W. Köhler



Luther und die Kirchengeschichte
nach seinen Schriften, zunächst bis 1521
von Lic. Dr. W. Köhler
Erlangen 1900

Indhold: Kapitel 1: Die Instructio summaria und die sogenannte Anweisung Tetzels. (7-25) Kapitel 2: Die Ablassbulle Leos X. (26-32) Kapitel 3. Die Bannbulle. (32-59). Kapitel 4: Die Bulle In Coena Domini. (59-76) Kapitel 5: Die sogenannte apostolische Glaubensbekenntnis (76-97). Kapitel 6. Das sogenannte athanasianische Symbol (98-100). Kapitel 7: Das fünfte Laterankonzil (100-115) Kapitel 8: Das Baseler Konzil. (115-122). Kapitel 9: Das Concilium Nicaenum (122-162) Fra kapitel 10: Das Constanzer Koncil und Johann Huss. (167-236). Kapitel 11. Tauler (236-289). Kapitel 12: Dionysius Areopagita (289-299). Kapitel 13. Hugo von St. Victor (299-301. Kapitel 14. Bernhard von Clairvaux (301-333). Kapitel 15. Bonaventura (222-341) Fra kapitel 16: Gerson. (342-363).

 1: Die Instructio summaria und die sogenannte Anweisung Tetzels.

a) Die Instructio summaria.

Wenn die Erwähnung dieses Aktenstückes durch Luther in vorliegender Untersuchung auch berücksichtigt wird, so geschieht es aus ähnlichen Gründen, wie sie bez. der Erörterung der Citate aus dem geistlichen Recht geltend gemacht wurden. Positive historische Kenntnisse Luthers zu übermitteln vermochte jene Instruktion Albrechts von Mainz allerdings nicht, weil sie ohne jegliche geschichtliche Reflexion lediglich praktisch gehalten ist in Erläuterung der Ablassgnaden und ihrer Verwaltung seitens der Kommissare und Unterkommissare. Aber sie ist ein Hebel gewesen für das Heraustreten Luthers in den öffentlichen Kampf, zunächst gegen den Ablassmisbrauch, und ähnlich wie das geistliche Recht ein Schriftstück, welches vermöge seiner allzuschroffen Gegensätzlichkeit gegen die noch mehr instinktiv gefühlten als intellektualistisch begründeten inneren Anschauungen Luthers diesen zum Protest herausforderte und in seiner Negation ihn zur Position zwang. Und wenn sich dann zeigen lässt, dass Luther in der Opposition weiterschreitend es zu Ansätzen einer Betrachtung des Ablasswesens unter dem Gesichtspunkte geschichtlichen Werdens bringt, dann wird es gerechtfertigt sein, die Instructio summaria als, wenn auch nicht das erste, so doch als eins der ersten und gewichtigsten Glieder in jenem Entwicklungsprozesse der geschichtlichen Anschauung Luthers vom Ablass an dieser Stelle zu behandeln.

Wie der Text der Instructio anzeigt, ruht sie auf der Bulle, durch welche Leo X.  die neuen Ablässe für den Bau der Peterskirche ausgeschrieben hatte. Luther erwähnt dieses (8) Schriftstück erstmalig in seinem an dem denkwürdigen 31. Oktober 1517 an den Erzbischof Albrecht zu Mainz zugleich mit seinen Thesen abgesandten Schreiben. Nachdem Luther in demütigster Ergebenheit seine Unwürdigkeit bekannt, die falschen Meinungen im Volke über den Ablass dargelegt, richtig gestellt und seinerseits die opera pietatis et charitatis auf Grund des Evangeliums Christi dem Ablasswesen entgegengesetzt hat, fährt er fort: Accedit ad haec, reverendissime pater in Domino, quod in Instructione illa Commissariorum, sub tuae reverendissimae paternitatis nomine edita, dicitur (utique sine tuae paternitatis reverendissimae et scientia et consensu) unam principalium gratiarum esse donum illud Dei inaestimabile, quo reconcilietur homo Deo et omnes poenae delentur purgatorii, (summ-instr#44) item quod non sit necessaria contritio iis, qui animas vel confessionalia redimunt (summ-instr#45). -- Dass Luther das Büchlein persönlich vor sich gehabt hat, erhellt aus der präzisen Bestimmung der Punkte aus seinem Inhalt, die sich bus auf den Wortlaut mit jenem berührt. Wann es ihm in die Hände fiel, bleibt unentschieden, kaum vor Jahresmitte 1517, als Albrechts Ablasshandel in Schwung kam und sich der sächsichen Grenze näherte. Die Punkte, welche Luther in den obigen Worten herausstellt, (9) betreffen 1) die Wirkungskraft des Ablasses, die als Versöhnung des Menschen mit Gott charakterisiert wird unter speziellem Hinweis auf den Erlass der Strafen des Fegfeuers. 2) Die (negative) Bedingung für jene Wirkungsmacht. Unter Punkt 1) ist begriffen der Inhalt der prima gratia principalis der Instruktion, lautend: prima gratia est plenaria remissio omnium peccatorum qua quidem gratia nihil maius dici potest, eo quod homo peccator et divina gratia privatus per illam perfectam remissionem et dei gratiam denuo consequitur. Per quam etiam peccatorum remissionem sibi poenae in purgatorio, propter offensam divinae Maiestatis luendae plenissime remittuntur atque dicti purgatorii poenae omino delentur. (summ-instr#45) (Die gesperrten Worte weisen auf den Gleichklang mit Luthers Briefworten). Den Ausdruck "donum illud Dei inaestimabile" hat Luther in Erinnerung an die in der Instructio nun folgenden Worte gebildet: Et licet ad tantam gratiam promerendam nihil satis dignum possit retribui, eo quod donum dei et gratia aestimationem non habet etc. -- Der zweite Punkt führt auf die vierte absonderliche Ablassgnade, indem es nach Feststellung derselben heisst: Nec opus est, quod contribuentes pro animabus in capsam sint corde contritii et ore confessi. Es (10) verbindet sich jedoch mit der Anspielung an diese Worte eine Reminiscenz an die secunda gratia principalis, wenn Luther das confessionalia redimere erwähnt: -- denn den Inhalt der zweiten besonderen Gnade machte das Gewähren eines confessionale plenum maximis et relevantissimis et prius inauditis facultatibus aus; -- und ferner eine Reminiscenz an den Schluss der tertia gratia principalis, wenn Luther die Nicht-Erforderlichkeit der contritio auch für das Kaufen der Beichtprivilegien in der Instructio findet, indem es dort heisst: declaramus etiam, quod pro dictis duabus gratiis principalibus [die 2. und 3. Gnade] consequendis non est opus confieri seu ecclesias aut altaria visitare sed duntaxat confessionale redimere (also auch die contritio ist, wie die Schlussworte deutlich zeigen, nicht erforderlich, die man, wenn sie auch theoretisch von dem Akt der confessio als Voraussetzung desselben getrennt wurde, -- cf oben das corde contriti et ord confessi -- doch in praxi vermöge der Geschlossenheit des Busssakramentes von der Beichte nicht losslöste, sodass das non est opus confiteri den Wegfall der contritio faktisch in sich schloss. -- Luther spricht nun nach seiner Aeusserung über die Instructio die Bitte aus an den Erzbischof eundem libellum penitus tollere et praedicatoribus veniarum imponere aliam praedicandi formam.

