweis dafür dienen, dass der Mensch vor Gott nichts Anderes geltend machen könne als seine Nichtigkeit und sein gedemütiges (humiliatum) Herz (cf WA 1,323, 534, cf WA 8,450, 528, 658. cf Migne 185,419). Er spielt Bernhard gegen Aristoteles aus, weil er sagte: "wir können wollen, aber nicht wohl wollen" d. h. er nimmt Bernhard für die Anschauung der totalen Willenskorruption in Anspruch. (WA 9,137 cf Migne 182,1010. Das Citat im Text ist falsch, richtig das am Rande). An anderer Stelle ist die Jungfrau Maria (Luthers ganze Auffassung der Maria ist durch Bernhard bedngt, cf die Auslegung des Magnificat mit den oben angegebenen Stellen) mit ihrem demütigen und glaubensvollen: fiat mihi secundum verbum tuum das Musterexempel (cf WA 2,15, auch WA 9,518, dazu Migne 183,383): und als er in der Auslegung des Richterbuches an die Erzählung von Gideon kommt, muss der Vergleich der Maria, die jungfräulich den Herrn gebar, mit dem vom Tau benetzten Felle, in etwas modifizierter Weise nach Bernhard angeführt werden (WA 4,559, dazu Migne 183,64). Das Beispiel der Beispiele aber ist Christus. So schliesst sich Luther in einer Predigt vom Neujahrstage 1517 an Bernhard an in der Deutung der Beschneidung Jesu. Sie wird, wie er (309) sagt, moralisch gedeutet, Christus will in ihr eine Warnung aussprechen, und zwar -- damit bricht die Mystik wieder durch -- die Warnung, dass wir fernerhin niche mehr scheinen wollen, was wir nicht sind, quod scilicet Christus pro nobis voluit reputari peccator quod non erat (WA 1,120, cf Migne 183,133f). Dasselbe sagt der Gedanke, dass Christus sich mit göttliche Ehre nicht auf dem Wege des Raubes aneignen wollte, sondern in Demut ihrer teilhaftig werden, und dadurch Gegenbild werde der trotzigen Menschenkinder, die die gloria usurpieren wollen, wenn Gott sie ihnen weigert (WA 2,149, cf Migne 182,977). Die ethische Betrachtung Christi geht dann sehr bald in die religiöse über. Christus hat durch Erdulden des Todesschmerzes in uns den Schmerz über unsere Sünde, sowie auch den Schrecken über Gottes Zorn gegen die Sünde wecken wollen, Bernhard bezeugt das, weil er es an sich selbst erfahren hat (WA 2,542, cf Migne 183,827). --

In Zusammenhang mit dem mystischen Gedanken von der Erfahrung des richterlichen Urteils Gottes steht eine im sermo de digna praeparatione cordis pro suscipiendo sacramento Eucharistiae (1518) sich findende eigenartige Aeusserung Luthers über den "Glauben um der Kirche willen". Es mag vorkommen, dass jemand die Gewissensschrecken so stark empfindet, dass er überhaupt nicht zu Gott aufzublicken wagt. Da soll er getrost auf den Glauben der Kirche hin oder eines beliebigen Gliedes derselben zum Altar treten und beten: Herr Jesu Christ, wie es auch mit mir stehen mag, nimm mich auf im Glauben Deiner Kirche; (310) ihr muss ich gehorchen, die mich zum Altar treten heisst. Autorisiert sieht Luther dieses Verfahren durch eine Erzählung vom h. Bernhard, der einem zagenden Bruder sagte: feire die Messe in fide mea (WA 1,133, cf Migne 185,419; vielleicht hat Luther die Erzählung bei Gerson gelesen, der sich gleichfalls zagenden Gewissen zum Trost vorhält). Soweit ich sehe, ist dieser Gedanke bei Luther selten; man darf ihn nicht verwechseln mit dem Gebet "um Christi willen", denn Christus erscheint hier nicht als Haupt der Gemeinde, die mit ihm solidarisch verbunden ist, sondern als ihr Herr. Er wird angerufen, nicht er, sondern die Ecclesia ist der Stellvertreter, weil sie die Trägerin des Willens Christi ist, deshalb acceptiert er "um der Kirche willen" die Gehorsamsleistung gegen dieselbe. Augenscheinlich hat die Erzählung von Bernhard Luther zu diesem Gedankengang veranlasst; die Differenz, die der Kirchenbegriff bei ihm und Bernhard bot, hat er übersehen; es war das um so eher möglich, als er seinige eben damals erst anfing klar herauszutreten. Ist der springende Punkt der Gehorsamsakt gegen die Kirche, so wird derselbe ausgeschieden da, wo die Kirche anfängt Gemeinschaft, nicht mehr Anstalt zu sein, und ein nunmehr etwa noch mögliches "Annehmen um der Kirche willen" muss einen völlig anderen Charakter tragen; es kann in demselben ein Glaubensakt nicht entbehrt werden, der aber an unsere Stelle gerade das Entbehrliche sein soll.

Wie gesagt, hat die Unklarheit seines Kirchenbegriffs ihn das spezifisch Römische an der Erzählung übersehen lassen. Später hat er es bemerkt. In seiner Schrift de abroganga missa privata von 1521 wird bei Einführung jener Erzählung das Acceptiertwerden um der Kirche willen nicht nur nicht wiederholt, vielmehr in klarster Deutlichkeit gesagt, dass der persönliche Glaubensakt (also nicht mehr der Gehorsam), und sei es nur, dass er in der Einfalt des Kommunikanten bestehe, das Entscheidende sei (WA 8,451, cf 449,450). (311) --

Neben der an die Mystik Bernhards angeknüpften Gedankenreihe geht eine andere einher, welche sich an Bernhards Schrift de consideratione ad Eugenium papam anschliesst. Schon vor dem Thesenanschlag muss Luther dieses Mahnschreiben gelesen haben; es hat die Grundlage abgegeben zu seiner 48. These, dass der Papst bei der Ablasserteilung das Gebet, nicht Geld für sich nötig habe und wünsche. Denn nur durch Gebet könne ein reines Herz, dessen er zum Wohle der Christenheit bedürfe, ihm geschenkt werden; darüber schreibe "am aller schönsten" Bernhard (WA 1,601 = res08#69; cf Migne 182,727f). Mit der Verschärfung seiner Stellung zum Papsttum wandelt sich die Verwertung der Schrift Bernhards. Hatt er früher die dort geschilderten Tugenden bei Leo X. vorausgesetzt und dementsprechend den Appell nicht an ihn, sondern an seine literarischen Gegner oder Widersacher im Publikum gerichtet, so leitet er nunmehr aus derselben die Berechtigung seiner Invektiven gegen den Papst her (cf WA 7,10) und nicht mehr als Tugendspiegel für Eugen IV., sondern als bittere Klage gegen denselben ist sie aufgefasst. Wenn S. Bernhard damals, da es noch nicht so arg mit Rom stand, seinen Papst "klagt", um wieviel mehr soll Luther es nicht thun jetzt, da es "auffs ergist" kommen ist! (WA 7,6) Billig sollten alle Päpste das Buch Bernhards auswendig können, dann stünde es besser (WA 7,10).

Ueberschaut man die damalige Publizistik, so begegnet nicht selten ein Hinweis auf diese Schrift Bernhards, genau in dem Sinne, wie Luther sie jetzt verwertet. Namentlich Huss normiert die Sittenstrenge, die er als condicio sine qua non für den Papst fordert, an Bernhards Aufstellungen (cf de ecclesia S. 67); dieselben sind den "Waldensern" Beweis für die Verderbtheit der Kirche. Aehnlich lehnt Lonicer in seiner Schrift gegen Alveld unter Berufung (312) auf Bernhard den Vergleich des Petrus mit Aaron ab. Derartige literarische Bemerkungen -- sie könnten zeitlich alle Luther erst nach den Resolutionen und vor der Vorrede zu "von der Freiheit eines Christenmenschen" bekannt geworden sein -- mögen zu dem Wechsel in der Beurteilung der Bernhardschen Schrift durch Luther beigetragen haben. --

Auch in der Frage der Schriftautorität gegenüber der Tradition hat Luther sich auf Bernhard berufen. Dem Leipziger Professor Hieronymus Dungersheim gegenüber, der ihn mit einer Flut patristischer Citate überschüttet hatte, betont Luther, mann thäte ihm den grössten Gefallen, die Kirchenväter an der Schrift zu prüfen, und nicht umgekehrt. Man müsse den Bächen bis zur Quelle nachgehen quod et Bernhardus se facere gloriatur (Enders I 439). Fast mit denselben Worten, seinen prinzipiellen Standpunkt damit schärfstens herausstellend, hat Luther in der Einleitung zu der Assertio omnium articulorum diese Berufung auf Bernhard wiederholt (o.v.a. V 165 = ass01#36).

Weniger wichtig sind einzelne Citate aus Bernhard, durch welche Luther eine religiöse oder moralische Wahrheit illustriert oder auch exegetische Fragen der Entscheidung näher bringt. Doch zeigen auch sie den grossen Einfluss des Mystikers auf Luther. So heisst es in der Schrift "von den guten Werken" hei Besprechung des rechten Betens: "Also leret s. Bernhardt seine bruder und sagt: Lieben bruder, yhr sollet ewr gebet yhe nit vorachten, als sey es umbsonst, dan ich sag euch furwar, das, ehe yhr die wort volnbrengt, szo ist das geben schon angeschrieben im hymel, und sollet der einisz euch gewisz vorsehen zu got, das ewr gebet wirt erfullet werdenn, odder soe es nit erfullet wirt, das euch nit gut und nutz gewesen were zu erfullen (WA 6,232, Migne 183,606ff). -- Sehr häufig citiert Luther die Sentenz Bernhards: Detractor et libens detractorum auditor uterque Diabolum habet, ille in lingua, hic in (313) auribus. Er gebraucht sie gerne, um die Sünde der Verleumdung in Ursache und Wirkung scharf zu beleuchten (cf WA 3,101 = WA 4,481; WA 1,50 = WA 4,681). -- Zur Auslegung des Psalmwortes: cum sancto sanctus eris (Psalm 19,26) zieht Luther Bernhard heran für die Deutung, dass je nach der individuellen subjektiven Beschaffenheit der Gottesbegriff variiere: cum dormiente dormit, cum vigilante vigilat etc. (WA 3,127; cf Migne 183,695). -- In Bernhards Sermon de Naaman leproso hat er gelesen, dass der Jordanfluss seinen Namen habe vom Herabströmen aus den Bergen (WA 3,236, cf Migne 183,288). -- An anderer Stelle beruft er sich auf Bernhard um den Weibern den Gehorsam gegen ihre Männer, der letztlich auf dea Seelenheil dieser abzwecken müsse, einzuschärfen (WA 1,453). -- Zur Erklärung von Gal. 6,1 zieht er die Mahnung Bernhards an die Seinen heran, dass sie, wenn sie die Sünde eines Bruders auf keine Weise entschuldigen könnten, sagen müssten, eine grosse und schier unüberwindliche Versuchung habe ihn übereilt (WA 2,602). -- Dass dem Christen heiterer, fröhlicher Verkehr, Lachen und mitunter (nonnunquam) selbst ein Witzwort erlaubt sei, wofern es nur "in suavitate, in spiritu sancto" geschehe, illustriert und autorisiert er durch die Erzählung von Bernhard, der einem melancholischen Bruder in Scherz das Bein stellte, um ihn dadurch zu kurieren (WA 5,399). Wenn das der h. Mann thut, so wird es uns -- die gegebene Schranke vorausgesetzt -- auch gestattet sein. -- Endlich ist sein Verständnis der Geburt Christi aus Bernhard geschöpft. Er betont die drei miracula, quod deus et homo fit una persona, quod virgo parit, quod cor humanum et verbum fidie possunt coire et uniri. (WA 9,517f = 498 = WA 8,188; EA 16,2 502, Migne 183,102), aber sein (314) Interesse haftet nicht an den miracula qua solchen, sondern an dem, was sie dem Glauben sein können, daher seine Predigt, wie schon früher in einen Lobpreis Mariae ausklingt (Das Citat ist bei Luther in verschiedener Form gegeben, es stimmt nicht völlig mit der Vorlage bei Bernhard). --

Auf Seite der Gegner Luthers besass man eine andere Schätzung Bernhards, und dieselbe hielt man -- sei es direkte, sei es indirekte -- auch Luther vor; es fragt sich, wie Luther sich der Beurteilungsweise seiner Gegner gegenüber verhalten hat. Aehnlich wie bei den Canones des nizänischen Konzils ist es wiederum zuerst Hieronymus Dungersheim gewesen, der Luther seine Berufung auf Bernhard als irrig nachweisen wollte, -- dieses Mal mit mehr Geschick, aber ohne mehr Glück zu haben. Mit einem Citat aus Bernhards Sermo 8 super Cantico zeigte er Luther klar und deutlicht, dass der Heilige gerade die Auslegung von Phil 2,7ff vertrete, die Luther abgewiesen hatte, und dass Luther irre, wenn er für seine Meinung Bernhard anführe. Nicht negativ-ethisch -- er wollte nicht in superbia die Gottgleichheit besitzen -- sondern affirmativ-intellektualistisch -- dass er Gott gleich war, erschien ihm nicht als Raub, da er ja in göttlicher Gestalt war -- sei die betreffende Stelle zu interpretieren. Dungersheim hatte sein gutes Recht, sich dafür auf Bernhard zu berufen (cf Migne 183,844), mindestens ein eben so gutes wie Luther, dessen Berufung auf Bernhard sich weniger direkt als indirekt, aus Analogieschlüssen aus der Betonung der ethischen Vorbildlichkeit Christi ben Bernhard, erweisen liess. Luther aber hat sich um den Einwand des Gegners nicht gekümmert; allegemein wahrt er sein Recht auf von Tradition freie Schriftauslegung, sich gerade dafür, wie wir sahen, auf Bernhard berufend, nicht merkend, dass dieser audrerseits gegen ihn auf Seite der Tradition stand (Enders I 439f). -- (315)

Mächtiger rüttelte Eck an der von Luther geglaubten persönlichen theologischen Einheit mit Bernhard. Als zu Beginn der Leipziger Disputation Luther die Geltendmachung von Joh. 5,19 zu gunsten des ius divinum des Papsttums (WA 2,255 = eck01#16) zurückwies durch die Erklärung, nach der Meinung aller Doktoren handle es sich an betr. Stelle überhaupt nicht um die Kirche, sondern um die Wesensgleichheit Christi mit dem Vater (eck01#32), erlaubte sich Eck die Gegenbemerkung, von den "allen Doktoren", auf die Luther sich berufe, sei doch wohl einer auszunehmen, der beatus et inadulabilis pater Bernhardus. Im dritten Buche seiner Schrift de consideratione leite er ausdrücklich aus Joh 5,19 die göttliche Institution der Hierarchie ab (WA 2,260 = eck01#52). Eine klare und deutliche Antwort gab Luther nicht; bestreiten konnte er das Ecksche Argument nicht rundweg -- denn es war richtig -- aber er suchte sich daran vorbeizuwinden, Bernhard als Vertreter der Hierarchie anerkennen zu müssen. Es käme häufiger vor, dass die h. Väter vom genuinen Wortsinn, der bei einer Disputation allein in Frage käme abwichen, das geschehe locupletandae orationis gratia et sine culpa! (eck02#6f) Er gab schliesslich zu, dass Bernhard das Bibelwort in anderem Sinne, als es von Christus gesprochen sei, interpretiere, ja dass es ein sensus alienus sei, den er gebrauche, aber er bog diesen Zigeständnissen doch sofort wieder die Spitze ab, sofern er sagte, Bernhard wolle seine Auslegung nur als Vorschlag, nicht autoritativ verstanden wissen (WA 2,277 =eck03#60). Eck wies in sachgemässer Weise Luthers Künstelei zurück (WA 2,282 = eck04#25; servato enim vero et genuino scripturae sensu equalitatis filii ad patrem optime procedit s. Bernhardi ratio. So ist es in der That s. Migne 183,844). Luther schwieg. Da brachte Eck einen neuen Beleg, wiederum aus de consideratione. Christus gebiete allein dem Petrus zu ihm übers Meer zu kommen, das Meer bedeute die Welt, folglich sei Petrus von Christus über dieselbe gesetzt (WA 2,318 = eck07#44). Luther gab an, dass Bernhard an der betr. Stelle (316) das Meer von der Welt verstehe, aber das habe mit dem Primat nichtz zu thun, die Welt unter die Füsse treten müsse jeder (WA 2,319 = eck07#47). Aber Eck, der seinen Bernhard offenbar sehr genau gelesen hatte, betonte scharf, -- und wiederum mit Recht -- dass Bernhard ausdrücklich den Primat des Papstes Eugenius aus dieser Bibelstelle, also iure divino, begründe. So in die Enge getrieben gestand Luther schliesslich zu: er glaube (!), dass Bernhard den Text presse, da im Folgenden vom Glauben, nicht vom Primat die Rede sei (n316)

Auch die Deutung von 1 Cor. 3,13ff. auf das Fegfeuer sucht Eck durch Bernhard zu stützen. Und wenn Bernhard ein Partikulargericht über jeden Menschen nach seinem Tode annehme, so weise das auf einen endgültigen Abschluss, der die Meinung Luthers von einer inneren Läuterung und innerem Wachstum im Fegfeuer verbiete (WA 2,327 = eck08#31; 326 = eck08#24; 332 = eck08#59; cf Migne 183,1100). Auch nehme Bernhard im 66. Sermon super Canticis ein Argument Gregors d. Gr. wieder auf, dass Christus Sündenvergebung im Jenseits verheisse; das aber schliesse gleichfalls ein Verdienst im Fegfeuer aus. Wiederum suchte Luther einen Ausgleich. Ueber die Auslegung von 1 Cor. 3,13ff sei er noch nicht zur Klarheit gekommen, Bernhard verstehe sie allerdings vom Fegfeuer. Und für die Gläubigen bestehe es freilich zu Recht, dass Gott ihnen die Sünde im Jenseits vergebe, aber nicht für die Widerspenstigen, für die vielmehr eine Läuterung notwendig sei. (WA 2,330 = eck08#49). Von seinem Standpunkte aus konnte und musste Luther diese Unterscheidung machen, er durfte dieselbe aber nicht auf Bernhard übertragen (Bernhard will an der betr. Stelle nur die Existenz des Fegfeuers beweisen, ohne jegliche Reflexion), der den landläufigen (317) Begriff vom Fegfeuer -- und derselbe schloss aktive Bethätigung aus -- nicht die ethisch-religiöse Vertiefung desselben wie Luther sie vertrat, kannte. Wenn nun Luther so von sich aus Bernhard interpretierte und eine Einheit mit der Meinung desselben festzuhalten suchte, so tritt darin seine streng konservative Haltung hervor, die, der Einheit mit Bernhard auf dem Gebiete der Mystik gewiss geworden, dieselbe auch auf anderen Gebieten annimmt und zu nüchterner Prüfung nicht gelangt. Damit kommt er aber über den Standpunkt Ecks prinzipiel nicht hinaus. Eck presst Bernhards Worte für seine These, die auf falschem Verständnis des Verdienstbegriffs ruhte -- das hat Luther erkannt (eck09#4) -- Luther für die seine, keiner bemerkte, dass in der in Frage stehenden Zuspitzung Bernhard das Problem fremd war (n317).

Endlich ein letztes Mal suchte Eck den h. Bernhard auszuspielen in der Erörterung über die Busse; Bernhard sei Zeuge dafür (super Canticis serm. 16), dass die Busse von der Furcht, nicht von der Liebe, ihren Anfang nehme. Luther will das gelten lassen, aber unter der Voraussetzung, dass zunächst die Liebe eingegossen sein muss, die dann ihrerseits zur Furcht Gottes treibe, sodass man sagen könne, die Busse beginne a timore in charitate (WA 2,364 = eck12#40; cf 360 = eck12#14). Also wiederum lässt er von der Gewissheit seiner Uebereinstimmung mit Bernhard nicht. Und dieses Mal mit grösserem Recht als bisher. An genannter Stelle (Migne 183,849) betont Bernhard zwar sehr stark die Furcht vor Gott bei der Contritio, aber er giebt nicht eine zeitliche Stufenfolge, sondern ein Nebeneinander von Betrachtungsweisen Gottes in der Busse, eine Psychologie der Busse, wenn man so sagen darf, ohne auf den Luther vorschwebenden Gegensatz zu reflektieren. Dadurch aber, dass er (318) die Betrachtung Gottes als des liebenden Vaters einschiebt, ist ein sachlicher Berührungspunkt mit Luther gegeben, während Eck an der Form haften bleibt. --

Eck hatte von der Frage nach dem göttlichen Rechte des Papsttum her, also von dem Punkte aus, an dem Luther sehr empfindlich war, die Autorität Bernhards für Luther zu erschüttern versucht; an keinem Punkte war es ihm gelungen, so fest stand jene dem Reformator! Als er in seiner Gegenschrift Contra malignum Eccii iudicium auf Ecks Argumentation mit Joh 21 wieder zu sprechen kam, setzte er sich mit keiner Silbe mit Bernhard auseinander, begnügte sich vielmehr, Ecks Auslegung der Stelle lächerlich zu machen, ohne zu berücksichtigen, dass dieser ihm klipp und klar ihre Einheit mit Bernhard beweisen hatte! (cf WA 2,634 dazu oben). Hingegen die Autorität Bernhards in der Lehre von der Beständigkeit der Busse unterliess er nicht in den Resolutionen zur Leipziger Disputation ausdrücklich anzuführen (WA 2,409 = releip03#54). --

Endlich rückte ihm in Worms Hieronymus Vehus die Autorität Bernhards vor. (WA 7,845). Seine Warnung vor dem daemonium meridianum, quod transfiguratur in angelum lucis möge doch Luther beachten. War es Zufall, dass der badische Kanzler gerade diese Stelle heraushob? Wir wissen, dass Luther im Psalmenkommentar nachdrücklich auf sie hingewiesen hatte, (s. oben) und dieser Kommentar befand sich in Worms unter dem Komplex Lutherschen Schriften! (WA 7,840). Ist es undenkbar, dass Vehus ihn las und nun mit den eigenen Waffen Luther schlagen wollte? Es wäre der Erste nicht, der das versuchte. Auf Luther jedenfalls hat seine Berufung auf Bernhard keinen Eindruck gemacht, er hat sie ignoriert.

Was den Gegnern nicht gelungen war, erzwang endlich der Freunde Konsequenz aus seiner religiösen Position (cf dazu WA 7,564ff, 313ff) und nötigte (319) ihn wenn auch nicht zu einer Zurückweisung Bernhards, so doch zu einer ernstlichen Auseinandersetzung mit ihm. Die Stille der Wartburgzeit, in die sie fiel, mochte zu ihrer Gründlichkeit beitragen; mit der Eckschen Problemstellung aber hatte sie nichts zu thun, sie setzte an einem Punkte an, der eben damals erst aktuell geworden war, bei der Cölibats- und Mönchsfrage, und, im schächerem Masse allerdings -- bei der Frage nach dem Messopfer (n319). Es ist bekannt, wie Luther nach Klarheit hie gerungen hat, wie ihn der Wittenberger Thesen und Schriften nicht befriedigten, solange er den Schriftbeweis nicht in Händen hatte. Und indem er ihn zu finden suchte, und als er ihn gefunden hatte, stellte sich ihm gerade hier die Tradition mit schwerster Macht entgegen, Männer der Kirche, die er hochhielt, ja in denen er sich selbst zu erkennen glaubte, die wie helleuchtende Lichter in der Nacht der früh begonnenen kirchlichen Korruption erschienen, waren Mönche gewesen (cf EA 10,2 463: Es sind h. Väter in geistlichem Stand gewesen) und hatten Messopfer dargebracht und darunter mit an erster Stelle Bernhard, der gefeierte Stifter des Cisterzienserordens, der wenn irgend einer die Popularisierung des Mönchstums herbeigeführt hatte! Die Stärke Luthers zeigte sich darin, dass er angesichts des Problemes, welches die Geschichte seiner religiöser Ueberzeugung stellte, unentwegt an dieser, die er mit der Schift in Einklang wusste, festhielt, allen Traditionsbeweisen zum Trotz; und darf man es Schwäche nennen, dass er trotzdem den streng geschichtlichen Massstab nicht anwandte, vielmehr durch einen Kompromis sich aus der Fragestellung herauswand? Erinnern wir uns, dass seine Zeit den rein historischen Massstab nicht kannte. Von der religiös-dogmatischen Gewissheit ausgehend und an dieser den Geschichtsverlauf messend kannte sie nur ein Pro und Contra, ein Entweder-Oder, nicht ein Sowohl-Als auch. Darüber ist auch Luther im vorliegenden (320) Falle nicht hinausgekommen, wenn es auch scheinen will, als nähere er sich dem Sowohl-Als auch. Er konnte nicht anders als das strengste Mönchsleben Bernhards eingestehen, aber die Verantwortlichkeit dafür wird von ihm abgewälzt, sie wird dem Satan (WA 8,603 = vot02#129), dem Papste (WA 8,617 = vot03#138, WA 7,774, EA,2 438, 463), seinem Werkzeug, oder auch Gott, der Auserwählte prüft (z. B. WA 6,540, WA 8,622 = vot04#63), zugeschoben, oder aber ihres Charakters entkleidet und als irrelevant hingestellt (s. unten). Damit aber wird Bernhard als solcher ganz für Luther in Anspruch genommen; was mit der Ueberzeugung dieses nicht stimmt, gehört Bernhard recht eigentlich nicht zu. Nicht Schwäche, vielmehr Verfahren, zugleich von neuem die Unerschütterlichkeit des Einflusses Bernhardsche Mystik auf ihn.

Aber leicht ist's Luther nicht geworden; war in de captivitate babylonica (WA 6,540 = captdb#137) mit kurzen, freilich klaren, Worten die Problemlösung schon vorweggenommen, war es ihm in frühester Zeit ein Kleines gewesen die sogen. 8 Verse Bernhards (cf WA 4,442) für Gebetsnöte dem Satan zuzuweisen, so galt es jetzt, das bereits Errungene neu zu erkämpfen. So intensiv hatte er sich nie mit Bernhard beschäftigt wie auf der Wartburt seit Ende Juli etwa. Analog dem Apostel Paulus, der den Juden ein Jude sein konnte, habe Bernhard sich freiwillig dem Mönchtum unterworfen (n320), ohne damit die Verbindlichkeit der Gelübde zu autorisieren, vielmehr innerlich erhaben über dieselbe (n321). Und geht auch Bernhard so weit, dass er die Ordensregel zur striktesten Norm setzt (WA 8,586 = vot01#118; beachte, dass hier kein Tadel gegen Bernhard ausgesprochen ist, sein Verhalten dient nur als Exempel. 648), so ist doch sein Glaube wunderbar bewahrt geblieben, und propter fidem Christi hat ihm jenes Gift nicht geschadet (WA 8,600 = vot02#96, 602 = vot02#110, 603 = vot02#122); nicht oft genug (n321a) kann er das uns bereits bekannte Urteil Bernhards über selbst am Ende seines Lebens und die Erzählung von dem Zuspruch an den Bruder, in seinem Glauben Messe zu halten, (Hier dürfte ein klassischer Beweis vorliegen, wie Luther dieselbe Erzählung je nach Gelegenheit ganz verschieden verwertet) als Beweis dafür anführen, dass Bernhard thatsächlich Glauben besessen hat. An solchen und ähnlichen Worten werde klar, wie wenig Bernhard auf die Gelübde gegeben habe! Habe er sie doch sogar nicht gehalten, das Kloster verlassen und sich auf Reisen begeben! (WA 8,641 = vot05#127) Letztlich zeige Bernhard die volle Nichtigkeit der Gelübde an, wenn er ihre Geltung in die Hand des Ordensoberen, der nach Gutdünken dispensieren könne, gelegt wissen wollte (WA 8,634 = vot05#49, 646 = vot06#56; cf Migne 182,863ff). Alles das sagt Luther von demselben Bernhard, der kurzerhand die Mönchsgelübde für unbedingt geltend erklärt hatte, und zwar unter dem Eindruck eindringendster Lektüre gerade der Schrift -- de praecepto et dispensatione, Luther citiert sie wiederholt -- in der Bernhard derartiges gesagt hatte! --

So hatte auch dieser letzte, heftigste Anprall der Tradition seine Ueberzeugung von der inneren Uebereinstimmung mit Bernhard nicht zu erschüttern vermocht, und Melanchthon blieb es vorbehalten, die vorliegende Inkongruenz erstmalig zu erkennen. Ihm hat im Gegensatz zu Luther die Leipziger Disputation mit dem, was ihr (322) vorausging und nachfolgte, die Augen geöffnet. Zwischen Eck und Carlstadt war über Bernhards Schrift de gratia et libero arbitrio, insbesondere über das Wort: tolle liberum arbitrium et non erit quod salvetur debattiert worden (Löscher II 154ff; III 295ff; C.R. I 99); damit hängt es zusammen, wenn Melanchthon in seinen loci das Urteil fällt, in der Lehre vom freien Willen bleibe Bernhard sich nicht gleich. Das war zwar nicht ganz richtig, aber erklärlich aus der gewundenen Redeform Bernhards in seinem Traktat (cf Migne 182,1002f); Bernhard ist sich gleich geblieben, aber es macht Melanchthons Scharfsinn alle Ehre, zu erkennen, dass Bernhard kein Prädestinatianer wie er und Luther war (Luther hat später genau sich Melanchthons Urteil angeeignet). Und wenn er auch in gewissem Sinne -- er denkt an das freimütige Reden zu dem Papste -- eine Berufung auf de consideratione gelten lassen will, so lehnt er doch im Allgemeinen -- insbesondere hat er die Verhandlung über die Johannesstelle im Auge -- die Autorität Bernhards in jener Schrift entschieden ab (C. R. I 93). Und endlich kann er auch in der Gelübdefrage Bernhard nicht beistimmen. Nicht Gott, nicht der Satan oder der Papst haben die Verantwortlichkeit, sondern Bernhard selbst ist engherzig gewesen: ich wünschte, Bernhard hätte über diese Dinge ein wenig freier geurteilt da, wo er über die Dispensation schreibt (loci). (323) An drei entscheidenden Punkten also hat Melanchthon die Einheit der reformatorischen Position mit Bernhard zerbrochen, nicht als Humanist -- der Humanist Erasmus weiss nur die inkorrekte Schriftauslegung an Bernhard zu tadeln -- sondern als Theologe, der ebensowohl wie Luther von seiner religiösen Ueberzeugung aus an den Mystiker herantrat, aber als Theologe, den die humanistische Unterlage seines Denkens vor den Gewaltthätigkeiten des Freundes bewahrte. --

Die Einseitigkeit seiner Auffassung Bernhards verrät sich bei Luther schon in der beschränkten Auswahl Bernhardscher Schriften, die er kannte. Es sind fast ausschliesslich die mystischen Schriften, allen voran die Sermone zum Hohenlied, die diligendo deo, de considerationd und die Briefe, dann seit Mitte 1521 de praecepto et dispensatione. Diese aber kannte er aus erster Hand (Die mannigfachen Citate aus Bernhard bei Tauler finden sich bei Luther nicht). Die kirchenpolitischen Schriften Bernhards sind ihm fremd; dass der Kirchenfürst die Karten zu mischen verstand, dass er einem Abälard die Existenz genommen, ja, selbst seine Kreuzzugspredigt ist ihm unbekannt geblieben oder war wenigstens völlig interesselos für ihn. Was er aus de consideratione darüber entnehmen konnte, hat er nicht verstanden. Wohl hat er gewusst -- schon in der legenda aurea war es zu lesen -- dass Bernhard grosse Reisen gemacht hat, doch nur von der ihn bewegenden Frage aus vermag er es zu würdigen: es ist Beweis für die notwendige Durchbrechung des Gelübdezwanges, für das Leben-Müssen mit den Menschen, zugleich göttliche Fügung, durch die Gott Bernhard bewahrte vor dem Untergang in Gesetzlichkeit (WA 8,628, 641). In etwa ja erklärt sich die nahezu ausschliesslich mystische Wertung Bernhards dadurch, dass die kirchenpolitischen Traktate selten, (324) die mystischen sehr oft gedruckt worden sind; daher, soweit ich sehe, auch anderwärts Bernhard nicht als Kirchenpolitiker gewürdigt worden ist. Aber schliesslich erklärt das sehr wenig, anderre haben aus demselben Material Anderes herausgelesen, Eck, Melanchthon u. a. Scheurl liest bei ihm die höchste Hochschätzung der Messe, die höher stehe als die Hingabe des ganzen Vermögens an die Armen, (de utilitate missae 1506), Heinrich VIII. citiert ihn für das Ehesakrament (Gegenschrift auf Luthers de capt. babyl.), Ambrosius Catharinus für das Ideal des Mönchtums (zweite Schrift gegen Luther Bl 100), Beweis genug für die durchgängige Subjektivität in der Beurteilung Bernhards. Einflussreich für Luther  wird die Hochschätzung der Bernhardschen Mystik innerhalb des Augustinerordens gewesen sein. Fast wie eine Erbschaft wird Bernhards Mystik hier gehütet. Paltz citiert den "heilig süss lerer über das buch die lobesang" in seiner Coelifodina häufig, ähnlich ist's bei Staupitz endlich bei Wenzel Link, (Reindell: W. Link S. 37, 74, 99. Derselbe: Links Werke I 7) und jenem Augustinerbruder im Erfurter Kloster.