Geht schon aus obigem Briefe zur Genüge hervor, dass Luthers Opposition gegen den Ablassunfug nicht zum wenigsten an Albrechts Instruktion sich entzündet hat, so kann es nicht Wunder nehmen, wenn er in den Resolutionen zu seinen (11) Thesen -- ob die Zall 95 dieser eine Uebertrumpfung der 94 Sätze der Instructio beabsichtige, wird zweifelhaft bleiben müssen -- wiederholt auf jene ausdrücklich zurückkommt oder hier und in den Thesen eine solche Rückbeziehung indirekt klar wird. Nennt doch Luther selbst in der seinen Resolutionen vorausgerschickten Zuschrift an den Papst unter den Momenten, die ihn zum Reden bewogen, neben den unerhörten Anpreisungen der Ablasskrämer die Herausgabe und Verbreitung von libelli, in quibus ut taceam insatiabilem et inauditam avaritiam ... eadem illa impia et haeretica statuerunt, et ita statuerunt ut confessores iuramento adigerent, quo haec ipsa fidelissime instantissimeque populo inculcarent (WA 1,528 = res01#25). Einer dieser libelli ist die Instructio; denn jene eidliche Verpflichtung steht in ihr eingangs. Dass Luther den Ablasskrämern das Büchlein zuschreibt, beweisst, dass er noch sie und nicht den Erzbischof für den Autor hält.

These 21 und 22: Errant itaque indulgentiarum predicatores ii, qui dicunt per pape indulgentias hominem ab omni pena solvi et salvari.Quin nullam remittit animabus in purgatorio, quam in hac vita debuissent solvere secundum Canones wenden sich offenbar gegen die prima gratia principalis, cf auch These 24 (95tes#24) sowie die Anspielung in der Resolutuion zu These 21 (WA 1,571 = res05#53).

These 26, es sei gut, dass der Papst nicht Kraft der Schlüsselgewalt sed per modum suffragii Vergebung erteile, ist neben der direkten Bezugnahme auf das geistliche Recht zugleich die Zustimmung zu der Erklärung in der quarta gratia (12) principalis.

Aus dem Obigen ging bereits hervor, inwiefern These 33: Cavendi sunt nimis, qui dicunt venias illas Pape donum esse illud dei inestimabile, quo reconciliatur homo deo (beachte die völlige Gleichheit der Worte mit denen im Briefe) aus der Instructio ihre Form gewonnen hat (summ-instr#44). In der Erläuterung derselben greift Luther, wiederum wie im Briefe, auf den Wortlaut der prima gratia principalis zurück. Dass Luther den Erzbischof nicht für den Verfasser hält, geht wiederum aus der derben Einführung des Citates hervor: Audiamus itaque istum Bubulcum sua uerba grunnientem. (WA 1,589 = res07#41f). Fast könnte man meinen, er habe Tetzel im Auge, (n12) jedoch kann der Ausdruck auch allgemein von einem autor incertus gebraucht sein. Luther fährt dann fort: Sic enim in libello suo, postquam indulgentias in quatuor principales gratias distribuerat et multas alias minus principales: Prima, inquit, gratia principalis etc. (folgt der oben mitgeteilte Text bis consequitur, wörtlich nach der Instructio, die also Luther wohl bei der Ausarbeitung der Resolutionen vor sich hatte, nur dass das principalis nach prima gratia fehlt in jener; doch lag hier für Luther die Hinzufügung um so näher, als es bei Anführung der zweiten, dritten, vierten Gnade im Texte stets secunda, tertia, quarta gratia principalis heisst. Ausserdem steht bei Luther potest dici stat dici potest in der Instructio). Die gratia minus principales (13) folgen in der Instructio erst nach der Ankündigung der gratiae principales. Luther bespricht nun näher den Inhalt jener prima gratia. Die Unkenntnis des Verfassers gehe schon daraus hervor, dass er sage: per illam (id est primam gratiam, plenariam remissionem) consequitur homo perfectam remissionem. Quid est dicere, ruft Luther per plenariam remissionem consequitur perfectam remissionem et per gratiam dei consequitur gratiam dei? Allein dieser von Luther behauptete Widersinn kommt nur zustande, wenn die Verschiedenheit des Begriffes gratia ungültig gemacht wird. Die Instruktion will darunter einmal die gratia divina verstanden wissen, ferner aber die von der Kirche als der Verwalterin der gratia divina dem Gläubigen (im vorliegenden Falle im Ablass) applizierte Gnade. So kann sie sagen, dass die Ablassgnade die göttliche Gnade der Sündenvergebung herbeiführe; das ist korrekt kirchlich gedacht. Luther jedoch geht nur von dem Begriff der gratia iustificans aus, scheidet die Heilsvermittlung der Kirche an diesem Punkte aus und muss so jenen logischen Widerspruch in den Worten der Instruction aufzudecken meinen. Es ist von seinem Standpunkt aus gedacht, wenn er beginnt: Hanc primam gratiam vult eam esse qua maius dici nihil potest et quam consetuitur homo privatus gratia (WA 1,590 = res07#44) und dann argumentiert, das könne nur von der gratia iustificans gemeint sein. Um welchen principiellen Gegensatz zwischen ihm und der Instructio es sich handelt, hat Luther gefühlt, wenn er ausspricht: Hic vero [der Autor der Instructio] gratiam Dei et gratiam Papae in unius vocabuli cahos confudit (res07#45), aber sein Widerspruch triff noch nicht das kirchliche System, dessen getreuer Interpret die Instructio war, sondern das, wie er meint, Geschwätz des Ablasskrämers, den einen Ketzer zu nennen er sich nicht scheut.

Es folgt nunmehr innerhalb der Erörterung die wörtliche Anführung der Worte der prima gratia principalis, sofern sie von der Vergebung der Fegfeuerstrafen handeln (oben von per quam etiam peccatorum remissionem bis delentur). Mit kurzem Spott über die Zuversicht, mit welcher der Alles-Wiser und doch (14) thatsächlich Nichts-Wisser über die Ausdehnung der Schlüsselgewalt auf das Purgatorium spreche, verweist Luther auf Früheres, (Conclusio 25 und 26). Alsdann fährt er mit den folgen Worden der Instructio (oben von licet bis habet; Luther hat habent, dem ein etc. beigefügt ist) fort und präcisiert seinen Widerspruch wiederum dahin, dass nur Gott vergeben könne, was der Autor der Instructio dem Papst zuschreibe (res07#47) (#9).