Jedenfalls kann es nicht hoch genug geschätz werden, dass Luthers Subjektivität gerade an der Mystik Bernhard haftete, in besonderer Art an ihr haftete. Luther hat den dominierenden hierarchischen Masstab ignorierend Bernhard der Frömmigkeit wieder gewonnen. Er hat die religiöse Genialität Bernhards in den Mittelpunkt gerückt und damit kraft seiner religiösen Kongenialität ohne jede historische Reflexion besser das Auszeichnendste an Bernhard getroffen, als es humanistisch-historische Untersuchung vermocht hätte. Für den Heilsprozess in allen seinen Abstufungen einschliesslich des Frömmigkeitslebens hat er Bernhard zum klassischen Zeugen gemacht. (325). Bernhards Schriften waren ihm Erbauungsbuch, Bernhard selbst der Musterchrist, er ist der "Evangelische", d. h. der nach der Norm des ursprünglischen Evangeliums Lebende, so wie Luther ihn seiner Zeit wieder wünschte, selbst in seinen Schwachheiten typisch. Wenn Althamer für die Lehre von der allgemeinen Sündhaftigkeit sich auf Bernhard beruft (s. Kolde B. b. K. G. I 70), so ist das ganz in Luthers Sinne gedacht. Nicht umsonst hat Luther immer wieder den Spruch: tempus meum perdidi, quia perdite vixi angeführt. Bernhard ist einer der wenigen, die von der päpstlichen Verderbnis nicht angekränkelt wurden, damit zugleich wie Tauler Beweis für den gliedlichen Zusammenhang der Lutherschen Evangeliumspredigt mit der christlichen Vergangenheit. Wenn Dickhoff (1882) einst einem Buche den Titel gab: "Justin, Augustin, Bernhard und Luther. Der Entwicklungsgang christlicher Wahrheitsverfassung in der Kirche als Beweis für die Lehre der Reformation", so kommt, von dem Apologeten abgesehen, den Luther nicht kannte, diese Formulierung sehr nahe Lutherschen Gedankengängen, nur dass bei ihm völlig auf einer Fläche liegt, was bei Dieckhoff immerhin sich entwickelt. Einer lediglich die Religiosität, die Herzensstimmung ins Auge fassenden Betrachtung aber wird man am leichtesten verzeihen, dass sie geschichtliche Schranken überspringt und einerseits am Normaltypus der Religiosität -- und das war für Luther die als Einheit gedachte neutestamentliche Frömmigkeit -- andrerseits am eigenen Frömmigkeitsleben -- denn dieses soll durch das Beispiel weitergebildet werden -- sich orientiert. Der sich religiös erbauende Mensch sieht thatsächlich oft genug den Zeitunterschied nicht, der etwa zwischen Subjekt und Objekt der Erbauung liegt, und haftet lediglich an der in allem Wechsel konstanten Grösse der Frömmigkeit. So hat Luther Bernhard angesehen, und der empfangene Eindruck war so stark, dass schlechthin nichts "Zeitlich Bedingtes" an ihm überblieb; er kann ebensogut im Urchristentum (326) wie im 4. oder 6. Jahrhundert figurieren. Er hat die Bernhardsche Frömmigkeit nicht von der Persönlichkeit Bernhards als besondere Seite derselben abgetrennt, vielmehr die ganze Persönlichkeit in die Frömmigkeit gleichsam konzentriert.

Das war, geschichtligh angesehen, unstatthaft und musste zu Täuschungen führen. Es ging doch nicht an, Bernhard auf urchristliche Stufe zu setzen (WA 8,617, 641), ihn, der, wenn einer, die asketischen Ideale des Mönchtums verfochten hat, zum Zeugen der Freiheit von Gelübden zu machen (zu Bernhards Stellung zu den Mönchgelübden cf um des Gegensatzes zu Luther willen Migne 182,190). Nur wenn man sich sagt, dass Bernhards Mönchtum zu dem Mönchtum, wie Luther es kannte, in der That in gewissem Kontraste stand, wird sein Urteil verständlicher. Indem Bernhard das Mönchtum, als Mittel, allerdings als das vollkommenste und unentbehrliche Mittel, dem Zweck religiöser wie sittlicher Gottesgemeinschaft unterordnete, konnte er allerdings als "Reformator" erscheinen einer Zeit gegenüber, der Mönchtum qua solches in praxi als religiöses Ziel galt. Aber von da aus ist doch noch ein sehr weiter Schritt zu der Freiheit der Kinder Gottes, die Luther ihm zusprach. Entbehrlich war für Bernhard das Mönchtum niemals. Auch die Parallelisierung des Appells Luthers an den Papst mit Bernhards Schrift de consideratione war Täuschung. Was Bernhard Eugen zu sagen hatte, war die naive offene Aussprachen des sein Ideal -- welches der Papst anerkannte -- zur Norm setzenden Mönches. In Lutherschem Freimut zu reden hätte Bernhard sich niemals erdreistet, er erkennt die päpstliche Oberhoheit und im Prinzipe auch die Zwei-Schwerter-theorie an. Allerdings ist Bernhard nicht ein blinder Anhänger gregorianischer Theorieen, wahrt mehr, als es den letzten hierarchischen Zielen Roms entsprach, die Selbstständigkeit der Weltmacht und schafft durch Betonung des Gewichtes der Unterinstanzen der zwingenden Autorität päpstlicher Aussprüche (327) ein Gegengewicht, und das Pflichtenregister bis hinauf zur Forderung der Demut, wie Bernhard es dem Papste vorhielt, kontrastierte scharf mit der Hofhaltung Leos X. und seines Vorgängers, wie Luther sie kennen gelernt hatte; von hier aus wird begreiflich, wie Luther in der Stellung zum Papsttum sich Bernhard kongenial fühlen konnte. Hier klangen in der That verwandte Saiten, aber bei weitem nicht so stark, wie Luther meinte. Auch ein Papst nach Bernhards Ideal hätte Luther nicht mehr genügen können, weil er eben Papst war iure divino; das Zusammenspiel hätte in Dissonanz endigen müssen, wenn Luther, um im Bilde zu bleiben, das Thema erfasst hätte, statt an einem Satze haften zu bleiben. Auch die frei klingenden Aeusserungen Bernhards über die Schriftautorität sind mit Luthers Schriftprinzip nicht gleichzusetzen. Derartige frei klingende Aeusserungen begegnen im Mittelalter häufiger, auch bei Thomas und Bonaventura. Sie waren notwendiges Ergebnis des Zwiespaltes und der Unbestimmtheit, in welcher das Verhältnis von Schrift und Tradition gelassen war. Im Widerstreit der patristischen Meinungen einmal das klare Schriftzeugnis zu betonen, war noch keine Abweichung von der Kirche, der die Schrift Offenbarung war. Letztlich fügte sich die Berufung auf die Schrift doch in den Interpretationsmodus ein, den man brauchte (n327). Man hätte es Luther nachgesehen, wenn er die Schrift allein autoritativ verwertet hätte, aber so, dass sie mit den hierarchischen Prinzipien in Einklang geblieben wäre; was man ihm nicht verzieh, war, dass er die Schrift so interpretierte, wie seine aus ihr allein genommene Glaubensüberzeugung (328) verlangte, die ihn in Gegensatz zur Hierarchie bringen musste. Einen solchen Gegensatz aber kennt Bernhard nicht. Glapio hat ihn besser verstanden, wenn er in dem Gespräche mit Brück äusserte: "Bernhardus sagt in einer epistoln: recipimus edicionem forciorem prima et ergo recipit ecclesia evangelium Matthei et non Bartholomei". Das sollte heissen: die Kirche -- und ihre Repräsentanten sind die Kirchenväter -- entscheidet über das, was Norm sein soll, nicht das Alter qua solches, der fons rivuli, wie Luther sagen würde. --

An allen diesen Punkten haben die Gegner Bernhard richtiger beurteilt, was freilich weniger ihne zum Verdienst gerechnet werden kann -- sie interpretieren von vorgefasster Meinung aus -- als vielmehr auf Rechnung der Kontinuität der Geschichte kommt bez. des römischen Traditionsprinzipes. --

Man darf nun aber nicht übersehen, dass auch Luther, so originell und subjektiv er Bernhard beurteilt hat, doch andrerseits ihn in der Beurteilung gelassen hat, die er zu seiner (Luthers) Zeit genoss, und man muss auch sagen, dass diese vorgefundene Schätzung auf die seinige nicht ohne Einfluss war. So sehr auch Luther den frommen Bernhard herausstellt, den heiligen hat er nicht seiner Stellung entsetzt. Auch er spricht von divus Bernhardus (WA 2,15 u. ö.) bewundert die Wunderwerke, die er gethan aht, schätz den bewährten Prediger (WA 8, 601, 622, 332 These 68), lässt ihm und giebt ihm zugleich neu den Nimbus, der ihn umgab. Ja, auch als den Idealmönch hat er ihn stehen lassen formell, inhaltlich freilich modifiziert im Sinne des Mönchtums, wie er es noch gelten liess. Und wenn er an Origenes die Allegoristerei tadelte, wie wir sehen werden, sie bei Bernhard aber nicht nur bestehen liess, sondern schätzte und verwertete, ist es nicht auf das Urteil der Kirche zurückzuführen, der jener anrüchig, dieser wohlgelitten war? Wenn Luther einmal gelegentlich einer Exegese sagt: "so denkt Bernhard (329 mit der ganzen Kirche" (WA 2,15), so liegt darin unbefangen ausgesprochen, dass er ihn auch mit der Gesamtkirche verbunden gedacht hat. Die traditionelle Züge können dann nicht mehr befremden. --

Und nun die letzte Frage: Ist die Frömmigkeitsstimmung, die für Luther an Bernhard das Entscheidende war, wirklich bei diesem vorhanden gewesen, oder handelt es sich auch hier um Eintragung subjektiver Ueberzeugung? "Wenn Luther zu der Gegenwirkung gegen den werkgerechtlichen Zug des katholischen Christentums aufgefordert wurde, so hat er selbst am besten gewusst, dass Bernhard und andere Männer des Mittelalters die Gnade Gottes über die Verdienste erhoben haben" urteilt Ritschl gelegentlich der Besprechung des antinominalistischen m. a. Katholizismus. Und in der That war die Betonung der göttlichen Gnadenthätigkeit ein Berührungspunkt zwischen Luther und Bernhard. Liess selbst die Scholastik wenigstens formell der Gnade das prius, so hat Bernhard doch in einer seit Augustin (Bernhard nennt selbst Augustin seinen Lehrer) einzigartigen Weise die Ausschliesslichkeit der göttlichen Thätigkeit und die Nichtigkeit menschlicher Verdienste betont. Die Rechtfertigung war, ihrer sekundären Bedeutung als blosser Uebergangsstufe e statu irae in statum gratiae entrückt, innerste das Individuum ständig begleitende Erscheinung geworden. Hier gab es Stellen, die in ihrer Hervorkehrung der iustificatio per fidem mit Luthersehcr Rechtfertigungslehre sich deckten. Ganz richtig hat Luther in der humilitas den Grundbegriff Bernhards erkannt. Und bei beiden konzentrierte sich die göttliche Gnadenerweisung in Christi Leiden und Sterben. Was Luther unter Berufung auf Bernhard über Christi Werk gesagt hat, war nicht (330) hineingetragen, sondern dort wirklich vorhanden, Christus als Vorbild der Demut, und mehr noch: die Fruchtbarmachung der kirchlichen Versöhnungslehre für den persönlichen Glauben, die nicht sowohl ethische wie dogmatische Wertung des Sühnetodes Christi für die individuelle Frömmigkeit (cf die von Luther citierte Stelle WA 8,601 = vot02#106), die in ihm nicht die tote Wegnahme einer Schuldmasse, sondern das Gericht der Sünde und zugleich die Liebesthat Gottes erlebte, ist ein Verdienst Bernharscher Mystik. Andrerseits wiederum ist die Betonung der Gemeinschaft der Gläubigen für die Gestaltung der Gemeinschaft mit Gott, wie wir sie an einer Stelle oben bei Luther sahen, in Bernhards Sinne. Ebenso hat darin Luther den Mystiker richtig aufgefasst, dass er ihn nicht sowohl das Vollendungsziel des Frömmigkeitsprozesses als vielmehr den Weg beständiger Demut dorthin in den Vordergrund stellen lässt. Bernhard velegt durchschnittlich die unio mystica aus dem irdischen Leben hinaus, das hängt damit zusammen, dass ihm das spekulative Element fehlt. Und selbst wiederum die Betonung des beständigen unruhigen Strebens nach Gottesgemeinschaft wird bei ihm glücklich reguliert durch die Christusmystik, die dem flatterndem Vogel ein Nest bieten konnte. So hat, aufs Einzelne gesehen, Luther ein gutes Recht gehabt, Bernhard als kirchlichen Zeugen seiner Frömmigkeit zu betrachten. Aber wohl gemerkt, aufs Einzelne gesehen! Das Ganze Bernhardscher Mystik war doch etwas Anderes als die Luthersche Frömmigkeit. Auch hier gilt das, was oben gesagt (331) wurde, dass es nicht angeht, das "Zeitliche" zu überspringen, wenn es gilt, eine Persönlichkeit zu würdigen. Die Bernhardsche Frömmigkeit als Ganzes ist mittelalterlicher Frömmigkeit, und ihr Unterschied von den herrschenden Lehranschauungen ist nur der, dass sie Frömmigkeit, keine systematisierte Dogmatik ist. In der Reflexion des frommen Gemütes mussten notwendig diejenigen Elemente in eigenartiger Weise heraustreten -- dass sie in voller Reinheit heraustreten, gereicht Bernbard zum Lob, -- die durch den Wechsel der Zeiten hindurch als urchristliches Erbe, wenn auch in Verkümmerung, sich gerettet hatten, die göttliche Liebe und Gnade nicht in Unterordnung unter den Gesichtspunkt des Verdienstes, sondern als die gesamte Lebensthätigkeit begleitende und verursachende Mächte, die im gläubigen Vertrauen erfahren werden. Hier liegt eine, wertvolle, Seite der dogmentgeschichtlichen Bedeutung der Mystik überhaupt, die in Bernhard ihren Culminationspunkt erreicht hat. Gerade diese Seite zeigt aufs deutlichste die Continuität Luthers mit dem Mittelalter; sie empfunden zu haben macht ihm alle Ehre. Aber das Gefäss, in dem der kostbare Schatz der Mystik verwahrt wurde, verrät doch immer wieder das Mittelalter. Es soll weniger Wert darauf gelegt werden, dass Bernhard doch immer wieder in die landläufige Verdienstlehre hineinfällt, als vielmehr darauf, dass Bernhard in dem m. a. Lebensideal geblieben, ja dasselbt mächtigst gefördert hat. Dieses Ideal aber ist das Mönchtum! (Catharinus hat die Bedeutung dieser Seite an Bernhard sehr richtig erkannt). Es erfährt die gesamte "weltliche" Bethätigung eine lediglich negative Wertung und auf der anderen Seite wird der Wert des Mönchtums dahin gesteigert, dass die Heiligen, an ihrer Spitze die Jungfrau (332) Maria, als die Idealtypen mönchischer Demut Kultverehrung geniessen, und dass der Mönch in Devotion vor ihm die Süssigkeit Christi geniesst und in den seligsten Momenten -- die Ekstase ist Bernhard nicht fremd -- mit der Gottheit unmittelbar vereint wird. Wiederum davon die Kehrseite ist die Stimmung der Verlassenheit in denjenigen Momenten, die jenen Genuss nicht bieten. Diese Spitzen Bernhardscher Mystik hat Luther ähnlich wie bei Tauler abgebrochen. Devotion vor Christus kennt er nicht ebensowenig bei Bernhard Ekstase (so gebraucht er z. B. nicht den Bernhardschen Ausdruck vom Bräutigamsverhältnisse der Seele zu Christus), und jenes Gefühl der Verlassenheit verschwindet bei ihm hinter der mit dem Entsagen der Selbstsucht sich steigernden Hoffnung auf Gottes Gnade. Maria gilt ihm nur als die demütige Magd, nicht als die Heilsmittlerin -- Bernhard kennte beides. -- Eher hat er ein Gefühl gehabt für die heitere Seite bei Bernhard. Das trotz aller Continuität mit der Vergangenheit principiell Neue ist bei ihm die Loslösung des asketischen Lebensideals. Nicht durch das Mittel des Mönchtums hindurch wird die Gnade Gottes spürbar, sondern allenthalben, wo geglaubt d. h. Gott vertraut wird. Schwindet damit der Sonderanspruch des Mönchtums und rangiert es gleich mit den weltlichen Bethätigungen, so hat Luther den positiven Wert der letzteren in aller Schärfe herausgestellt, gerade in dem Moment, wo er sich mit dem asketischem Ideal am schärfsten auseinandersetzte (cf die Wartburgschriften de votis monasticis, de abroganda missa privata und die Kirchenpostille). Die Weltbejahung trat damit an die Stelle der Weltverneinung.

Die Beziehung zwischen Luther und Bernhard sinken auf diese Weise schliesslich zum Formalen herab; es hat doch einen ganz anderen Inhalt, wenn Luther vom Vertrauen auf Gott oder Christi Leiden spricht, als wenn Bernhard es thut. Luther selbst (333) hat von der Differenz, die klar herauszuarbeiten notwendig war, nichts gespürt, er hat -- um seine Stellung zu Bernhard auf eine kurze Formel zu bringen -- Bernhard lediglich vom Standpunkte der Frömmigkeit angesehen, die bei ihm unter mittelalterlicher Hülle vorhanden genuin-christlichen Elemente dieser Hülle entkleidet und damit Bernhard auf die Höhe reinen apostolischen Christentums hinaufgehoben und seine eigene Wiedererweckung des Evangeliums mit ihm identifiziert (n333). Die Gegensätze, die bei Bernhard den Charakter des damaligen katholischen Zeitalters wiederspiegelnd oft scharf heraustreten und nur durch das Band der Persönlichkeit zur Einheit verbunden werden, hat er nicht empfungen.

Kapitel 15. Bonaventura, side 333.

"Der Schultheologen Kunst mit ihrem Spekulieren in der h. Schrift ist nichts denn lauter Eitelkeit und menschlische Gedanken nach der Vernunft. Davon hab ich viel im Bonaventura gelesen, aber er hat mich schier taub gemacht. Ich hätte gerne gewusst und verstanden, wie Gott mit meiner Seele vereinigt sei, aber ich konnte es nicht daraus lernen" (Tischreden) -- mit diesem gelegentlich geäusserten Worte datiert Luther selbst seine Kenntnis Bonaventuras in die Zeit des ersten Heranreifens. Die Erinnerung täuschte ihn nicht; unter denen, (334) die dem kranken Gemüte des Mönches Frieden bringen sollten, ist neben Bernhard und Augustin auch Bonaventura gewesen. Und sind seine Psalmenvorlesungen der erste Niederschlag seines religiösen Werdens, so begegnet neben jenen auch dieser als traditionelle Stütze. Als Stütze! Was der Reformer später sagen konnte, er habe den Frieden für die Seele aus Bonaventura nicht finden können, vielmehr nur eitles Spekulieren menschlicher Vernunft, hat er in den Anfangsjahren thatsächlich nicht empfunden. Er hat aus Bonaventura ebenso gut "gewusst und verstanden, wie Gott mit der Seele vereinigt sei", wie er es aud den übrigen ihm bekannten Mystikern wusste, -- keineswegs spekulativ, sondern praktisch religiös-ethisch.

Dem entsprechen seine Aeusserungen über Bonaventura. Auch Bonaventura gehört zu denen, welche aus Erfahrung (experti) wissen, wie die kranke Seele durch Thränen der Ergebung und Hoffnung geheilt wird (WA 3,233). Und heisst es im Psalmwort: Auf meinem Bette und in der Frühe will ich deiner gedenken, so stimmt er Bonaventura zu, wenn er "in seinen Meditationen" schreibt, dass Jesus also gehandelt d. h. am Morgen und Abend zu Gott gebeten habe (WA 3,358). Ist hier die Vorbildlichkeit Christi nach Muster der Mystiker die Pointe, so sind es ebenfalls mystische Gedankengänge, welche Christus als unicum et singulare firmamentum totius fidei bezeichnen, wie es in der Messe genossen wird. Daher mit Recht Bonaventura gesagt hat: Tolle hoc sacramentum et erit confusa gentilitas et idolatria per omnem Ecclesiam (n334). -- (335)

Nunmehr allerdings tritt Bonaventura als Zeuge mystischer Frömmigkeit in Luthers Schriften zurück. Er wird Luther verdächtig, noch ehe er den Areopagiten fallen liess; die in de Ablassfrage von Luther vertretenen Ansichten wollen zu ihm nicht allenthalben stimmen. Wie aber stets in solchen Fällen sucht Luther, solange es geht, die Autorität der Tradition festzuhalten. Nicht direkt haben seine Gegner ihn auf die zwischen ihm und Bonaventura bestehende Discrepanz  gestossen, weder Eck, noch Tetzel oder Prierias, vielmehr hat allem Anschein nach das der Abfassung seiner Thesen voraufgegangene Studium oder wahrscheinlicher die durch die Polemik der genannten Gegner veranlasste Vorarbeit zu den Resolutionen ihn veranlasst, neben anderen scholastischen Autoritäten auch den Kommentator des "Meister von hohen Sinnen" einzusehen; und was er hier fand, setzt er sich selbst als Gegenargument -- nach bekannter scholastischer Metode.

Bonaventura hat gesagt, man dürfe dem nicht entgegentreten, der dem Papste Gewalt in das Fegfeuer zugestehe; das widerstreitet Luthers These (26), dass nicht kraft Schlüsselgewalt, sondern höchstens fürbittweise der Papst den Seelen im Purgatorium etwas zukommen lassen könne (n335). Das Faktum des Ausspruches von Bonaventura ist nicht zu bemäkeln, aber Luther erklärt die Autorität des Heiligen in solcher Sache für nicht ausreichend, und dann will er überhaupt den ganzen Ausspruch geltenlassen; er enthalte ja eine Klausel: addit se ipsum exponens "dummodo id constet per auctoritatem manifestam aut dictamen rationabile" (Bonaventura sagt: dum tamen hoc dictet ratio vel auctoritas manifesta). Eine manifesta auctoritas existiert aber noch nicht, ergo etc. Ganz Unrecht hat Luther mit seiner Interpretation Bonaventuras nicht, derselbe lehnt im ganzen Vorlauf des betr. Abschnittes (336) allen Einreden gegenüber nachdrücklich die Jurisdiktionsgewalt des Papstes in das Fegfeuer ab, und vertritt nur eine Zuwendung per modum suffragii, um erst zum Schlusse die obige Konzession zu machen unter Verklausulierung. Allein Luther überschätz die Bedeutung dieser Klausel; er übersieht, dass Bonaventuras Ausführungen trotz allem ausmünden in eine Verherrlichung der Papstgewalt (n336). Den Nachdruck auf das non esse resistendum zu legen war jedenfalls mehr dem Sinne Bonaventuras gemäss als das Betonen der Klausel, die sich aus der geschichtlichen Situation erklärt als Produkt einer Zeit, deren Meinung über die Abgrenzung der Pontifikalgewalt im Flusse war, die einerseits den in kirchenrechtlichen Dingen sich geltend machenden konservative Zug nicht verleugnen konnte, andrerseits durch die Macht vorwaltender Tendenzen vorwärts getrieben wurde. (cf auch Brieger: Das Wesen des Ablasses am Ausgange des M. A.,'s 1897, S. 24).

Stark subjektiv bedingt ist Luthers Auslegung einer Stelle aus Bonaventura, dass man dem Ablass gegenüber die übrigen guten Werke nicht gering achten dürfe, da dieselben vielmehr wertvoller seien quo ad praemium essenciale obtinendum; auch andere neben Bonaventura hätten so gedacht und dennoch die Ablasslehre auf den thesaurus meritorum Christi et ecclesiae gegründet (WA 1,600 = res08#56). Allerdings betont Bonaventura -- Luther giebt seine Aeusserungen sehr frei wieder -- und noch mehr Thomas (n336a), den Luther wohl an erster Stelle unter den alii meint (cf WA 1,609 = res09#57), dass die guten Werke durch die Indulgenzen nicht überflüssig werden, (337) allein von da aus bis zu Luthers These quod dans pauperi aut mutuans egenti melius facit quam si venias redimeret war noch ein weiter Schritt. Für die Kirche war der von Bonaventura u. a. aufgestellte Satz Verlegenheitsauskunft, mit welcher sie sich durchhalf die Widersprüche ihrer Bussinstitution; es galt einerseits durch die Ablassspenden die Gnadenmacht der Kirche zu zeigen, andrerseits doch eine Schranke aufzurichten, um einen allzureichlichen Gebrauch, der schliesslich die kirchliche Zuchtgewalt gesprengt hätte, zu verhüten (n337). Darum wurde die satisfaktorischen Werke trotz Ablass in ihrem Werte gesteigert; beides vertrug sich schlecht miteinander, die Kirche machte durch ein Sowohl-als auch das kaum Mögliche möglich. Den scharfen Gegensatz aber, welches Luther statuiert, hat Bonaventura nicht gemacht. Den Ablass kann Bonaventura nicht genug rühmen, die bona opera sollen Mittel sein, ihn besonders wirksam zu machen, und so sehr Luthers Motivierung seiner These (quia per opus charitatis crescit charitas) formell in scholastischen Bahnen sich bewegt (cf Bonaventura: quia semper plus valent [indulgentiae], si homo sit in caritate, quam valeat obsequium vel aliud aliquid, pro quo indulgentia conceditur), so sehr drückt seine Hervorkehrung der Absolutionsgewissheit, die der Priester nur kundthut, nicht sakramental giebt, die mittelalterliche Ablassschätzung nieder und steigert die opera charitatis in einem dem Mittelalter fremden Sinne. Sie beginnen ihres Heilswertes verlustig zu gehen und die Bahn zu betreten, welche zur Schätzung die Liebesthätigkeit als Auswirkung der Heilsgewissheit hinführt. Und dafür soll Bonaventura Zeuge sein. -- (338)

Wesentlich richtiger hat Luther die mittelalterliche Denkweise durchschaut, wenn er unter Heranziehung derselben Stelle bei Bonaventura den oben erwähnten inneren Widerspruch der kirchlichen Bussinstitution aufdeckt, und an die Stelle des Sowohl-als auch ein Entweder-oder setzt (WA 1,609 = res09#57). Charakteristisch bleibt freilich, dass ihm entgangen ist, dass er in ganz verschiedenem Sinne beide Male dasselbe Citat verwertete. --

Weiter vermag Luther mit Bonaventura nicht zu gehen, er beginnt den Pelagianismus bei ihm zu spüren. Bonaventura hat es für möglich gehalten, dass ein Mensch sine veniali peccato sein könne (n338), dadurch wird den meria sanctorum Raum gegeben. Vorsichtig nennt Luther des Bonaventura Lehrmeinugn einen "Irrtum" (deficit) oder "Lapsus".

Aber mit unbedingten Zustimmung, auch auf mystischemn Gebiet, ist's vorbei. Er verfällt dem Spott, welchen Luther über den Areopagiten giesst, seines Allegorisierens wegen. Wie dieser die kirchlich Hierarchie allegorisiert habe, so Bonaventura die freien Künste, die er allegorisch auf die Theologie habe (WA 6,562. cf Bonaventura: de reductione artium ad theologiam (opera ad Clar. Aqu. V 317ff). Wie soll er (Luther) da nicht sich anheimisch machen können, über jedwelches Ding zu allegorisieren? --

Als es galt, den Papisten Inkonsequenz in der Frage der Mönchgelübde verzuhalten, da sie ja nicht selbst von dem in diesen vorgeschriebenen Gehorsam und der Armut dispensierte bei Erwähnlung von Mönchen zu Bischöfen, musste Bonaventura Luther als Beispiel dienen (WA 8,648 = vot07#9, cf EA X2,458). Bonaventura sei Kardinal geworden, also (339) über die ursprüngliche Unterstellung unter den Abt des Klosters hinausgehoben worden.

Ein Gesamturteil über Bonaventura hat Luther an 2 Stellen ausgesprochen. Es ist sehr milde ausgefallen, ein Beweis, wie fest die Eindrücke der Mystik aus der ersten Zeit bei ihm hafteten. Das Urteil ist ähnlich dem über Bernhard. Er gilt als incomparabilis vir, in quo multum fuit spiritus und wenn  er in manchen Punkten geiirt habe -- Luthers sonstige Aeusserungen zeigen, in welchen -- so ist das nicht sowohl seine, als vielmehr des Papstes Schuld gewesen, der als Antichrist auch die Ausserwählten verführt hat (o. v. a. V 388). An anderer Stelle (WA 8,127 = latom07#38) heisst es: "an ihren Früchten wird die Philosophie und scholastische Theologie erkannt. Ob Thomas Aquino verdammt oder selig ist, steht bit mir sehr starkt im Zweifel, eher möchte ich Bonaventura selig glauben". Diese Zusammenstellung mit Thomas begegnet schon früher, es zeigt, dass Luther den Bonaventura aus seinem Zusammenhange mit der Scholastik nicht gelöst hat. Offenbar hat er die Aehnlichkeiten gespürt, welche in der Ablass- und Bussfrage zwischen Thomas und Bonaventura thatsächlich bestanden, da beide sich auf gleichem Wege zur Stärkung der papalen Macht in der Ablassinstitution befinden. Ganz überwunden hat er dem Widerspruch nie, der von hier aus gegen Bonaventura sich ihm erhob, aber doch erreicht er nie die Stärke des Protestes gegen Thomas. Bonaventuras Frömmigkeit hat das in erster Linie verhindert. Die Klänge, welche im Psalmenkommentar am lautesten klangen, hallten in Luthers Seele nach, nicht zum wenigstens die in Bonaventuras Meditationen über das Leben Jesu angeschlagenen Töne (Dass Bonaventura hier Bernhard so sehr viel reden lässt, mag die besondere Hochschätzung mitveranlasst haben). Sie haben Luther das Thema angegeben, die Vorbildlichkeit Jesu, wie er sie im Gefolge der Mystik postulieren musste, bis in die kleinsten Züge hinein in wechselnder Tonart lebendig (340) werden zu lassen. Die Zartheit, Innigkeit und schlichte Wärme, welche Luther in einzelnen Zügen aus dem Leben Jesu zu gerleihen weiss, hat er von Bonaventura gelernt (n340). Die Spekulation, die ihn späterer Aussage zufolge von Bonaventura abgeschreckt haben soll, hat er thatsächlich nicht so sehr stark empfunden, Allegorisieren hat er auch bei denen getadelt, die ihm nicht als Mystiker galten, und die Art und Weise seines Tadels trifft mehr die Form (die Allegorie), nicht Inhalt und Wesen (das spekulavite System). Dass Bonaventuras Mystik umrahmt war von platonisierender Metaphysik und Pantheismus. hat er nicht empfunden. Es ist daher auch nicht richtig, wenn Hering (Luther und die Mystik, S. 13) nur die Abneigung gegen die Spekulation als Grund für Luthers Abwendung von Bonaventura anzugeben weiss. Treibenes Motiv der Abwendung ist der Verdacht auf Pelagisnismus gewesen, und die Abwendung ist nie eine völlige gewesen.

Neben der Mystik ist dafür aber noch als weiterer Grund die eigentümlich vermittelnde Dogmatik Bonaventuras heranzuziehen. Bonaventura ist keingeswegs strenger Realist, er bewegt sich stark nach Seite der Nominalisten und Scotisten herüber, ohne doch zum konsequenten Scotismus mit der Annahme göttlichen Wilkürwillens fortzuschreiten. In dieser Hinneigung zum Scotismus aber traf er mit Luther zusammen. Signifikant zeigt sich die Berührung in der Sakramentslehre. Die Ablehnung des opus operatum und die Fassung der Sakramente als Vehikel für die (341) Gnadenzuwendung ähnelte den Gedankengängen Luthers; gerade in der Polemik gegen das opus operatum und der kräftigen Betonung der göttlichen Initiative besassen beide einen starken Einheitspunkt (Dabei ist die Differenz der Fragestellung nicht zu übesehen. Luther betrachtet a specie hominis (Glaube, nicht mechanisch-wirksames Hinnehmen nisi obicem posueris), Bonaventura a specie dei (Freihet oder Gebundenheit Gottes, Mittelweg des Sich-Bindens ex decreto). Luther hat das zwar nicht ausdrücklich betont, es drängt sich aber von selbst ab. --

Dass Luther Bonaventura eifrig gelesen hat, ist nicht auffällig; die grosse Zahl der Drucke beweist des Mystikers Beliebtheit, Gersons Empfehlung wird ihm auch zu gute bekommen sein. Pellikan lernte ihn ca. 1494 im Kloster durch Magister Johannes Altzinger kennen. Auch Emser hat ihn gekannt und spielt ihn aus gegen Luther (Enders: Luther und Emser I 81). Bonaventuras meditationes vitae Christi waren, "in allen Ländern der europäischen Christenheit verbreitet und haben mehrere Jahrhunderte lang die Grundlage zahlloser Betrachtungen und Predigten gebildet". -- Wie immer aber, so hat auch Luther her souverain mit seiner Quelle gewaltet, sie gelesen von den ihn bewegenden Ideen aus und von seiner persönlichen Ueberzeugung zue beurteilt. So darf es u. a. nicht Wunder nehmen, dass er nur dem Kommentar zum 4. Buch der Sentenzen seine Aufmerksamkeit zuwandte, die übrigen Bücher ignorierte. Bei Petrus Lombardus ist er genau so verfahren.

Fra kapitel 16: Gerson. side 344.