In feiner Satire geisselt Luther nunmehr den in der Instructio an die prima gratia principalis angeschlossenen modus contribuendi in cistam für die Armen und fügt anderes hinzu: Permittit pauperibus quoque eam gratis dari, -- cf. die diesbez. Worte der Instructio bei Kapp. 147 -- ita sane, si primum undecunque pecunias corradere tentauerint a bonis (ut inquit) fautoribus, ita ut mendicantes fratres sine licentia suorum superiorum pecuniam procurent (res07#48), cf. die Bestimmungen der Instructio bei Kapp S. 148 und 170. Statt boni fautores steht in der Instructio devotae personae, die Bestimmung über die Bettelbrüder findet sich in den an die Erörterung der grossen und kleinen Ablassgnaden angeknüpften Sonderbestimmungen. Der Ausdruck pecuniam procurare ist der Instructio entnommen, das sine licentia superiorum ist dort in besonderem Abschnitt behandelt (bei Kapp S. 171), es heisst dort: si Prelati religiosorum praedictorum noluerint dare licentiam suis etc., es handelt sich in dem betr. Passus zwar speziell um die Loslösung der Mönche vion der klösterlichen Beichtobödienz und die Zulassung zur Beichte bei den Ablasscommissaren, aber diese Beichte und die ihr folgende Gnadenzuweisung war bedingt durch die Geldzahlung, sodass Luther durchaus das Richtige trifft. Und nur allzu deutlich was es in der Instructio gesagt, dass der Gehorsam gegen die klösterlichen Oberen suspendiert werde durch die Vollmachten der Ablasscommissare! -- Cum vero nusquam patuerit via corradendi pecunias, fährt Luther fort, .... tum demum dicit: Regnum enim caelorum non plus dividibus patere debet quam pauperibus, cf. zu dem ersten Satze Kapp 148 und ähnlich 171 und den letzten Satz wörtlich (nur steht das patere debet hinter pauperibus) bei Kapp 147. Damit bricht Luther ab. Man sieht, dass er die Instructio genau gekannt hat, dass die Resolution zu These 33 (15) völlig durch sie bedingt ist und die These selbst durch sie veranlasst wurde.

These 35: Non Christiana praedicant, qui docent, quod redempturis animas vel Confessionalia non sit
 necessaria contritio, ist wie aus den Früheren hervorgeht, durch die Instructio hervorgerufen. Der von Luther gemachte Einwand: Dicunt autem, quod redemptio illa non innititur operi redimentis, sed merito redimendi (res07#58) blickt deutlich zurück auf die kurze Erläuterung des Instructio, warum bei Loslösung der Seelen aus dem Fegfeuer die contritio unnütz sei: cum talis gratia charitati, in qua defunctus decessit, ... innitatur. Nun hat die Instructio freilich beigefügt: et contributioni viventis, daher bei Luther der bittere Hohn, warum denn diese Zahlung noch notwendig sei, wo doch das meritum redimendi zureichender Grund der Erlösung sein solle.

In These 37 ist, wie schon Kapp (Schauplatz S. 90) gesehen hat, der Ausdruck participatio omnium bonorum Christi et Ecclesiae gebildet nach Muster der Instructio, näher der tertia gratia principalis (bei Kapp: Sammlung 152), welche definiert wird als participatio omnium bonorum ecclesiae universalis. Luthers These wird somit erst recht verständlich in ihrer Gegensätzlichkeit zu jener Ablassgnade. Was hier nur einigen wenigen zugesagt wird, spricht Luther jedem Christianus verus, sive vivus sive mortuus zu (res07#70). (16)

These 47, des Inhalts, dass wer nicht Ueberflüssiges hat, sein Notwendiges im Haus behalten und nicht für die Ablässe vergeuden soll, wird gerichtet sein gegen die schon oben berührten Anweisungen der Instructio, dass man auf jede Weise das Geld zusammenzubringen bestrebt sein müsse (95tes#47). -- These 50 u. 51 werden die exactiones venialium praedicatorum, worunter zweifellos auch die Anpreisungen der Instructio verstanden wird, als in schärfstem Widerspruch zu den päpstlichen Intentionen befindlich bezeichnet (95tes#50). -- These 53: Hostes Christi et Papae sunt, qui propter venias predicandas verbum dei in aliis ecclesiis penitus silere iubent (95tes#53) ist gerichtet gegen die Bestimmung der Instructio, dass in den für die Ablassprediger reservierten Stunden anderwärts nicht gepredigt werden solle (Kapp S. 126). -- These 54 (95tes#54), handelnd vom Inhalte der Predigt, dass es Unrecht gegenüber dem göttlichen Worte sei, wenn dasselbe in gleiche Linie mit der Verkündigung der Ablässe oder sogar hinter diese gesetzt werde, bildet bewussten Gegensatz zu den Predigtanweisungen in der Instructio (Kapp 126ff), welche lediglich die Macht des Papstes und die Grösse des Ablasses zum Objekt haben. -- These 55 wird die ERwähnung des Ablassgepränges auf die diesbezügl. Anordnung in Albrechts Instructio (Kapp 124) anspielen. -- These 67: Indulgentiae, quas concionatores vociferantur maximas gratias, intelliguntur vere tales quoad quaestum promovendum weist auf ähnliche Gedankengänge, wie die Resolution zu These 33. -- Zu These 70: die Bischöfe und Seelsorger solle eifrigst darauf achten, ne pro commissione Papae illi sua somnia pradicent, findet sich in der Resolution wiederum eine direkte Erwähnung der Instructio. Nachdem Luther die päpstliche "Commission" nach juristischem und kurialischem Brauch in dem Erlass des Ablasses als Ablasses (17) ohne Erklärung seiner Wirkungskraft fixiert hat, sagt er, dass die Ablassherolde darüber hinausgingen und zuversichtlich für Indulgenzen ausgäben, was niemals solche sein könnten, ut vel ex libro suo potest probari novissimo. Horum itaque somnia tenentur Episcopi probihere (res10#41) -- derselbe Rat, den Luther schon dem Erzbischofe gegenüber ausgesprochen hatte. -- These 74 wiederholt einen bereits in der Erläuterung zu These 33 ausgesprochenen Gedanken; es folgt daraus, dass auch hier die Instructio vorgeschwebt hat. Igitur, so sagt Luther, fulminandi sunt, qui ita uenias praedicant, ut eas gratias dei uideri uelint; hoc est enim contra ueritatem et charitatem, quae sola talis gratia est. cf res10#57 und und das Augustincitat WA 1,590 = res07#45. Die gerügte Confusion der gratia Dei und gratia Papae trifft er hier nochmals. -- These 76, (res10#65f) dass die Ablässe von der Sündenschuld nichts tilgen, quod nulla culpa remittitur nisi a solo deo, dürfte, wenn erklärend beigefügt wird: ideo nec illa magna per facultates remittuntur sed declarantur remitti, eine Correctur sein der prima gratia principalis, welche die Versöhnung mit Gott verhiess. Das von Luther beigefügte; haec dico secundum illorum sententiam spricht für diese Annahme. -- These 89, Cur papa suspendit  literas et uenias iam olim concessas, cum sint aeque efficaces? spielt an auf die in der Instructio ausgesprochene Bestimmung für die Prediger suspensionem omnium indulgenriatum kundzuthun, ne praetextu indulgentiarum prius concessarum (populus) praesentes nostras indulgentias contemnat.