In seiner Untersuchung über "Luther und die Mystik" gedenkt Hering auch des Einflusses, den Johannes Gerson auf Luthers religiösen Entwicklung gehabt hat. Er thut es in Anlehnung an die bekannten, aus den Tischreden und exegetischen Kommentaren geschöpften Aeusserungen; sie hatte schon Köstlin verwertet, sie sind auch für die späteren Biographen die Grundlage geblieben. Sie gipfelten in dem Satze, dass Gerson allein von geistlicher Anfechtung handle, alle anderen, auch Augustin, nur von leiblicher. Als er selbst in schwerster geistlicher Anfechtung lag, hat er Gerson erstmalig gelesen, im Kloster zu Erfurt (cf EA op. ex. XVIII S. 305); an ihm hat er sich aufgerichtet, wie an Bernhard, Augustin und Bonaventura. Hering hat sich bemüht, im Einzelnen aufzuzeigen, wie in Luthers Gedangengängen des grossen Parisers Theologie sich spiegelt; es fällt auf, wie gegenüber der Darstellung Bernhardinischen und Taulerschen Einflusses auf Luther die Linien nur wenig schaft gezogen werden, wie die Belegstellen aus Luthers Schriften spärlich sind. Das konnte nicht anders sein: Luther citiert Gerson als Mystiker in der Zeit bis 1521 -- mit zwei Ausnahmen, in denen aber auch das Spezifisch Mystische in Luthers Sinne fehlt -- überhaupt nicht. Daraus geht hervor, dass Gerson als Mystiker einen nicht allzugrossen Eindruck auf ihn gemacht hat, er hätte sonst wie bei den übrigen Mystikern, die er las, wohl auch Gerson öffentlich seinen Dank ausgesprochen, er erwähnt ihn in seinem ersten Psalmenkommentar aber da nicht, wo er seinem späteren Zeugnis zufolge erste Gelegenheit gehabt hätte, bei Erörterung der geistlichen (343) Anfechtung. Ein innerer Grund ist bei allem Unterschied zwischen germanischer und romanischer Mystik nicht einzusehen; man sollte vielmehr vermuten, dass Luther durch Gersons Theologie sich eher habe angezogen fühlen müssen, als etwa durch Bonaventura oder gar den Areopagiten. Der versöhnende Charakter der Gersonschen Theologie mit seiner Ablehnung scholastischer Distinktionen und energischem Bemühen, dem Glauben zu geben, was des Glaubens ist (cf Schwab: Joh. Gerson S. 262ff), sein Wertlegen auf die Bibelautorität, sein milder Nominalismus, der dem Abgleiten der göttlichen Allmacht in Willkürwillen ein Gegengewicht gab durch Betonung der Sittlichkeit Gottes, damit zusammenhängend Vermeidung des Pantheismus und Betonung der Bussfertigkeit des Menschen, hätte Gerson Luther ebensowohl nahe bringen können wie die übrigen Mystiker, die er kannte. Es ist nicht geschehen, wohl kaum aber hat er auch damals schon gemerkt, was ihn von Gersons Mystik trennte; warum hätte er es sonst nicht gesagt, wie er es bei andern sagte? Die Aeusserung: Gerson quoque scripsit de vita speculativa ac ornat eam magnis titulis ac imperiti cum legunt talia, amplectuntur pro divinis oraculis. Ego legi tales libros cum magno studio et vos quoque hortor, ut legatis sed cum iudicio ist aus dem Bewusstsein späterer Zeit heraus geschrieben (cf EA latin IV 291). Das Einzige, was er an Gersons Mystik in seiner Erstlingszeit (bis 1521) zu tadeln hatte, war die Fantastik der Allegorie im Donatus moralisatus (cf WA 6,562; die Schrift ist nicht von Gerson cf. dieselbe opp. VI 835ff). Und doch hatte er selbst im ersten Psalmenkommentar auf Gersonsche Allegorese sich gestützt: facies nostra est mens nostra, id est secundum Joh. Gerson anima per intellectum et affectum ad deum conversa quod fit proprio per fidem. Econtra dorsum nostrum est Anima per intellectum et affectum a deo aversa, quod fit per incredulitatem ... non potest Deus quaeri nisi per intellectum et affectum ad eos conversos. Das war Gersonsche Psychologie und Mystik in allegorischer Form; die Allegorie hat Luther weiterhin desavouiert, und diese Mystik (344) -- sie lief auf die Anerkennung sittlich-religiöser Regungen post peccatum originale -- war nicht dag, was weiterhin für Luther Charakteristikum der Mystik war; sie hat er stillschweigend aufgegeben. Er tadelt, wie gesagt, ausdrücklich nur die Allegorese. Alles Andere, Gerson energische Rekurrierung auf die kirchliche Autorität in Fragen der Schrifterklärung, seine Berufung auf den Areopagiten, Hinneigung zum Pelagianismus u. a. hat ihn nicht bewegt. Der Grund für Beides, das Schweigen in Zustimmung wie Polemik, liegt darin, dass eine ganz bestimmte Seite von Gersons Thätigkeit sein Interesse ganz in Anspruch nahm: Gersons Kirchenpolitik. Der Schärfe, in welcher im reiferen Alter Eindrücke früherer Zeiten, die längst vergessen schienen und kaum allzu bedeutsam waren, mitunter aufzutauchen pflegen, entstammen die eingangs genannten Aeusserungen über Gerson; thatsächlich ist der Bewusstseinsinhalt, den sie wiederspiegeln, gar bald verdrängt worden durch die zwingend Macht Gersonscher Kirchenpolitik. Als Kirchenpolitiker wird Gerson erstmalig von Luther erwähnt; er hat ihn als solchen würdigen gelernt in den Jahren, das die stille unter Wirksamkeit der Mystik sich vollziehende theologische Privatarbeit, die mehr der Beruhigung des eigenen Gewissens als der Belehrung anderer galt, hinter ihm lag, und er begann, der Aussenwelt mit ihren Fragen, zunächst auf seelsorgerischem Gebiete, näherzutreten.

Und dieses Mal war der Eindruck stärker; Gerson bleibt für ihn eine Stütze, die er gegen Rom auszuspielen nicht müde wird. Wir werden nicht fehlgehen, das genauere Studium Gersons speziell in die Zeit der ersten Beunruhigung durch das Ablasswesen und der Vorbereitung für die Thesen zu legen. Und wie die Ablassfrage sich ihm zerlegte in die theoretische Frage der virtute indulgentiarum und die praktisch-seelsorgerliche nach den ethischen und sozialen Folgen des Ablasswesens und der religiösen Veräusserung, von der dieses ein Teil war, so wird auch in doppelter Beziehung Gerson von Luther herangezogen.

Die erste Erwähnung findet sich in den Fastenpredigten von 1518; Luther spricht über die Erlösung, weist sein Hörer allein auf Christum und warnt vor dem Vertrauen auf eigene Werke: (345) "Mercket nu auff, ... das ir euch nicht mit diesen oder jenen wercken erlösen werdet. Denn es wird euch gehen als einem der im Sande erbeitet, je mehr er auswirfft, je mehr auff in fellet. Darumb sind ir auch viel vnnsinig worden, als Johan Gerson sagt, das sie sich haben düncken lassen, einer sey ein Wurm, der ander ein Mann etc" (WA 1,276). Wenn auch mit Sicherheit nicht angegeben werden zu können scheint, welches Citat Luther im Auge hat, so ist doch gewiss, dass Gerson sich in ähnlichem Sinne geäussert hat. Luther hatte Recht, in ihm einen erfrischenden Protest gegen die in verknöcherte Gesetzlichkeit verfallene Werkheiligkeit seiner Zeit zu finden und ein Dringen auf Verinnerlichung. Es war ihm völlig neu, dass innerhalb der Kirche bereits ausgesprochen war, was er, so lebhaft er es empfand, doch nur schüchtern auszusprechen wagte: is (Gerson) primus cepit emergere ex illa captivitate. (Bindseil: Colloquia I 69)

Luther hat nicht verfehlt, an geeigneter Stelle auch fernerhin auf Gerson zu rekurrieren, wenn es galt, die Freiheit des Christenmenschen von mit Gefahr des Seelenheils bindenden Papstgesetzen zu erweisen. Das obige Citat kehrt wieder in der Kirchenpostille innerhalb der Predigt über Lc. 21,25ff. Luther spricht über den Vers: "Und auf Erden wird den Leuten bange sein".Die Bangigkeit versteht Luther von den geängsteten Gewissen, die von Werk zu Werk in Gelübden, Wallfahrt und Heiligendienst eilen, um Ruhe zu finden, die sie doch da nicht finden können, wie sie dieselbe suchen, "versuchen allerlei und hilfts nichts". "Und das ist eben ein Wildbrat für die Münche und Pfaffen, da giebts und lässet sich schinden, sonderlich wenn es Frauenvolk ist, da beichtet man und lässet sich lehren, absolvieren und führen, wo die h. Beichtväter hin wollen. Dieweil gehet das elend Volk hin, und ist unsers Herrgotts Zeichen zum jüngsten Tag". So schlimm wie "in diesen hundert Jahren" ist es bisher nicht gewesen, "darumb ists auch noch nic ein Zeichen (346) des jüngsten Tages gewesen denn nur jtzt". Gerson schreibt auch davon, "dass ihr viel drob toll und unsinnig worden sind". (EA 10,2,63) Das Citat, welches oben ein Wahnruf an die Werkheiligen war, ist hier unter teleologisch-kosmologischen Gesichtspunkt gestellt.

Wiederum praktischer Abzweckung dient die Heranziehung Gersons in der Frage der Verbindlichkeit der Gelübde. In der confitendi ratio von 1520 unterscheidet Luther Gelübde an die Menschen und an Gott. Erstere gelten nur solange als es der will, dem man gelobt. Auch giebt es konventionelle Dispense. Wie Gerson richtig meint, darf man Eide und Gelübde, wie sie an den Universitäten oder vor Grossen geleistet werden, nicht so genau nehmen, dass man jeden Verstoss als Auflösung des Gelübdes oder Meineid beurteilen wolle (WA 6,168). (n346) --

Luthers Berufung auf Gerson ist nicht wirkungslos geblieben; ihr ist es zu verdanken, wenn der grosse Pariser in der ersten evangelischen Dogmatik und der ersten protestantischen Bekenntnisschrift seine Stelle gefunden hat. In der Untersuchung de humanis legibus führt Melanchthon für seine Anschauung etiam recentiores quosdam et potissimum Gersonem an, qui nobiscum sentit, non obstringi conscientias humanis traditionibus, hoc est, non peccare eum, qui traditionem humanam violat, nisi intercedat (347) casus scandali (loci). In der Confessio Augustana heisst es ähnlich: Et in collegendis traditionibus ita fuerunt occupat scholae et conciones, ut non vaccaverunt attingere scripturam et quaerere utiliorem doctrinam de fide, de cruce, de spe ... de consolatione conscientiarum in arduis tentationibus. Itaque Gerson et alii quidem theologi graviter questi sunt se his rixis traditionum impediri, quo minus versari possent in meliore genere doctrinae (de discriminatione ciborum). Die Linie, welche Luther vorgezeichnet hatte, wird in beiden Ausführungen genau eingehalten. Wenn ferner Eberlin v. Günzburg auf Scotus, Occam, Gerson und Biel verweist dafür, dass "wol hundert iar lang und lenger hat ie meer vnd meer zu genomen klein haltung solcher ceremonien", so reicht er sich in der Beurteilung Gersons den Reformatoren an. --

Mit den Anschlag der 95 Thesen wurde Luther selbst, ohne es zu wollen, Kirchenpolitiker. Er wurde hineingezerrt in der Unruhe kirchenpolitischen Treibens, er musste seine Sätze vor der Oeffentlichkeit vertreten, es war ihm willkommen, den grossen Pariser als Stütze für seine Ansichten anführen ziu können. Seine Autorität hat er gegen die Kurialisten ausgespielt und sich mit ihr gedeckt, aus der Rüstkammer der Gersonschen Schrift de indulgentiis immer neue Waffen holend.
In These 8 schränkt Luther die Wirkungskraft der Busskanones strengstens auf die Lebenden ein und leugnet ihre Nachwirkung ins Fegfeuer. An vierter Stelle bringt er das Argument, die Bussbestimmungen selbst gäben deutlich Tage und Jahre für Fasten, Vigilien, Wallfahrten etc. an, daraus ginge hervor, dass mit dem Tode diese Bestimmungen ein Ende haben, da es im Jenseits kein Fasten, Wallen oder sonstiges an Körper -- der ja nicht ins Jenseits mitwandere -- Gebundenes gäbe. "Daher wagt Johannes Gerson die Ablässe zu verdammen, die für viele 1000 Jahre gegeben werden", denn -- so ist Luthers Schluss -- (348) auch für ihn geht ins Jenseits die irdische Strafe nicht mit hinüber (WA 1,545 = res03#6ff). Gersons Traktat de absolutione sacramentali liegt Luthers Aeusserungen in erster Linie zu Grunde, heranzuziehen ist auch seine Schrift de indulgentiis. Gerson betont scharf, die Ablässe seien als Dispensationen zu fassen, sie seien aber vernünftig und de Erbauung dienend zu handhaben. Ablässe, die ohne vernünftigen Grund allein den Menschen zu Liebe oder aus ähnliche Motiven gegeben werden, haben keine Wirkungskraft. Propterea fatuae sunt et superstitiones quaedam intitulationes de Indulgentiis 20 mille Annorum; -- Luther gebraucht im Anschluss an Gerson die Formel fatuas et supersticiosas titulationes, -- und man solle durch die Prälaten Vorsorge treffen (providere sagt Luther mit Gerson), dass der Ablass nicht zum Gelächter werde. Die Hinübertragung der Strafenjahre auf das Purgatorium, sagt Gerson an anderer Stelle, rufe ein Bedenken wach; die Welt wird ja einmal ein ende nehmen, also auch das Fegfeuer, also können auch die Strafen nicht endlos sein (op II 408. cf 516).

Gemeinsam hat Luther mit Gerson den Protest gegen die Uebertreibungen der Ablassverkündiger, ihn hat er ebenso als eine befreiende That empfunden wie Gersons Streiten gegen die Ueberschätzung des Ceremonienwesens. Durchaus richtig ist ihm bewusst geworden, dass Gersons Anschauung vom Ablass nicht auf gleicher Stufe stand mit dem, was in seiner (Luthers) Zeit als Ablass galt. Gerson lässt ethische Gesichtspunkte überwiegen (s. oben) und geht über die Grenze der Dispensationsgewalt nicht hinaus unter Ausschluss der sakramentalen Befugnisse: Potestas praelatorum in dando Indulgentias non est nisi quaedam potestas dispensationis -- darin trifft er mit Luther zusammen. Auf der anderen Seite aber hat Luther mehr in Gerson gelesen, als darin stand. Gersons Protest schreitet keineswegs dazu fort, die zeitlichen Strafen aud das Diesseits zu beschränken, Nachwirkungen derselben in Fegfeuer zu leugnen, im Gegenteil er betont, wenn auch in vorsichtiger Form, die Ausdehnung des Ablasses auch (349) über die Fegfeuerzeit (n349). Gerade die Pointe also, welche Luther seinen Ausführungen giebt, fehlt bei Gerson. Darum ist auch das miraculum, wie Luther sagt, warum die Inquisitoren Gerson nicht verbrannt haben, sehr wohl begreifflich. -- (res03#7)

Noch einmal in derselben These berief Luther sich auf Gerson. Der um Gottes Willen übernommene Tod habe, da er selbst die grösste Strafe sei, befreiende Kraft; wo die grösste Strafe aufhört, haben auch kleinere keinen Platz, und die Seele des Gestorbenen fliege sofort gen Himmel. Der Ansicht sei u. a. Gerson. (WA 1,547 = res03#16) Auch hier spricht Luther Gerson zu viel zu. Gerson hat keineswegs das Interesse, die kanonischen Strafen auf das Diesseits zu beschränken, vielmehr empfiehlt er aus praktischen Gründen, die Strafen hier auf Erden abzubüssen, das es hier milder zugehe als im Jenseits in Purgatorium ubi regnat horrenda et quodammodo furiosa iustitia. Mit Luthers These 8 stimmt er also auch hier nicht, schreibt allerdings dem martyrium -- und das schloss Luther in den "um Gottes willen übernommenen Tod" ein -- eine läuternde Kraft zu; insofern hatte Luther Recht, sich auf ihn zu berufen.

An anderer Stelle, in der Resolution zu These 11, hat er es in demselben Sinne noch einmal gethan. Gerson hat dazu ermahnt, den Tod standhaft und willig pro voluntate dei zu erdulden, da ihm straftilgende Wirksamkeit zustehe (WA 1,550 = res03#45). Es muss nun auffallen, dass Luther an dieser Stelle gemerkt hat, dass zwischen ihm und Gerson doch eine Differenz bestehe. Er weiss nunmehr, dass sie gerade den springenden Punkt seiner Argumentation betrifft: igitur moriturus prorsus nihil est imponendum neque remittendi sunt ad purgatorium cum residuo poenitentiae (ut Gerson in aliquo loco asserit). -- Wenige Seiten nach der ersten (350) Citierung stehe dieses -- richtigere-- Urteil. Das ist nur möglich bei lebhaftem subjektivem Empfinden, das nicht in objektiver Ruhe an den Schriftsteller heantritt, um von ihm zu lernen, sondern die vorgefasste Meinung in ihn hineinträgt, sowie nur flüchtige Berührungspunkte mit derselben bemerkbar werden. --

In der Antwort auf den Dialog des Prierias äussert sich Luther wiederum anders, mehr nach der ersten Aeusserung hin. Er sagt, Gerson erkläre die opiniones über die Ausdehnung der Papstgewalt für ad utramque partem probabiles; da werde es ihm (Luther) wohl erlaubt sein, das es sich, wie Gerson beweise, um kein Dogma handle, anderer Meinung zu sein als Prierias; in der ebenfalls noch nicht dogmatisch festgelegten Frage der immaculata conceptio dürfe ja auch jeder nach Belieben denken. (n350)

Der Ablass war verknüpft mit dem Busssakrament. Indem Luther jenem auf bescheidenstes Mass zurückführte, gab er zugleich diesem neue Gestalt. Er beschränkte die Sakramentalgewalt des Priesters auf ein minimum und legte allen Nachdruck auf die Herzensbeschaffenheit des empfandende Subjektes. Der Glaube ist punctum saliens für die Wirkungskraft der Sakramente. Auch dafür hat er sich auf Gerson berufen. Er wünscht ut tres illae veritates Joannis Gersonis iam diu in omnes libros et aures transfusae prudenter intelligendae sint, puta, quod non ideo confidat sese homo esse in statu salutis, quia potest dicere se dolere de peccatis, sed multomagis id advertat, si sic optet sacramentum absolutionis, ut credat, si ipsum fuerit assecutus, sese absolvi. Hoc enim est sacramentum in voto suscipere, id est in fide verbi vel desiderati auditus (WA 1,596 = res08#18f). Es ist möglich, dass Gerson sich in ähnlichem Sinne geäussert hat (n350a), als Stütze der (351) Lutherschen Ansicht darf er darum nicht gelten. Allerdings weist Gerson diejenigen, welche von Zweifel an der Genügsamkeit ihrer Reue gequält sind, hin auf die göttliche Gnade, die als Gnade geschenkt, nicht als meritum erworben wolle, aber damit tritt er aus katholischen Bahnen nicht heraus. Nominell hat die katholische Kirche stets das Prävalieren der Gnade betont. Die Differenz liegt in der Auffassung derselben. Gerson steigert nun die sakramentale Wirkungskraft der Bussgnade dahin, dass er sie die attritio zur contritio machen lässt, und damit thit sich zwischen ihm und Luther die Differenz zwischen mechanischer und subjektiv durch persönlichen Glaubensakt bedingter Wirkungsmacht der Gnade auf. Diese Differenz aber ist eine prinzipielle, es bedarf des Beweises nicht, dass Luther unzählige Male sie anderweitig auch als solche empfand. Bei Gerson hat er sie nicht gemerkt, die Betonung der Gnade und des Vertrauens auf sie bei Gerson hat ihn wohlthuend berührt, er hat sie gesteigert und auf eine Höhe hinaufgehoben, die ihr von Natur nicht zukam. Bei Huss hatte er es ähnlich gemacht. --