Hatte Luther bereits in der Zuschrift zu seinen Resolutionen dem Papste erklärt, dass er lediglich eine Disputation über die strittige Ablasslehre habe veranlassen wollen und ihn nicht zu mindesten die Anpreisung der Commissare und ihre libelli zum Reden bewogen, so wiederholt er diese Selbstrechtfertigung in seiner Appellation von Cajetan an den Papst (WA 2,27). Nachdem er sein gutes Recht, in jener noch unentschiedenen Sache disputieren zu dürfen, biblisch (1 Joh 4,1; 1 Thess 5,21) und kirchenrechtlich (c. Abusionibus) begründet, fährt er fort: Quibus iuribus -- (18) nixus ... disputandam hanc materiam suscepi motus immodestissimis declamationibus nimiumque indiscretis promulgationibus, quibus indulgeltnas divulgabant quidam in nostris regionibus ... in seductionem populi nova dogmata moliti sunt, ut auderent verbis male sobriis docere et libellos in vulgus edere, indulgentias esse semper indulgentias, hominem consequi gratiam dei iustificantem, donum scilicet inaestimabile pro veniis venundantes et alia, que passim ostendit libellus eorum, qui Instructio summaria vocatur, absurdissimis et falsis propositionibus plenus ad sui suorumque autorum ignominiam. (WA 2,29). Die Aehnlichkeit der Charakteristik der Instructio mit den in der Resolutionen zu These 33 springt in die Augen. Der Ausdruck donum inaestimabile kehrt wieder, das: sie verkündigen hominem consequi gratiam dei iustificantem teht auf den Inhalt der prima gratia principalis etc. Die Vermutung liegt nahe, dass das: indulgentias esse semper indulgentias auf die Nachlassung der contritio geht, die Luther in These 35 sowie in seinem Briefe gerügt hatte. Der Sinn wäre: Ablass bleibt in seiner Wirkungskraft Ablass, einerlei wie der Mensch sich dazu stellt. Auch das erhellt wieder, dass Luther die Ablassclamanten für die Autoren des libellus hielt, welche ihre Befugnisse ungebührlich überschritten haben. (cf. Resolution zu These 70 (res10#38)). Luther hat die Instructio gewiss nicht nach Augsburg mitgenommen; was er in seiner Appellation über sie sagt, haftete in seinem Gedächtnis; es sind die significantesten Punkte, gegen welche er von Anfang an opponiert hatte.

In Form und Inhalt ähnlich gehalten wie die Appellation an den Papst ist die bald darauf verfasste Appellation ad Concilium (WA 2,34ff = appell18). Es handelt sich wiederum um eine Rechtfertigung seines ersten Auftretens, und wiederum erscheint neben den blasphemischen Reden der Ablasskrämer die Instructio, welche Luther hier irrig als summaria institio bezeichnet (WA 2,37 = appell18#12), als Motiv seines Thesenanschlags. Luther hebt besonders heraus die auf die Instructio sich stützenden Aussaden der Commissare de potestate Papae in purgatorium. Es beweist, dass es richtig war, These 22 als gegen die Instructio gerichtet zu fassen, nur dass die dort speziell gegen die prima gratia principalis gewendeten Sätze hier durch die Ausführung der quarta gratia zu ergänzen wären, dit Luther bei These 25 im Auge hatte.

Diese Appellation an ein Conzil hat Luther bekanntlich wiederholt als Protest gegen die Bannbulle am 17. November 1520 (WA 2,34). Inzwischen waren andere, grössere und doch mit jenen ersten innigst zusammenhängende Fragen in Luthers Gesichtskreis getreten, er hatte die Instructio nicht mehr namentlich erwähnt und erwähnt sie auch in folgenden Jahre (1521) nur einmal in seinem bekannten Briefe von der Wartburg an den Erzbischof in Halle. Paulus (Joh. Tetzel S 46 Anm. 1) weist mit Recht darauf hin, dass Luther hier schärfer sich äussert als bisher. Luther will Albrecht verschont haben, weil er dachte "Ew. K. Gnaden thäten solches Aus Unverstand und Unerfahrung," "wie wohl ich hätte mögen den ganzen Sturm, wo mir Unbescheidenheit gefallen, auf Ew. K. Gnaden treiben, als auf den, der solches unter seinem Namen und Wissen handhabte, mit ausgedrücktem Titel auf den ketzerischen Böchern geschrieben." So wie er jetzt schrieb, hatte er 1517 nicht gedacht.

Dass die Instruktion trotz der seltenen Erwähnung wirkungslos gewesen wäre für den späteren Gang der Entwicklung, wäre zu viel gesagt, schon um der historischen Continuität willen desselben mit den Anfängen; nur vermögen wir nicht mehr, wie es im Anfang möglich war, die Linien, welche von der Instruktion zu Luther führen, deutlich aufzuzeigen. In der Bearbeitung der (20) Schrift "von der Beicht" etc. (WA 8,158 Anm. 4 und 5) hat Kawerau eine Anknüpfung der von Luther ausgeführten Gedanken an die Ablassinstitutionen -- zwar nicht speziell an die Instructio -- angedeutet; es wäre möglich, Reminiscensen Luthers auch an die Instructio in den Schriften von 1518-1521 aufzuweisen. Es sei z. B. erinnert an die von Luther -- freilich in anderem Zusammenhange (nämlich in der Frage des Cölibates) -- erwähnte Klausel bei der Eidesleistung: quantum humana fragilitas permittit, von de die Instruction bei der Verpflichtung der Commissare redet (Kapp 120), ferner an die Betübungen und Kasteiungen, welche mit der Erlangung des Ablasses verbunden waren (Kapp 143) -- man vergl. Luthers Polemik gegen das Pater-Nosterplärren -- an die Störung des ehelichen Friedens, den die Vorschrift für die Frau, nötigenfals invito marito Geld zu zahlen, hervorrufen musste, -- man vergleiche Luther in der Schrift an den christlichen Adel, u. ö. --, an die Leichtigkeit, mit welcher die Ehen in unerlaubtem Grade, auchn wenn es sich um aliqua species cognationis spiritualis handelte, auf Grund der Ablasszettel gestattet wurden (Kapp 162) -- cf. Luther in der Schrift an den Adel, der captivitas babylonica u. ö., -- an die Umwandlung der Gelübde in der Geldzahlung in usum fabricae S. Petri (cf. Kapp 155) -- cf. Luther a. a. O. -- Ob hier wirkliche Erinnerungen vorliegen, lässt sich nicht entscheiden, unzweifelhaft bleibt der Anstoss, den die Instructio bei Luthers Auftreten gegen den Ablass gab, und der Einfluss, den sie auf die Gedankenrichtung der vom Ablass handelnden ersten Streitschriften ausübte. Noch in seinen letzten Lebensjahren, 1541 in der (21) Schrift "wider Hans Worst" gedenkt Luther in seinem Bericht über die Entstehung der Streithandels jenes Buches "unter des Erzbischof Siegel hervorgegangen" als Ursache seines Thesenanschlags neben Tetzels unverschämten Reden cf. EA 26,52f = klolut#97. Polianders Bemerkung auf seinem Exemplar der Instructio: hie fons est omnium tragoeriarum etc., auf welche Tschackert aufmerksam machte, (WA 9,769) bestätigt nur, was Luther selbst gesagt hat und seine Schriften evident beweisen.

b) Die sogenannte Anweisung Tetzels.

In der Zuschrift der Resolutionen hatte Luther von libelli gesprochen, welche die Ablasskrämer verbreitet hatten; man könnte daraus schliessen, dass es sich um verschiedene Büchlein handle, die Luther zu Gesicht kamen. Indem man das annahm, bestimmte man als zweites Libell neben Albrechts Instructio eine Summaria instructio sacerdotum ad praedicandas indulgentias von Tetzel. So noch Enders. Allein hier liegt eine Verwechslung vor. Enders fusst auf der Mitteilung von Kapp, dieser  auf von der Hardts historia reformationis pars IV, welche angeblich Bruchstücke aus Tetzels Instructio publizierte, dieser verweist seinerseits auf Chemnitz: Examen concilii Tridentini. Hier nun wird deutlich, dass Chemnitz die Albrecht zugehörige Instructio als eine solche von Tetzel auffasste. Denn die von ihm zitierten, Tetzel zugeschriebenen Worte: prima gratia principalis etc. sind die bekannte Gnadenanpreisung aus (22) Albrechts Instruction. v. d. Hardt nahm ohne Prüfung den Irrtum von Chemnitz herüber und glaubte seinerseits in von ihm aufgefundenen Bruckstücken von Ablasssermonen Tetzels Bestandteile der Instructio entdeckt zu haben. Löscher (Ref. Akta I 414) nimmt v. d. Hardts Angaben auf (summ-instruc#1), Kapp (Sammlung etc. 99) stllt das wenigstens richtig, dass es sich um zwei verschiedene Schriften handelt, die man "bisher vor eine eintzige Schrift gehalten", aber er gibt jenen vermutlich Tetzelschen Sermonen noch getrost den Namen "Summaria instructio etc." ein Name, der offenbar von jener Verwechslung herstammt, urkundlich sich nicht rechtfertigen lässt. Bis zu May (Der Kurfürst Kardinal und Erzbischof Albrecht. München 1865 I S. 125) gebt indessen der alte Irrtum einer Gleichsetzung beider Schriften fort. Jürgens (III 453) bringt die Combinatio, dass Tetzels Instructio d. h. die v. d. Hardt mitgeteilte Sermone ein Auszug aus der Albrechts sei und lässt nur diesen in Luthers Hände fallen. Die Veranlassung der ganzen Verwirrung liegt in Luthers Worten, vornehmlich in den Briefe an Albrecht sowie in seiner Schrift "wider Hans Worst", in denen er die Autorschaft des Kurfürsten für die Instructio leugnet und nur von einem Buch "unter des Kurfürsten Namen oder Siegel" redet. Das hat man Tetzel zugeschrieben. (Jedoch liegt bei Joh. Maltesius jene Verwechslung noch nicht vor. In seiner zweiten Predigt über Luthers Leben (ed. Nürnberg 1566 S. 12) sagt er nämlich, Tetzel habe gepredigt, "die Ablassgnade wäre eben die Gnade, dadurch der Mensch mit Gott versöhnt würde; es wäre ohne Not, Reu, Leid oder Busse für die Sünde zu haben". Das ist wörtlich herübergenommen aus Luthers Schrift "wider Hans Worst", wo er wiedergiebt, was er über Tetzel gehört hat (klolut#93); aber inhaltlich decken sich damit die bekannten Worte an Albrecht von Mainz. Da lag die Verwechslung nur zu nahe). (23)

Muss also die Bezeichnung instructio für Tetzels Schrift auf Grund kritischer Sichtung abgelehnt werden, so ist auch die an v. d. Hardt Titelüberschriften der einzelnen Bruchstücke sich anlehnende Bezeichnung, "Sermone" oder "Musterpredigten" zwar inhaltlich treffend, aber urkundlich nicht zu belegen. v. d. Hardt giebt keine Mitteilung darüber, unter welchem Titel er jene Bruchstücke auffand; die Einteilung: ex sermone primo, secundo, tertio wird von ihm herrühren. Ein Grund zum Zweifel daran, ob denn wirklich jene Predigtstücke von Tetzel stammen und zwar aus seiner Ablasspraxis unter Albrecht liegt nicht vor. Es handelt sich in jenem um den Jubiläumsablass Leos X., dessen Name genannt ist, und es finden sich deutliche Anspielungen (24) an die in der Instructio resp. der Bulle Leos X verheissenen Ablassgnaden. Wenn es im Sermone tertius Tetzels in Anspielung an die secunda gratia principalis heisst: Et cum his literis confessionalibus poteritis semel in vita in omnibus casibus quatuor exceptis sedi apostolicae reservatis habere plenariam .... remissionem (Kapp 49 = summ-instruc#29), hingengen in der Instructio diese Ausnahmefälle nicht genannt sind (ebda 149), so erklärt sich das aus einer Rückbeziehung Tetzels auf die Bulle, in welcher wie in den späteren von 1517 verschiedene Ausnahmefälle genannt werden (cf die Abschnitt über die Bulle Coenae domini). Die Ablassprediger sollten ja laut der Instruction die Bulle dem Volke in Predigten erläutern. -- Und es verstand sich wohl von selbst, dass von den Dispensationen von Irregularität die irregularitas ex homicidio voluntario et bigamia ausgenommen wurde, um des öffentlichen Aegernisses willen, so dass es nicht auffällt, wenn Tetzel diese Ausnahmen erwähnt, die Instructio und auch die Bulle hingegen nicht.