Jene Aeusserung Gersons gehört auf die Linie, welche an anderer Stelle Luther richtig gezogen hat. In seiner "confitendi ratio" beruft er sich auf Gerson als Zeugen gegen allzu grosse Aengstlichkeit des Beichtenden. Consulo, quod et Johannes Gerson aliquoties conculuit, ut aliquando cum scrupulo quis accedat ad altare seu sacramentum, videlicet non confitens, si immodestius vel biberit, dixerit, dormierit aud aliud quid fecerit aut horam unam aliquam non oraverit. Grund aber zu diesem Ratschlag sei: der Mensch solle lernen, mehr auf Gottes Erbarmen als auf seine Beichte zu vertrauen (WA 6,166). An dieser Stelle nähert sich die Beurteilung Gersons als Kirchenpolitiker einer Wertung desselben als Mystikers. Luther forscht nach der theologischen Motivation für Gersons Verhalten, er wird hingeführt zum mystischen (352) Gedanken der göttlichen Gnadeallmacht. Rom hat seine Auffassung von der Beichte in der Bannbulle verdammt, unter Berufung auf Gerson hat er "wider die Bulle des Endchrists" dieselbe widerum verteidigt (n352). Gewiss weisst Gerson die mit allzugrossen Gewissensängsten sich Quälenden hin auf die göttliche Gnade, aber das ist ein seelsorgerlicher Rat, wie ihn auch innerhalb der römischen Kirche jeder einsichtiger Beichtiger erteilen kann und wird. Mehr aber ist es nicht, keineswegs der Glaube, welcher von steter Zuversicht zu Gott sich getragen weiss und für den die Beichte eine unumgängliche Bedingung der Absolution nicht mehr ist. Gerson aber legt ihr doch solch hohen Wert bei, und in einer Schrift, welche Verhaltungsmassregeln für den Beichtenden aufstellt, schärft er Achtsamkeit gerade auf die Fälle hin, welche Luther unter Gersons Autorität als minutiös verwerfen zu können glaubte. --

Schärfer noch, die kirchenpolitische Bedeutung Gersons ganz in den Hintergrund schiebend, tritt der Gedanke der göttlichen Allmacht in den Vordergrund in einer Stelle aus Luthers Schrift gegen Latomus. Es gilt die Verteidigung seines Satzes: omne opus bonum in sanctis viatoribus esse peccatum. Luther rekurriert auf Gerson, derselbe habe die gratia dei so stark betont, dass er z. B. die Verzeihlichkeit eines peccatum veniale nur der göttlichen Gnade zuschreibe; natura sei es nicht veniale (n352a). Allerdings äussert sich Gerson in diesem Sinne, aber auch hier deckt sich Luthers Anschauung nicht ganz mit der Gersons. Für diesen ist Gott nicht sowohl sittliche Macht, als vielmehr in nominalistischem Sinne Allmacht. Gerson sagt an der von Luther citierten Stelle: divina misericordia non vult de facto quamlibet offensam imputare ad mortem, cum tamen id possit iustissime. Luther (353) würde sich 1521 nicht ganz so ausgedrückt haben, anstelle die Möglichkeit hätte er deutlicher die sittliche Notwendigkeit betont und diese durch Christus paralysiert sein lassen. Aber erinnern wir uns, dass Luther in der ersten Zeit seiner Beeinflussung durch die Mystik allen Nachdruck auf die absolute göttliche Erhabenheit legt; es wird uns weiterhin deutlich werden, dass an dieser Stelle Mystik und Nominalismus für ihn in einander griffen; das macht erklärlich, dass Gerson, in dem die Einheit dieser beiden geistigen Strömungen in mildester das Frömmigkeitsinteresse in die erste Reihe stellender Form vollzogen war, ihm Sympathie abgewann, die er in bekanntem Konservatismus auch dann noch beibehielt, als er schon weiter fortgeschritten war. Es kam hinzu, dass es ihm der Gegner gegenüber wichtig war, eine Autorität der Tradition anführen zu können. --

Bekanntlich hat Cajetan in Augsburg zur Verteidigung der Clementinischen Dekretale die Autorität des Papstes Luther vorgehalten (WA 2,8 = act-a01#18). Luther war überrascht (Haec ut erant nova in auribus meis), er rekurrierte auf die Appellation der Pariser, der Legat antwortete: die von Paris werden jr straf wol darumm nemen, und hat dann über Gerson und die Gersonisten ein Verdammungsurteil ausgesprochen. Luther hat den Sinn desselben nicht verstanden. "Wer sind doch die Gersonisten?" (spa-rel#12) fragt er, und als er von Cajetan keine Antwort bekam, hat er gemeint, der Kardinal sei ärgerlich darüber, dass er in seinen Resolutionen Gerson herangezogen hatte. (n353) Davon konnte (354) keine Rede sein, dort handelte es sich um Gersons Ansichten vom Ablass, Cajetan aber meinte Gersons Auftreten auf dem Constanzer Konzil. Er hatte über dasselbe schon früher abfällig geurteilt. Luther hat um dasselbe damals noch nicht gewusst, wie wäre ihm sonst das Misverständnis begegnet! Auch in der Folgezeit bis 1521 einschliesslich hat er für die Superiorität des Konzils über den Papst nie sich auf Gerson berufen, so wichtig das Constanzer Konzil für ihn wurde. Prierias warf ihm Gersonismus vor in demselben Sinne wie Cajetan (WA 2,53 = replic#??), er ist darüber hinweggegangen. Aber wir erinnern uns, dass jenes Konzil um der Verdammung des Huss willen in erster Linie sein Interesse gewann; seine kircehenstaatsrechtliche Bedeutung trat für Luther sehr in den Hintergrund. So blieb ihm auch die wichtigste Seite Gersonscher Kirchenpolitik unbekannt. Was er von öffentlicher Thätigkeit Gersons weiss, beschränkt sich auf den der Kirche erteilten Rat, in declarandis fidei articulis nicht nach Tradition, Recht, oder öffentlicher Meinung zu dekretieren, sondern erfahrene und im Leben erprobte Theologen heranzuziehen (WA 2,427 = releip05#40). Er hat diese Aeusserung Gersons in seinen Resolutionen über die Leipziger Disputationsthesen angeführt, zu derjenigen These, welche vom (355) Ablass handelte (10), -- Beweiss ganug, dass nur um der Stellung zum Ablass willen Gerson ihm in erster Linie auch jetzt noch wichtig war. Zu These 13 hat er ihn nicht erwähnt! Es lässt sich aus jener Stelle und der ganzen Schrift, welcher sie angehört (beachte den Titel), erschliessen, dass Gerson mit in erster Linie Luther den Mut gab, seine Thesen anzuschlagen; denn bei ihm las er, dass ohne rechtlige Fixierung eine innerhalb der Kirceh ausgesprochene Meinung nicht bindend sei (n355) -- er hat seine Thesen damit oft genug salviert. --

Wir sahen, dass schon in der Ablassfrage Luther nicht in allen Stücken mit Gerson gehen konnte. Aus weiteren Stellen geht hervor, dass er den Katholizismus bei Gerson wohl gespürt hat. Gersons Stellung in der Frage der Heiligenverehrung hat ihm misfallen; Gerson hat die Meinung ausgesprochen, den Heiligen sei im Himmel die Wirkungskraft in Gabenverleihung gegeben worden entsprechend ihrer irdischen Wirksamkeit (n355a). Luther bemerkt dazu, ein derartiges argumentum a simili sei in rebus fidei sehr bedenklich. Argumentiert denn der Teufel nicht auch a simili, wenn er sich in einen Engel des Lichtes verwandelt? Dass Gerson andererseits mit ihm übereinsstimmt in energischem Frontmachen gegen den Aberglauben des Heiligenkultus, hat Luther nicht für erwähnenswert gehalten. In der Kirchenpostille äussert sich Luther über Gersons den Cartheusern gespendetes Lob: "Es lobet Gerson die Carthüser, dass sie nicht Fleisch essen, auch in der Krankheit, ob sie drob sollten sterben" (EA 7,2,44).Aber das ist ein Mord am eigenen (356) Leibe, Paulus verbietet es Röm. 13,14; so ist also "der grosse Mann betrogen worden von der abegläubischen Geistlichkeit" -- ein absprechendes Urteil in mildester Form, nach Luthers Gewohnheit die Hauptschuld auf Rom abwälzend. --

Es erübrigt, einen kurzen Blick auf zeitgenössische Aeusserungen über Gerson zu werfen und sie mit Luthers Beurteilung zu vergleichen. Ganz allgemein gesprochen, lässt sich sagen, dass Gerson häufig citiert wurde, dementsprechend, dass seine Werke wiederholt gedruckt wurden, teils in Gesamt- tels in Einzelaufgaben.  Litterarische Grössen wie Geiler von Kaiserberg und Jacon Wimpfeling haben sich um Editionen bemüht, und so gut wie Georg Carpentarii wird mancher andere die opera Gersonis in seiner Bibliothek besessen haben. Von Oecolampadius wissen wir, dass er Gerson studiert hat. Joh. Reuchlin citiert ihn immer wieder, des späteren Cardinals Matthäus (357) Lang Lieblingslektüre in der Jugend war er, Staupitz hat in geschätzt. Wimpfeling gab ihm den Ehrentitel: doctissimus et summus zelator animarum Christi fidelium. Auf dem Baseler Konzile waren Gersons Werke feilgeboten worden; sie waren auf diese Weise nach Polen gelangt. Es ist nun auffällig, dass als Mystiker Gerson, soweit ich sehe, sehr selten gewürdigt wird, -- auch dass man vielfach ihn für den Verfasser des Buches de imitatione Christi hielt, änderte daran nichts -- allenfalls dass man aus seiner Theologie ein Wort citierte, das dem herrschenden Nominalismus entgegenkam; so wenn Andreas Proles, der Gerson hochschätzte, den Ausspruch citiert: Die Allmächtigkeit Gottes ist nicht an die h. Sakramente gebunden. Allein es handelt sich um ein Wort auf dem Constanzer Konzile gesprochen; so ist das Citat bei Proles schliesslich auch Beweis, dass die Kirchenpolitik Gersons dasjenige Moment war, welcheis ih in der Nachwelt weiterleben liess.

In der Herauskehrung derselben steht Luther also inmitten seiner Zeit. Sogar ein Emser hat sich nicht gescheut, auf Gersons de visitatione praelatorum zu verweisen, um für eine Einschränkung der vielen Feiertage zu plaidieren. Dass sodann Luthers Auffassung der Thätigkeit Gersons, wie sie von der Publizistik beeinflusst war, auch ihrerseits dieselbe beeinflusste, sahen wir schon bei Eberlin; Hutten schrieb in seiner "Clag und Vermanung" den Versen: Darum sie prangen mit Gewalt/ Gott hat ihn das nie zugestalt/ an den Rand: vide Gersonem, um alsdann im "Neu Karsthaus" (358) das Citat genau anzugeben, welches er im Auge hat. Der getreue Leser Lutherscher Schriften, Simon Hessus (= Urbanus Rhegius) rekurriert auf Gersons Polemik gegen die Misbräuche des Ablasses -- genau wie Luther. Und wenn Melanchthon Gerson nennt "eyn man ynn allenn dingen gross" oder "eyn man (alss scheynet) voll Christus geyst" so wird diese Aeusserung auch nicht unbeeinflusst sein von Luther (WA 8,295, 297; CR I, 399, 400). Auf der Linie Luthersche Anschauung liegt es jedenfalls, wenn derselbe auf Gersons de vita spirituali -- diese Schrift war ja auch Luther bekannt -- sich berief, um den päpstlichen Zwang der Verbindlichkeit der Cölibatverpflichtung zu widerlegen. Das ius divinum stehe über den canones; leide das Gewissen durch diese Schaden, so sei man verpflichtet, sich über dieselben hinwegzusetzen und der göttlichen Stimme zu folgen (n358).

Eine selbständige Stellung zu Gerson nimmt Carlstadt ein; von ihm hat in einigen Punkten Luther gelernt, nicht umgekehrt. In seinen Thesen gegen Eck citiert er Gerson wiederholt, teils zustimmend, teils tadelnd. Es handelt sich für Carlstadt um Gewinnung einer autoritativen Norm in Glaubenssachen. Gerson hat gelernt, dass man auf die Schrift gegründeten Worten eines Einzelnen mehr zu glauben habe als einer päpstlichen (359) Deklaration (These 14; cf die Thesen bei Löscher II 78ff); vollen Beifall Carlstadts findet Gersons Satz, dass ein auf die Autorität der Bibel sich Stützender mehr Glauben verdiene als ein Generalkonzil (These 17 und 18), ein Generalkonzil aber könne infolge von Unkenntnis oder Bosheit irren (These 19). Allein es fragt sich, wie die Bibel auszulegen ist: secundum literalem sententiam lautet die Antwort zunächst (These 23), aber das ist wiederum vieldeutig. Gerson behauptete: est autem sensus litteralis ... ille ... qui ex circumstantia literae cum causis dicendi et modis exponendi magis patet. Dem kann Carlstadt nicht beistimmen (These 25), auch der sensus qui stricte est logicalis sei nicht der sensus litteralis (These 26) -- das hatte Gerson auch behauptet  -- vielmehr der qui ad verbum seu verbi significationen accipitur (These 27). -- Aber es gilt noch die Autorität Augustins beseitigen in seinem bekannten Satze: ego evangelio non crederem, nisi ecclesiae me commoveret auctoritas. Gerson hat diese Worte verstanden von der ecclesia primitiva eorum qui Christum viderunt et audierunt. Carlstadt lehnt diese Deutung ab; Augustinus dicit se evangelio per catholocis credidisse (These 69 und 74), Augustin habe nur sagen wollen, wenn die Kirche nicht die Approbation ausgesprochen hätte, so hätten wir keine Gewissheit, dass es sich im Neuten Testament wörtlich um Worte Christi handle (These 73); die Superiorität der Autorität Christi über der Kirche werde dadurch nicht berührt. -- Ist die Schrift normativ, so folgt, ridiculum est sine sanctis testimoniis miraculum allegare (These 88) (360) Dementsprechend sagt Gerson: suspecta est omnis revelatio quam non confirmat lex vel evangelium (These 89 cf 90. Gersonis opp I S. 13). --

Das Neue in dieser Verwertung Gersons liegt darin, dass die von Luther eingehaltene Linie der Berufung auf Gerson als Stütze der Polemik gegen die Römlihge überschritten und Gerson zum positiven Beweis reformatorischer Grundsätze, ja des reformatorischen Prinzips alleiniger Schriftautorität, herangezogen wird. Damit beginnt die Würdigung Gersons als Kirchenpolitikers abzublassen -- ganz ist sie ja nicht entschwunden (cf die Polemik gegen die Konzilsautorität -- und Gerson als evangelischer Dogmatiker bedeutungsvoll zu werden. Carlstadt hat, wie man aus den Thesen sieht, sich gründlich mit ihm auseinandergesetzt, angesichts der Zustimmung ist der Tadel geringfügig.