Indem wir also die Ansetzung jener Predigtstücke in das Jahr 1517 und die Autorschaft Tetzels als mit entscheidenden Gründen nicht zu widerlegen annehmen, kehren wir zum Ausgangspunkt zurück und fragen, ob in der Zuschrift zu den Resolutionen Luther an jene "Sermonen" neben Albrechts instructio denkt. Die Texterklärung zwingt dazu nicht, der Mehrzahl der precones entspricht die Mehrzahl der libelli, ohne dass dieselben inhaltlich verschieden sein müssten. Es fällt auf, dass Luther an den anderen Stellen, wo er von schriftlich fixierten Sätzen der Ablasskrämer spricht, immer nur die Instructio im Auge hat. Bei allen absprechenden Urteilen über Tetzel nennt er nie eine diesbez. Schrift von ihm, auch sind deutliche Anspielungen an die "Sermone" nicht zu entdecken; dementsprechend scheint es doch nicht "ohne Frage" zu sein, mit Brieger die anschauliche Schilderung des Treibens der Ablasskrämer in der Resolution (25) zu These 32 (WA 1,588ff = res07#30f) aus Tetzels "Sermonen" entnommen sein zu lassen. Halb aus Schonung, halb aus Ironie gegen die Ablasskrämer lässt Luther diese anders reden als das Volk sie versteht. Beide Male führt er in anschaulicher, direkter Rede die Gedanken dieses und jener an. Die Gedanken des Volkes, wie Luther sie wiedergiebt, haben unleugbare Aehnlichkeit mit den Bruchstücken der Sermone Tetzels -- direkte Berührungen finden sich nicht, -- aber wenn jene (nämlich die Gedanken der Ablasskrämer) von Luther selbst in anschaulicher Dialektik sicherlich gebildet sind, warum nicht auch die ersteren? Tetzels "Sermone" hier als litterarische Quelle anzunehmen, liegt kein Grund vor. Auf Veranlassung mündlicher Mitteilungen (res07#29; #35) giebt Luther ein packendes Bild und in jenen Worten tönt wieder, was seine Beichtkinder ihm erzählten.

Indirekt allenfals könnte These 59 (Laurentius jhabe die Armen den Schatz der Kirche genannt) durch jene Predigten Tetzels mitveranlasst sein, sofern in Sermo 2 von den thesauri des S. Laurentius, welche dieser hingab, an zwei Stellen die Rede ist (Kapp 44f = summ-instruc#13; #17), obwohl der Ablasskrämer nicht die Armen, sondern die reichen Kirchenschätze darunter versteht. Es wäre möglich, dass Luther, mag er nun jene Worte gelesen oder sie gehört haben, in seiner These den Ablasskrämer korrigierend treffen wollte. Dann würde die 94. Tetzelsche These: Thesaurum Ecclesiae fuisse pauperes Ecclesiae divi Laurentii tempore error, an Prägnanz gewinnen, sofern sie dann die "Sermone" wiederum verteidigt gegen ihre Korrektur durch Luther. (26)

Kapitel II. Die Ablassbullen Leos X.

Indem wir die Erörterung der von Luther aus dem geistlichen Recht entlehnten päpstlichen Entscheidungen über Theorie und Praxis des Ablasses der Besprechung der kanonistischen Stellen bei Luther vorbehalten, subsummieren wir die Erläuterung der Ablassdekretale Leos X. unter die Rubrik der Bullen. Es kommen in Betracht die Bulle, welche den Ablasshandel unter Albrechs von Mainz Commissariat kundthat und die an die Augsburger Verhandlungen 1518 sich anschissende.

Erstere erwähnt Luther inj seiner Schrift "von den neuen Eckischen Bullen und Lügen" Mitte Oktober 1520. Bekanntlich traktiert Luther hier die Bannbulle als Ecksches Figment. Unter der vierfachen Begründung dieser Ansicht findet sich an letzter Stelle ein geschichtlicher Hinweis auf Bullenverfälschung (WA 6,593). Wenn, wie er aus eigener Erfahrung sagen könne, bereits zweimal mit Papsterlassen Betrug getrieben sei, warum dann auch nicht mit der Bannbulle? Die von Luther genannten zwei Fälle sind erstlich das bekannte von Cajetan nach Augsburg mitgebrachte Breve, sodann die Ablassbulle Leos X: "Ich hab gesehen die Ablas bullen, da wider ich anfenglich in diser Sach gehandelt, und merklich geprechen und feyl dryn gefunden, datzu etlich verstendiger den ich XVIII gebrechen in der selben eynigen bullen gesehen. So den einen so grossen bischoff zu Mentz und Magdeburg zu betriegen mit der selben bullen die Romischen buben sich nit geschewet haben, was sollten sie nit fürnehmen widder mich armen betteler?" (WA 6,593). Man wird nicht fehlgehen, die Bulle von 1515 unter der von Luther geschenen Ablassbulle zu verstehen; denn Luther denkt doch wohl an den Anschlag seiner 95 Thesen, wenn er auf den "Anfang dieser Sach" sich zurückbezieht (WA 1,655,.35). Kaum aber kann er damals die Bulle Leos X. vom 13. September 1517 schon vor sich gehabt haben. Er wird mit (27) der Instructio summaria, die ja auf der Bulle von 1515 ruhte, gleichzeitig diese kennen gelernt haben. Griff die Instructio stets auf die Bulle zurück und sollte laut jener über diese von den Ablassprädikanten gepredigt werden, so lag Grund genug für Luther vor, über die Bulle sich zu informieren. Er hat sie in Abschrift oder wahrscheinlicher Abdruck  vor sich gehabt, wie daraus hervorgeht, dass er wünscht "die rechte heubt bullen" [das Original] der Bannbulle zu sehen, "lass mich die abschriften und Copeyen nit anfechten," -- die er also bisher vor sich hatte, -- weil gerade mit diesen Betrug getrieben sei. Im Kreise der Docenten -- man wird nicht zum wenigsten an die Juristen denken, bei denen Luther sich Rats erholte -- ist sie besprochen worden, 18 "Gebrechen" haben die Freunde fixiert, nachdem Luther selbst schon "merklich" gefunden hatte. Näheres lässt sich nicht sagen, genug dass die Bulle zu dem Material mitgehört, welches Luthers Auftreten veranlasst hat. -- Jene Stelle ist, irre ich nicht, die einzige, an welcher Luther die Bulle erwähnt. Vielleicht hat der Respekt vor dem Papste ihn zurückgehantel, dieselbe bei der Zuschrift der Resolutionen zu nennen. Ebenso mochte er auch wohl dem Erzbischof nicht vorrücken, dass er sich hatte dupieren lassen. Und war wohl Luther ganz sicher, dass es nur um eine Täuschung sich handelte? Bez. der Bannbulle war er es ganz sicher nicht, da mögen vielleicht auch bez. der Ablassbulle Zweifel vorhanden gewesen sein, vielleicht von Anfang an; dann aber war es für Luther bei seiner damaligen Respektstellung dem päpstlichen Stuhle gegenüber doppelt erboten, nichts laut werden zu lassen. --