Luther hat an 2 Stellen Carlstatds Beurteilung Gersons sich angeeignet. In Erläuterunn zu These 12 der Leipziger Disputation kommt er auf den Augustinschen Satz: ego evangelio etc. zu reden. Die Beziehung Gersons auf die ecclesia primitiva lehnt er wie Carlstadt ab, vielmehr rede Augustin davon, es habe ihn das Urteil der Gläubigen auf dem ganzen Erdkreise über das Evangelium zum Glauben veranlasst (WA 2,430 = releip05#57). Die Auffassung Carlstadts lehnt er daher gleichfalls ab (n360). -- Als Eck den Satz, "man müsse einem einfachen Laien, der die Schrift für sich habe, mehr glauben als Papst oder Konzil" aus der Denkschrift der Jüterbogker Franziskaner heraus inkriminierte, antwortete Luther, Gerson sei wacker (fortiter) im Widerspruch mit Eck (WA 2,649). (361) Offenbar hat Luther den von Carlstadt Zu These 14 und 17 citierten Ausspruch Gersons im Auge. -- Man darf fragen, ob nicht vielleicht Carlstadts ausdrücklicher Hinweis auf die Gersonsche Schrift de vita spirituali animae zu These 69 Luther zur Lektüre dieses Traktates veranlasst habe? Dass er gerade diese Schrift schon in seiner Klosterzeit gelesen habe, ist uns nicht bezeugt. --

Wie in analogen Fällen nahezu stets, so wirkte auch die Beurteilung Gersons durch Luther zurück auf die katholische Kirchengeschichtsauffassung. Man beeilte sich römischerseits, nun gerade gut katholische Momente an Gerson herauszufinden und sie Luther entgegenzuhalten. Ambrosius Catharinus kleidet seine Polemik in eine unwahre Form der Ironie: Quid dicam de Joh. Gersone, quem (Luther) initio vel cum laude summa producebat ... postquam autem visus est sibi hactenus obtinere, Joh. Gerson factus est simul cum aliis multis sanctis Dei etiam Antichristus et Papista ut qui cum aliis etiam attritionem confinxit (Zweite Schrift gegen Luther Bl 23). An anderer Stelle führt er Gersons regulae morales oder den sermo de omnibus sanctis und den tractatus de protestationibus oder die epistula ad fratrem Barthol. Carthusiensem -- man sieht, er hat sich fleissig in Gerson umgesehen -- gegen Luther ins Feld; nicht ohne Absicht führt er ihn ein mit der Formel: Gerson, quem recipi a te videtur (Catlut Bl 82, 21, 25, 6). Auch Emser ist in Gerson wohl beschlagen. Er spielt Gerson in der Cardinalfrage vom ius divinum gegen Luther aus: "Dann Gerson der beweist klärlich das Petrus sein primat und oberkeit nit von den aposteln sonder von Gott gehabt" (Wider das vnchristenliche buch Martini Luters .. an den Tewtschen Adel hg. von Enders S. 46) Er giebt an, wo er das gelesen hat: "gleich wie das gantze haussgesindt dem haussuatter also seyen wir al dem Romischen bapst unterworffen, der sein macht und oberkeit von Gott und keinem menschen hatt ... wie Gerson bewert de potestate ecclesiastica consideratione decima und sagt das ouch die gantze Christenliche kirch den gewalt dem bapst nit nehmen, wie sin ym den ouch nit geben mocht (ebda. cf Gersonis opp II 239ff). Weder die Fursten (362) noch ein ganz concilium vermogen dem Bapst sein gewalt zu nhemen on vrsacu .. wir mussen ein Bapst auff erden haben die weil die welt stehet (ebda. 138). -- Auch gegen Luthers Beurteilung des Geleitbruches an Huss führt er Gerson an. Sigismunds Verhalten habe "Gersoni des Konigs von Franckreich Botschaft und Cantzler so wolgefallen, das um vor fronden die ougenn vber gangen sint, wie er selber vom jm betzeuget, in tractatu de Viagio regis Romanorum littera Eiij (ebda. 136). Man habe ferner Huss mit gutem Recht verbrennen dürfen "und nicht ansehen den grossen anhang, dann Gerson schreibet das Hussen ouch vil grosser hansen angehangen seyen" (ebda. 137). -- Joh. Antonius Modestus ermahnt Luther, doch aus Gerson sich belehren zu lassen, dass man beim Streite die Liebe nicht vergessen dürfe, und dass man bei Erklärung der Schrift Verstand sowohl wie Demut besitzen müsse. (Enders III 46 und 54 und Anm. dazu). Eck hielt in der Leipziger Disputation Luther mit Recht vor, dass Gerson keineswegs den Ablass gering schätze, vielmehr ausdrücklich anerkenne, dass der Ablass vor Gott Wert habe. Der Mensch, der sich aud Ablass stütze, sei Gott angenehmer, als einer, der Ablassgnade entbehre (WA 2,345 = eck10#9. cf Gersonis opp II 517; n362).

Jene Römlinge haben Gerson nicht unrichtig wiedergegeben; er hat so gelehrt, wie sie sagten. Ja, man muss sagen, sie haben ihn richtiger zu würdigen gewusst, als es Luther that, bei dem die Einsicht in Gersons "Katholizismus" doch sehr zurücktritt. Gerson ist allerdings Reformer, aber er bleibt dabei auf (363) katholischem Boden, und seine Polemik gegen papalistische Extravaganzen wird balanciert durch die Aussprüche, die der cathedra Petri das ius divinum vondizieren. Gewiss hat Luther das Richtige getroffen, wenn er die Bedeutung Gersons in seiner Kirchenpolitik sah, aber es ist zu bedenken, einmal, dass seine Zeit ihn ebenso wertete, sodann, dass dieses Urteil nicht einer Abwägung der verschiedenen Gedankenkreise Gersons entsprang, -- Gersons Mystik blieb ihm ja innerlich fremd -- sondern der Thatsache, dass er selbst zu "kirckenpolitischen" Handeln sich gedrängt sah und daher nur von diesem Gesichtspunkte aus ihn las. Da, wo er ihn in anderer Weise wertet, ist Luther nicht originell. Kein Wunder, dass dieses stark persönliche Moment ihn die Grenzen nüchterner Betrachtung weit überschreiten liess! Darum darf freilich den Römlingen die Ehre objektiver Geschichtsbetrachtung nicht zuerkannt werden, sie haben ebenso subjektiv geurteilt wie Luther, und wenn sie dabei thatsächlich das Richtige trafen, so liegt das an der thatsächlich vorhandenen Continuität ihrer Anschauungen mit den mittelalterlichen und nachapostolichen. Luther brach mit diesen, ihm selbst ist das nicht vollauf bewusst gewesen, er glaubte vielfach im Mittelalter sich selbst zu finden; darum irren seine historischen Urteile so oft. Das zeigt sich auch an seiner Stellung zu Gerson.

Kap. 17. Zusammenfassung: Luthers geschichtliche Auffassung der Mystik.

So zahlreich bei Luther die Einzelcitate aus den Mystikern sind, so selten spricht er sich über die Muystik als Ganzes aus. Die wenigen Aeusserungen aber, die er gethan hat, sind unter (364) einander übereinsstimmend. "In tenebras et caliginem ingressa nihil video, fide spe et charitate sola vivo et infirmor (id est patior); cum enim infirmor, tunc fortior sum. Hunc ductum Theologi mystici vocant In tenebras ire, ascendere supre ens et non ens (WA 5,176) oder: theologia mystica est sapientia experimentalis et non doctrinalis (WA 9,98), nasci deum in nobis secundum statum vitae contemplativae .. rarum est ... intellegunt non nisi experti. Quia nemo novit nisi qui accipit hoc negotium absconditum. Loquitur enim de nativitate spirituali verbi increati. Theologia autem propria de spirituali nativitate verbi incarnati habet unum necessarium et optimam partem. Haec non sollicita est et turbatur erga plurima et contra peccata crescit et pugnad ad virtutem sollicita, quaerit, ubi illa victrix viciorum triumphat (ebda.) ...., doceo ne homines in aliud quicquam confidant, quam in solum Jhesum Christum, non in orationes et merita vel opera sua (Enders I 176). Diese Sätze, welche sich noch um einige vermehren liessen (WA 5,503), dürften zur Charakterisierung der Gesamtauffassung Luthers von der Mystik genügen; sie heischen eine Beurteilung. --

Zunächst dürfte es klar sein, dass Luther die Mystik nicht als eine historische Grösse würdigte, in ihr nicht eine Epoche der Kirchengeschichte sieht, deren Entstehen, Blüte und Niedergang sich geschichtlich begreift. Er hat sie durchweg religiös gefasst; nicht Geschichte, sondern Stimmung ist sie ihm gewesen, Religiosität eines ganz bestimmten Gepräges. Als solche ist sie über die Zeit und ihre Schranken erhaben; sie kann zu allen Zeiten gewesen sein und sein. Sofern sie in Paulus ihr Prototyp hat, ist sie als genuin christlich legitimiert; wer sie besitzt, darf sich glücklich schätzen, ein Jünger Jesu zu sein. Wenn Luther Augustin und Tauler als solche hervorhebt, so sagten wir schon, dass die Continuität lediglich eine religiöse ist, wir könnten Hugo v. St. Viktor, Bernhard und Bonaventura (365) hinzufügen, und in seinem Sinne die Luthersche Theologie selbst. Denn er hat sich mit der Mystik gleichgesetzt, wie das nur möglich war. --

In dieser Ueberzeitlichkeit der Mystik, wie Luther sie bestimmte, lag aber unmittelbar ein Verwischen individueller Differenzen gegeben; der von religiöser Stimmung getragene Mensch nivelliert leicht, da es ihm auf die den Verstand beschäftigenden hervorstehenden Ecken und Spitzen nicht ankommt. So stehen für Luther Hugo, Bernhard, Bonaventura und Tauler auf gleicher Linie. Dass Hugos Mystik stark intellektualistisch gefärbt war, dass Tauler pantheistischer Spekulation nahestand, und Bernhard sich in den Zirkeln der Hierarchie bewegte, hat Luther nicht gemerkt; im Einzelnen gab es hier eine Fülle kleiner und grosser Differenzen, der Dreu unter einander, wie zusammen gegen Luther, über die er hinweggeglitten ist. Nur einen, der für ihn ursprünglich auch im Kreise der Mystiker stand, ja eine Zeit lang für ihn ihr einziger Vertreter war, hat er ausgeschieden: den Areopagiten (bei Bonaventura kam es zu offenen Absage nicht). Warum? Die antwort: weil er ihm durch Eck in Leipzig verdächtig geworden war, ist für das innere Verständnis nicht ausreichend. Es ist anzunehmen, dass die Diskreditierung durch Eck den Anlass geworden ist zur öffentlichen Absage an den Areopagiten, der innere Grund lag tiefer; sonst hätte er auch Bernhard abschütteln müssen, als Eck sich auf ihn stützte. Es ist nicht notwendig, eine spätere Aeusserung Luthers zur Erklärung heranzuziehen (cf EA op ex. 14,239), schon in der uns interessierenden Zeit bietet Luther den Schlüssel, wenn er Dionysius als plus Platonisans quam Christianisans ... Christum ibi non disces (o.v.a.  V 104) charakterisierte. Er hat ihn unter die Scholastiker gerechnet und ihm das Bürgerrecht in der Mystik ausdrücklich abgesprochen (ebda). Hat er mit seinem Urteil über den Zusammenhang des Areopagiten mit dem Platonismus (besser Neuplatonismus) das Richtige getroffen, so darf man dasselbs doch nicht zu hoch einschätzen; es ist Wert- (366) urteil, nicht historisches Urteil gewesen. In dem Moment, wo sein frommes Bewusstsein sich allein auf die in Christo zu erfahrende persönliche Heilsgewissheit gründete, mussten die areopagitischen Abstraktionen und metaphysischen nicht psycholocischen Erörterungen, die er zwar ursprünglich der scholastischen Dialektik gegenüber noch als Befreiung empfunden hatte -- wir werden noch sehen warum -- ihm unleidlich werden. Was er suchte, persönliche sich an Christus hängende Frömmigkeit, fand er nicht dort, vielmehr erinnerte die ganze Darstellungsform an die scholastische Spitzfindigkeit; so musste sie mit dieser fallen, vollends, als sie nun auch noch hierarchischer Tendenzen wegen verdächtig wurde. Und einem philosophisch doch immerhin geschulten Manne, der den Aristoteles selbst traktiert hatte, konnte die Wahl, welcher von beiden Klassen der Scholastik der Areopagite zuzuweisen sei, nicht schwer fallen: Bei weitem mehr Nachdruck ist darauf zu legen, dass Luther bei Tauler, der Dionysius wiederholt citierte, Hugo und Bernhard den "Platonismus" nicht bemerkt hat. Diese Thatsache beleuchtet grell die lediglich religiöse Beurteilungsweise. --

Immerhin verdient es mehr als es bisher geschehen ist Beachtung, dass die Differenz zwischen Luther und Dionysius erst relativ spät ausgesprochen wurde. Es hat eine Zeit gegeben, da Luther sich mit areopagitischer Mystik selbst bis in die Spitzen der Extase hinein solidarisch erklärte (n366). Der Umschwung erfolgte mit der Hinwendung zur germanischen Mystik, deren Frömmigkeitslehre jene die Heilsoffenbarung in Christo zu Gunsten innergöttlich-kosmologischer Prozesse in den Hintergrund schiebende Mystik verdrängte. (367)

Aber wenn er nun selbst alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, führt nicht doch eine Linie von seiner Stellung zur areopagitischen Mystik hinüber zu seiner hohen Wertung Taulers und Bernhards? Das führt zur Beurteilung seiner Auffassung dieser Mystik. Es wird aus den Einzelabschnitten klar geworden sein, dass Luther den spekulativen ins Physische hinüberspielenden Hintergrund, der bei keinem der drei Mystiker ganz fehlte, und die mittelalterlich-katholische Klammer, die gleichfalls alle drei omschloss, nicht bemerkt hat. Er hat diese Schranken durchbrochen, kraft der Souveränität seines religiösen Bewisstseins, aber er war nicht imstande, anderen und gar sich selbst dieselben ausdrücklich aufzuzeigen. Es wird auch weiter keiner Erörterung mehr bedürfen, dass Luther den dogmengeschichtlichen Wert der Mystik als Frömmigkeitslehre richtig bestimmt hat. Die Continuität mit der Vergangenheit hat er da gefunde, wo sie wirklich vorhanden war. Aber die Inhaltsbestimmung jener Frömmigkeit bedarf noch eines kurzen Wortes. Veilleicht ist die Formel "durch Tod zum Leben" oder wie -- sehr charakteristisch -- Luther einmal formuliert hat: "Durch das Gesetz zum Evangelium" (WA 5,503) zur Charakterisierung die einfachste; sie trägt das Gepräge der am Zusammenbruch der scholastischen Heilslehre gross gewordenen Heilsauffassung Luthers. Aber was ist in jenem ductus die Hauptsache? Offenbar das Todesmoment, das Negative, nicht die positive Lebensgewinnung, und darin stimmt er mit der Vergangenheit, auf die er sich stützte. Das Moment der Unruhe überwiegt, namentlich in erster Zeit, das Ausruhen in Christo; letzteres hat den Charakter der momentanen mystischen Seligkeit nicht völlig abzustreifen vermocht, wenn es auch späterhin sich mehr verfestigt. Und wiederum bei diesem Todesprozess ist für Luther die Hauptsache die energische Betonung der göttlichen Initiative. "Und wenn Du selbst den Himmel offen sähest, Du dürftest nicht (368) eintreten, wenn Du nicht Gottes Willen über dem Eingang um Rat fragtest."

Hier nun liegt das Bindeglied zwischen Luthers Stellung zur areopagitischen und germanisch-bernhardinischen Mystik. Ein Blick auf jene Stellen, da er den Areopagiten lobt, zeigt, dass er sich dieses Lob verdient hat um seiner Betonung willen der göttlichen Initiative im Heilsprozess gegenüber scholastischer Eigengerechtigkeit. Er hat ihn gelobt aus demselben Interesse heraus, das ihn mit dem Nominalismus verband, sodass er sich als "Modernus" bekannte. Es ist notwendig, diesen Berührungspunkt jener beiden Epochen bei Luther aufzuweisen; denn er ist der Kreuzungspunkt der gesamten Mystik im Reformationszeitalter; jene Kreise, die man im engeren Sinne die reformatorischen Mystiker nennt, haben hier abgeschwenkt. Das kann hier, da am Schlusse der uns beschäftigende Epoche die Differenz im allerfrühesten Anfangsstadium ist, nur angedeutet werden, aber es musste gesagt werden, dass Luther diesen Kreisen näher gestanden hat, da er dem Areopagiten sein Lob spendete, wie später, da er ihn desavouierte. Glüchlich für ihn war in dem Momente der Annäherung der oben betonge negative Charakter der Mystik, der Nominalismus, und sein gesundes christliches Gefühl. Der erstere liess durch die energische Betonung der menschlichen Vorbedingung der "Gelassenheit". Entwerdung oder wie man es nenne, der zweite durch die Hervorkehrung des Willkürwillens Gottes, und das dritte durch die Bindung des Heils an die Heilsoffenbarung in Christo bez. der Schrift, nicht zu, dass, wie es bei den Schwarmgeistern der Fall war, die un-mittelbare göttliche Initiative auf die positive Heilserwerbung und den Heilsbesitz ausgedehnt wurde. Bei dem Wirken dieser drei Faktoren war, wenn es galt den gesamten Heilsprozess göttlich initiiert bis in allen Konsequenzen hinein zu (369) denken, die Prädestinationslehre die Folge, nicht ein Einwohnung des Gottesgeistes im Menschengeist. Standen die ersten beiden gleichsam als Ueberschrift über dem Eingang zur Heilsgewinnung; lass allen Eigenwillen ("sua quaerere") bei Seite, trete ihn nieder, Gott, der Allmächtige, giebt dir das Heil, so streckt im Dritten Christus seine Hand aus, um den also Vorbereiteten durch den Eingang hindurch zum Ziele zu führen. Allein wiederum ist klar, dass je schärfer dieses ddritte Moment betont wurde -- und das geschah bei Luther je länger desto intensiver -- die beiden anderen an Bedeutung büssen mussten. Die areopagitische Mystik und der Nominalismus versagen da, wo das fromme Gebüt an Christi sicherer Hand sich geführt weiss; sie erscheinen jetzt  als müssige Spekulation über Gottes Unergründlichkeit und treten als solche in Parallele zu der Scholastik, gegen die sie ursprünglich ein Gegengewicht gebildet hatten. Luther hat das selbst deutlich ausgesprochen am Schluss seiner oben citierten Aeusserung über die Mystik als in tenebras ire ascendere super ens et non ens: Verum nescio an seipsos intelligant, si id actibus elicitis tribuunt et non potius crucis, mortis infernique passiones significari credunt. Crux sola est nostra Theologia (WA 5,176). Mystik will er noch haben, aber keine unvermittelte. Die germanisch-bernhardinische Mystik aber kann sich nur dadurch noch halten, dass einerseits Luther das negative Moment des Verzichtes auf Eigenwillen nie hat entbehren können in seiner Heilslehre, andrerseits sie selbst Elemente mit sich führt, die vom Negativen ins Positive hinüberspielten. Diese treten jetzt hervor. Den stärksten Stoss aber musste sie erhalten, als die Ethik, die unter dem Einfluss der Mystik doch nur negativ sein konnte -- der klassische Beleg ist der Sermon von der Freiheit eines Christenmenschen -- sich in Bethätigung des in Christo gewonnenen Gottvertrauens auswuchs zur positiven Weltbeherrschung. Und war es dann hierbei eine (370) Ironie des Schicksals, dass der "Mystiker" Bernhard zum Anwalt einer Weltanschauung gemacht wurde, die der seinigen schnurstracks zuwiderlief (1), so ist sie doch zugleich Beweis, dass auch jener Stoss die Mystik aus ihrer Position nicht völlig verdrängt hat. --