Bekanntlich hatte Luther seine Thesen angeschlagen in der Meinung, in der Ablasslehre eine diskutable Materie vor sich zu haben, über welche er persönlich durch eine Disputation zur (28) Klarheit zu kommen hoffte. Den heftigen Angriffen seiner Gegner gegenüber hatte er sich durch diese Behauptung, dass eine bestimmte Ablasstheorie mit bindender Geltung noch nicht aufgestellt sei, salviert und namentlich seine Rechtgläubigkeit durch dieselbe nicht ohne Geschick gedeckt (cf WA 1,391: Ein Ketzer heisst, der nit glaubt die Stück, die not und geboten sind zu glauben ...). Noch in seinen Appellationen an den Papst wie an das Concil hatte er diesen Rechtsgrund für sein Verhalten geltend gemacht (WA 2,28 og 36). Allein nunmehr beeilte sich der Papst, ihm denselben zu entziehen, indem er sich mit den scholastischen Theorien, die Luther bisher von der römischen Kirche geschieden hatte, identifizierte. Luthers Brief an ihn, die Zuschrift der Resolutionen (Ende Mai 1518) in welchem gleichfalls auf die Diskutierbarkeit der Ablasslehre hingewiesen war, hat den Anstoss gegeben. Eine päpstliche Bulle vom 9. November 1518 bestimmte ihren eigenen Zweck dahin, dass fürderhin Niemand in Ablasssachen mit Unwissenheit sich entschuldigen oder mit einer erdichteten Protestation sich helfen möge -- eine nur zu deutliche Spezialisierung det "etlichen Mönche", von denen sie eingangs redet, auf den Wittenberger Augustiner. Wer gegen die in der Bulle fixierte Ablasstheorie auftreten würde, der solle exkommuniziert werden, alle und jede in Deutschland befindliche Erzbischöfe, Bischöfe und andere Ordinarii locorum sollten also in ihren Kirchen verkündigen lassen. Es war wohl nicht ohne Absicht, vielmehr ein Seitenhieb auf den Gegner, dass (29) Eck in der Leipziger Disputation bei Erörterung der Fegfeuermaterie seine Rede damit begann, er wolle nicht den Mandaten des Papstes in seinem Dekrete Cum postquam (so begann die Ablassbulle: bul-9-11#2) entgegen treten, sondern nur die dort approbierte Wahrheit verteidigen, da ja Exkommunikation auf Verletzung derselben stehe. (WA 2,344, cf 346 = eck10#2; cf #16).

Luther hat am 13. Januar 1519, wie er anScheurl schreibt, die Bulle noch nicht gesehen, er hat nur gehört von ihr, und zwar, dass sie de plenitudine potestatis rede, ohne irgendwelche biblische und kanonistische Autorität. Gerade darum fürchtet er nichts, glaubt auch nicht, dass irgend etwas geschehen wird, Gott weiss es. Von wem Luther von der Bulle gehört hat, ist unbekannt, Scheurl kann es dem Wortlaute nach nicht sein. Wenn man vermuten darf, so möchte man auf Miltitz schliessen. Luther erwähnt in dem Briefe an Schneurl seine Zusammenkunft mit Miltitz unmittelbar vor der Nennung der Bulle (Enders I, Nr 138); dieser hat etwas um dieselbe Zeit dem Kurfürsten eine Copie der neuen Dekretale gesandt, liegt da nicht der Schluss nahe, dass bei der Zusammenkunft in Altenburg Miltitz auf die Bulle die Rede brachte? Man darf nicht engegenhalten, dass Luther schwerlich von einem Römling gehört haben wird, die Bulle stütze sich nicht auf Schrift und Rechtsautorität. Luther wird, wenn der Kammerherr jene erwähnte, diesen für ihn si wichtigen Punkt sofort herausgestellt haben, und der geschmeidige Unterhändler wird die Wahrheit darüber gesagt haben, letztlich haben sagen müssen; die plenitudo potestatis wird er dann freilich um so stärker betont haben.

Wie dem auch sei, jedenfalss hat Miltitz die persönliche Kenntnis der Bulle seitens Luthers veranlasst. Auf kurfürstlichen (30) Wunsch hatt der Kammerherr eine "Meinung und Gotdünken" entworfen, wie die Luthersche Angelegenheit beizulegen sei und der Uebersendung derselben, wie bereits erwähnt, eine Copie der Dekretale an den Kurfürsten beigefügt. Diese Aktenstücke sandte man Luther zu. Seine Antwort ist durchweg orientiert an Miltitz Vorsclägen, den "Artikel und Mittel, so mir ducrh E. K. F. G. angezeigt". Dem entsprechend wird die neue Dekretale wie bei Miltitz an fünfter Stelle behandelt. Er disponiert diesen fünften Punkt wiederum in vier Teile. An letzter Stelle bestätigt er nunmehr aus persönlichem Augenschein, dass die Dekretale "nicht einführt einigen Spruch der Schrift, der Lehrer oder Gesetze oder Ursach, sondern allein blotte Worte hersetzt". Luthers Urteil ist berechtigt; die Bulle begnügt sich damit, ohne Begründung zu dekretieren kraft apostolischer Autorität (opera varii argumenti II 428ff = bul9-11#2). Weiterhin tadelt Luther an ihr, dass sie die übrigen Papstgesetze, auf die er sich berufen, nicht widerrufen hat. Das ist wiederum richtig, allein die Curie würde den Schluss nicht gezogen haben, den Luther daraus zieht, dass damit die Sache "im Widersprechen hangen" gelassen sei. Widersprüche kennt die römische Tradition nicht in der Entwicklung ihrer Gesetze. Endlich sagt Luther, dass die Dekretale "nichts Neues bringe", und das Alte "fast dunkel und unverständlich erzähle". Das Erstere ist insofern nicht richtig, als die Bulle notgedrungen die bisher in Theorie und Praxis vollzogene Verbingund des Busssakraments mit dem Ablass aufgab; doch wird Luthers Urteil daraus verständlich, dass manche Theoretiker sich ähnlich ausgesprochen hatten wie die Bulle. Das letztere könnte darin berechtigt erscheinen, dass in eine umfangsreiche Periode die ganze Ablasstheorie hineingepresst ist. Allein Luther (31) wird das Sachliche im Auge haben, dass nämlich die Bulle nicht auf den in Augsburg bei den Verhandlungen mit Cajetan brennend gewordenen Punkt einging, in welcher Relation das meritum Christi zum thesaurus indulgentiarum stehe. Spalatin in seinem Bedenken auf das Miltitzsche Schreiden (Schreiben??) an den Kurfürsten hatte diesen Punkt als das allein noch Controverse in der Ablassfrage hingestellt und gesagt, die Dekretale sei in derselben im Uebrigen "des Dr. Martinus meynung gar mit nichten entgegen und widerwertig". Soweit geht Luther nicht, er spricht nur mit gewisser Reserve von "Unklarheit". Thatsächlich haben Beide Unrecht, da die Bulle in für den mit der römischen Ablasspraxis einigermassen Vertrauten nicht miszuverstehender Weise den thesaurus meritorum Christi als den Dispositionsfonds für die Ablässe bezeichnete (jvfr: "aflad efter Kristi og helgenernes ovenud store fortjenester", bul-9-11#4).