Aus dem Allen ergiebt sich: Die Mystik war für Luther die Uebergangsstufe, um aus der Zertrümmerung des regulär-katholischen Heilsweges hinüberzugelangen zu dem Vertrauen auf die in Christo offenbarte Heilsgnade. Nach dem Bankerotte der eignen Arbeit am Heil bedurfte Luther eines Heilsweges, im dem dieser Faktor ausgemerzt schien. Es empfahl sich ihm die Mystik, sofern sie kräftig die göttliche Initiative betonte und den Verzicht auf positive Willensbethätigung predigte. Sie konnte isch ihm nach der Schätzung, die sie genoss, in ihrem Vertreter Bernhard als kirchlich sanctioniert empfehlen und kam dem mittelalterlich Denkenden auch insofern entgegen, als sie den Weg des Heils in erster Linie betonte, das Ziel aber -- genuin-katholisch -- nur aus der Ferne zeigte. Kein Wunder, dass der noch gut katholisch sein wollende Augustinermönch den Weg der Mystik beschritt. Wie eine Erlösung empfand er das Neue, das er zu erfahren glaubte: die Freude daran und die traditionelle Schulung liessen ihn zunächst in überschwänglichen Worten die Herrlichkeit des Weges preisen, das Ziel mehr zurücktreten. Und als dann dieses je länger je mehr in den Vordergrund rückte, in Christo erlebt und besessen wurde, und der Eine der Mystiker fallen musste, hat er den Anderen den Dienst, dem sie ihm im Uebergangsstadium geleistet hatten, dadurch vergolten, dass er sie auf die Höhe seiner, wie er überzeugt war, der evangelischen Frömmigkeit hinaufgehoben hat, so nachdrücklich, dass seine Schätzung dieser Mystiker drei Jahrhunderte überdauert hat.
 

Noter:

n168: cf Enders II Nr 314. Dieser Brief fällt vor die Abfassung der Schrift gegen Eck. Also war die Wiedergabe jener Erzählung Niederschrift von Gedanken, die Luther schon vor Erscheinen des Eckschen Büchleins beschäftigten (natürlich erst nach der Leipziger Disputation).

n181: cf. das beigefügte pro reverentia concilii WA 2,288,13 = eck05#36.

n181a: Eck hat dieselbe wohl bemerkt WA 2,306 = eck06#55.

n181b: Und zwar annehmbare: Hussitae tam diu non reticuissent aliquos articulos esse subditicios. eck05#90.

n181c: WA 2,296 = eck05#99. cf Luther: licet nunquam desistat (Eck) me sugillare. WA 2,303 = eck06#38.

n182: WA 2,345 = eck10#8. Wahrscheinlich denkt Eck an die päpstlichen Reformvorschläge bez. des Ablasses, welche einer Geringachtung desselben vorbeugen sollten. cf. Hefele VII 340. Oder denkt er an die Verwerfung des Hussschen Satzes, dass die Ablässe nichts nützen? (ebd 199) In den amtlichen Akten stand beides nicht, doch kann Eck bei seiner genauen Kenntnis der Konzilsvorgänge darum gewusst haben.

n184: Nachwort zu den "7 christlichen Briefen etc Ausgabe von 1537 durch Jos. Klug Wittenberg. Dasselbe fehlt in der Ausgabe von 29. Nov. 1536.

n185: cf auch Luthers eigenen Bericht WA 2,397.

n186: Es handelt sich un den 41. Satz Wiklifs bei Harduin p. 913. Luther sagt: sive sit Wikleff sive Hus non curo, WA 2,279 = eck04#4.

n187: WA 2,399, (releip01#52) cf 403, 407, 421, 410: Augustinus totus per omnia in hanc sententiam procedit. releip03#60.

n187a: Eine noch freiere Fassung cf WA 2,410, 415 = releip03#58; releip04#33.

n190: In der Disputation selbst tritt er zurück cf WA 2,288, 296, (eck05#33; ?? (i hele 296 taler Eck)) und dient nur zum Beweise, wie Luther meint, dass er ex concessis argumentiere. cf aber WA 2,415 (releip04#35) u. ö. z. B. 421.

n191: Nonne Concilia saepius erraverunt? WA 2,404 = releip03#10; oder Constantiense Concilium, quod errasse palam est WA 2,406 = releip03#30; dasselbe späterhin WA 6,561 = capt03#105: saepius erraverunt Concilia, praesertim Constantiense quod omnium impiissime erravit.

n192: cf seine Schriften: super apostolica sede, vom dem ehelichen Stand wider Dr. Martin Luther, buchlein von dem bäbstlichen Stul und s. Peter, Ein Sermon, darinnen sich Bruder Augustin von Alveld S. Francisci ordens des so in Bruder Martinus Luther augustinerordens under vil schmelichen namen gelästert und geschent, beclaget. Sein Thema Luther sei Hussit, variiert in allen Formen.

n206: cf. S. 94: Nimis ergo Papa Clemens suam potestatem laxaverat, mandans in sua Bulla angelis paradisi, quod animam peregrinantis Romam pro indulgentiis et decedentis a purgarotio absolutam ad gaudia perpetua introducant. s. auch das Folgende bei Huss.

n209: Dette er fra det tyske skrift "Antwort auf die Zettel, so unter des Officials zu Stolpen Siegel ist ausgegangen", 7. februar 1520; det næste citat er formentlig fra den latinske udgave, som Luther i lidt udvidet stand lod udgive i slutningen af 1520.

n305: WA 3,640, 645. cf Migne 193,993 u. 1071. Serm in Cant XLIII u. LXI. Luther citiert nicht wörtlich, er begnügt sich z. T. mit einem Hinweis. Die ihm vorschwebende Stelle ist aus Sermo LXI. Hier findet sich Bernhards Frage: ubi tuta firmaque infirmis securitas et requies nisi in vulneribus Salvatoris, hier ist auch das Psalmwort citiert (Ps. 84,4) dessen Interpretation Luther zur Einführung Bernhards veranlasste. Der Sermo, den Luther nennt, de fasciculo myrrhae (XLIII) bringt in nur allgemeiner Form die mystischen Gedanken.

n316: WA 2,322 = eck07#67. Wenn Luther an Bernhard festhalten wollte, so war er aus der Rolle gefallen mit dem Eingeständnis der Schriftpressung. Eck beeilt sich daher (De primatu lib III Fol. 66) Luther zu sagen, er müsse es selbst verantworten einen "so gelehrten und heil. Mann wie Bernhard velu abutentem sacris literis carpere".

n317: Das grössere Recht, sich auf Bernhard zu berufen, hat Eck; denn nach römischer Anschauung werden im Fegfeuer Strafen abgebüsst, bez. remissible Sünden vergeben, aber ohne jede Selbstbethätigung nur auf Grund einer satispassio.

n319: Luther hat sich die Zuspitzung des Problems auf Bernhard selbst gestellt; weder Carlstadts Schriften de coelibatu in den verschiedenen Ausgaben, noch die damaligen Disputationsthesen der Wittenberger Freunde ziehen Bernhard in die Debatte.

n320: Themata de votis WA 8,326, 331, ferner 612, 617 und Enders III 223, 640f, 648, 622.

n321: Themata de votis WA 8,326, 331 ferner 612, 331 (die klare Formel sub voto, sine voto) cf 450 (hier der gegnerische Standpunkt: S. Bernhardus sic fecit, ergo sic est faciendum ) = 529, 640f, 648, 622 und Enders III 223.

n321a: WA 8,450, 451, 528, 529, 601, 658.

n327: Schatzgeyer z. B. gebraucht von der Stellung der Schrift zur Tradition genau dasselbe Wort, das Luther Bernhard zuschreibt: In fonte enim pocius quam in rivulis potandum est (s. N. Paulus: Caspar Schatzgeyer 1898 S 15. Amn. 1) und dacht doch gut katholisch und liess die Kirche interpretieren (s. Paulus passim).

n333: Um die Wirkung der Auffassung Bernhards durch Luther auf die protestantische Kirchengeschichtsschreibung zu beobachten, ist ein Blick in die Büchertitel bei Janauschek lohnend. Da schreibt z. B. 1701 Gg. Hr. Goetze: De Lutheranismo D. Bernhardi, Sutor 1734 über den abgestorbenen und zugleich lebenden Bernhard.

n334: WA 3,471. cf. de praeparatione ad missam cp 2: Tolle hoc sacramentum de ecclesia et quid erit in mundo, nisi error et indidelitas? et populus Christianus erit quasi grex porcorum dispersus et idolatriae deditus (opp Lugduni 1668 VII S. 67) Die Christusmystik hat auch Bonaventur in diesem Zusammenhang.

n335: WA 1,582 = res06#74. cf mit 574 =  res06#1. Bonaventura opera omnia Clarae Aquae Typogr. IV S. 539: Si quis autem contendat vicarium Jesu Christi habere indiciariam potestatem super eos qui sunt in purgatorio, non est ei multum improbe [Luther sagt: Importune] resistendum.

n336: Quidquid enim loquamur ... hoc sana fide tenendum est, quod Dominus vicario suo plenitudinem potestatis contulit et tantam utique potestatem, quanta debebat homini puro dari; et hoc ad aedificationem corporis sui, quod est Ecclesia. Unde super hoc non iudicare, sed gratias plurimas Deo debemus agere. cf auch S. 534.

n336a: tamen consulendum est eis qui indulgentias consequuntur ne propter hoc ab operibus poenitentiae iniunctae abstineat (in lib. IV Sent. dist XX ad tertium).

n337: cf z. B. auch Gerson (de indulgentiis op. ed. Du Pin I 517): Sed non debet aliquis sie inniti indulgentiis concessis in toto vel in parte a poena et a culpa, quin studiosius sit satisfacere per se et alios hic in vita.

n338: WA 1,608 = res09#49, cf 1,282. Bonaventura: Compendium theologicae veritatis (opera VII Ludgini 1668 p. 731. Bonaventura sagt, es sei de excellenti et speciali gratia, dass ein Mensch das ganze Leben hindurch sine peccato venitale sei; aber bez. einer particula vitae praesentis sei es wohl möglich.

n340: Den Nachweis im Einzelnen kann ich hier nicht führen; das Material, die Aeusserungen Luthers über das Leben Jesu, habe ich gesammelt; die menschlichen Züge von oft liebreizender Schönheit, die Luther der Person Jesu giebt, entstammen mystischer Einflüssen. Zum Beweise für das im Text Ausgesprochene bitte ich z. B. Luthers Auslegung des Magnifikat (WA 7,538ff) und die Predigt über Luc. 2,1-14 aus der Kirchenpostille (EA X2,133ff) mit den betreffenden Parteien bei Bonaventura zu vergleichen.

n346: cf Gersonis op. ed. Du Pin III 65 (liber de vita spirituali animae): Iuramentum ... et votum nunquam ita proferuntur absolute, quin interpretationes, conditiones, glossas, et civiles intelligentias suscipiant, ut sapiens epieikes iudicabit. cf. S. 1501 u. II 120: Omne iuramentum et votum quod sine detrimento salutis potest custodiri, servandum est und besonders III 46: Nobis insuper dicendum videtur, quod multae sunt Institutiones, ad quarum observationes videntur omnes se quotidianis juramentis astringere, quas tamen observare non tenentur, non quod periurium sit licitum, sed quia iuramenta talia sunt semper intelligenda civiliter. Horum exempla sumere possumus in praeclara Universitate Parisiensi et in Ecclesiarum aliis Collegiis; folgt das Beispiel, dass jeder Neu-Eintretend auf die Universitätsstatuten verpflichtet werde eidlich, ohne doch bei Uebertretung dem Vergehen des Meineides anheimzufallen. -- Diese Stelle hat Luther in Auge.

n349: a. a. O. S. 517. cf Bratke: Luthers 95 Thesen S. 161. cf. Hering: Luther und die Mystik 235d. Von Joh. Wessel wird berichtet, dass er -- ähnlich wie Luther -- gegenüber der kurialistischen Lehre, dass der Papst über die Seelen im Fegfeuer Gewalt habe, auf die facultas Parisiensis -- d. h. wohl Gerson -- sich berief. cf. Gerdesius hist. ref. I 87.

n350: WA 1,656 = lutpri01#76. Gerson op a. a. O. 517. Gerson gebraucht wörtlich den terminus: sunt opiniones in utramque partem probabiles, entscheidet sich dann aber in angegebenem Sinne. Bez. der Verwertung der Streitigkeiten über die immaculata conceptio s. den Abschnitt über das Baseler Konzil. Nachzutragen ist, dass auch die Pariser Appellation des Baseler Beschlusses gedachte.

n350a: Welche Stelle Luther im Auge hat, ist mir nicht ganz sicher, vermutlich ein Citat aus de remediis contra pusillanimitatem opp III 585 Columne C, D. cf S. 600 u. II 508, 472.

n352: WA 6,626. Latomus antwortet darauf: Nonne damnatum est a concilio generali? (Laterankonzil von 1215). latlu01#68.

n352a. WA 8,58 = latom02#18, und Anm. 5 opp. III 10 (de vita spirituali animae) Nulla offensa dei est venialis de se nisi tantummodo per respectum ad divinam misericordiam.

n353:  caj-lut#49. Spalatin in seiner Darstellung schreibt: "Ich weiss nicht, wie sichs zugetragen hat, dass D. Martinus Gersonem allegiret" (spa-rel#18). Das kann nicht richtig sein. Wenn Luther, wie gerade u. a. auch aus seiner oben mitgeteilten Frage, die Spalatin berichtet, hervorgeht, um Gersons Constanzer Politik nicht wusste, lag für ihn kein Grund vor, Gerson zu allegieren. Cajetan hat Gerson in die Verhandlung hineingezogen, so stellt es auch Luther dar. Dass Cajetan ihn (Luther) einen Gersonisten nannte, berichten erst die Tischreden. Sie sind hier ebensowenig zuverlässig wie in der Mitteilung der Aeusserung über das Constanzer Konzil. Urbanus Rhegius, getreu Luther folgend, bezieht Cajetans Aeusserung auch auf Luthers Ablasspolemik.

n355: Attendendum tamen est, quod non omnia quae tradit vel tolerat Ecclesia publice legenda sunt de necessitate salutis credenda ... sed duntaxat illa quae sub definitione iudiciali tradit esse credenda vel opposita reprobanda, concurrente universali totius ecclesiae consensu implicite vel explicite vere vel interpretative a. a. O. 22.

n355a. WA 1,418. cf opp Gersonis III 249 (de oratione). Luthers Citierung ist sehr frei; Gerson beruft sich auf 1 Kor 12,5. Luther auf 12,9.

n358: CR I 435. Es wird kaum zufällig sein, dass nahezu gleichzeitig Luther und Melanchthon jene Schrift Gersons citiere. Luther war damals auf der Wartburg, zugesandt war ihm, etwa von Melanchthon, Gerson nicht, damals hatte er noch keine Bücher bei sich. Wahrscheinlicher ist, dass Melanchthon durch Luthers Citat zur erneuten Lektüre Gersons veranlasst wurde; die gemeinsame Grundlage für beide bildete Carlstadts Studium Gersons.

n360: Nec hoc ergo recte dicitur, quod approbante Ecclesia Evangelium noscatur WA 2,431,16 = releip05#69. Näheres in dem Abschnitt über Augustin. Luthers Ausführung ist merklich an Carlstadts Thesen orientiert.

n362: Luther überschätzte doch Gerson, wenn er Eck entgegenhielt, Gerson betone den Glauben und die Liebe beim Ablassempfang (WA 2,348 = eck10#27). Gewiss that das Gerson, aber seine Grundauschauung stand Eck näher. (cf de indulgentiis opp II 515 consid. 5 und oben. Eck wie Luther citieren nahezu wörtlich). Es spielte sich schliesslich auch für Gerson der Heilsprozess nach römischen Schema ab: Buss, Satisfaktion, Ablass, ohne dass die Gefährlichkeiten desselben vermieden wären. (cf WA 2,351 = eck11#5 und 355 = eck11#44). Geahnt hat das Luther (WA 2,355), aber nicht geltend gemacht.

n 366. Es ist also falsch, wenn Lamprecht (D. G. V. 233) behauptete, Luther habe "die Leehre der Ekstasen des enthusiastischen Mystizismus schon in den ersten Jahren seiner Klosterzeit durchschaut". "Durchschaut" in wissenschaftlichem Sinne hat er sie überhaupt nicht. cf auch Jürgens III 257, dessen Worte auch nur mit Einschränkung gelten.