Alles zusammengenommen kann Luther die Bulle nur als "wunderlich" beurteilen. Anerkennen kann er sie nicht, da ihr der Schriftgrund mangelt; doch -- fügt er respektvoll hinzu -- "will ich sie nicht verwerfen, will sie aber auch nicht anbeten".

In Leipzig ging Luther trotz Ecks Berufung auf die Bulle nicht auf dieselbe ein, doch hielt er es für notwendig in den Resolutionen über die Leipziger Thesen sie zu erwähnen. Rundweg bestreitet er dem Papst das Recht, Glaubensartikel aufzustellen. Seine nähere Erklärungen bezeugen, dass er nunmehr die Bulle ganz verstanden hat. Die Gnade und Wahrheit, sagt er, seien die merita Christi, über welche der Papst keine Verfügung haben könne; auch könne er höchstens ministerialiter die absolutio culpae dem Gläubigen ankündigen lassen. -- Damit waren die springenden Punkte der Bulle berührt (WA 2,427, 429 = releip05#39; #53). Wenn in diesem Sinne die Bulle zu verstehen sei, lasse er sie gelten, sonst weise er sie zurück. Er hat es nicht mehr für notwendig gehalten, die Dekretale weiterhin in seinen Schriften zu erwähnen. Gesehen hat er sie zum zweiten Male, als er zur Disputation in Leipzig einfuhr. Bischof Adolf von Merseburg hatte sie mit seinem Inhibitionsmandat an die Thüren der Leipziger Kirchen (32) anheften lassen. Luther schreibt darüber an Spalatin. Ihre deutsche Uebersetzung scheint ihm nicht bekannt geworden zu sein.

Kapitel 3. Die Bannbulle.

Die Untersuchung über die Bannbulle muss füglich anknüpfen an die Leipziger Disputation, sie war die Antwort der Römlinge auf Luthers Verteidigung seiner für die Leipziger Verhandlung aufgestellten Thesen, ihr Veranlasser war Johann Eck. Er hatte, wohl geärgert darüber, dass sein Triumpfgeschrei den verhassten Gegner nicht zum Schweigen gebracht hatte, insgeheim nach Rom geschrieben, bei den geistlichen Oberen allenthalben Propaganda für sich zu machen gesucht und endlich, da man seinen Wünschen nicht entgegenkam, am 18. Januar 1520 persönlich die Reise nach Rom angetreten, um, wie Luther sich ansdrückte, die Höllenschlünde gegen ihn in Bewegung zu setzen -- nebenbei freilich auch um für sich einen Lohn für seine Verdienste dort herauszuschlagen. Es gelang ihm, nach längeren Beratungen, die Bannbulle gegen Luther auszuwirken. Sie (33) datierte vom 15. Juni, drei Tage darauf wurde Eck als päpstlicher Protonotar mit der Promulgation derselben beauftragt. Im August kam er in Deutschland wieder an und beeilte sich, seinen Auftrag zu erfüllen. Am 29. September traf er in Leipzig ein, musste aber unverrichteter Sache abziehen und konnte erst nach monatlichem Zögern die Veröffentlichung der Bulle ervirken. Am 3. Oktober hatte er von Leipzig aus an den Rektor Peter Burkard in Wittenberg die Bulle zur Veröffentlichung geschickt unter persönlichen Bitten und Drohungen. Die Veröffentlichung fand nicht statt, man suchte die Vermittlung des Kurfürsten.

Luther hatte die Bulle schon lange erwartet. Hatte er noch am 21. März 1520 an Lang die Hoffnung ausgesprochen mit Rücksicht auf Ecks Romreise, auch Rom sei Christo unterworfen, und der werde, wenn er (Luther) würdig sei, dort für ihn die Sache führen, so ist ihm schon am 16. April 1520 ein Gerücht von seiner bevorstehenden Bannung bekannt. Unter dem 4. Juni meldet Ulrich von Hutten die Rückkehr Ecks aus Rom, von Ecks Triumphen dasselbt berichtet Luther am 7. Juni an Hess, unter dem 21. Juni schreibt er an Jonas von drohenden Machinationen Ecks in Rom, über die ihn amici ex urbe unterrichtet haben, Briefe an den Kurfürsten aus Rom, die ihm zugesandt wirden, liessen den Bann ahnen, am 10. Juli wünscht er fast, es käme "jene famose Bulle", dann wiederum hiess es, Eck habe noch nichts in Rom erreicht, oder die Bulle (34) werde in milde Form gefasst werden, endlich -- Mitte oder Ende September -- ist es gewiss, dass Eck mit der Bulle in Deutschland angekommen ist. Ironisch sagt Luther mit Bezug darauf, dass Eck mit Geld beladen (nummatus) heimkehrte: "gebe der Herr, dass einer der verdammten Artikel der sei: "es sei zu wünschen, dass es keine Bettelsäcke mehr gebe".  (Luthers Wunsch wurde erfüllt, cf art. 41 = exurge#57). Im Uebrigen ist er getrost: ridebo et ego bullam sive ampullam. Und doch ahnt er mit tiefem Ernste, dass mit der Bulle nach göttlichem Ratschlusse "neue Kriege" bevorstehen; denn die Bulle ist hart, gegen ihn und seine Bücher sowie alle seine Anhänger gerichtet (an Conrad Saum 1. Oktober 1520). Gegenwärtig ist Eck in Leipzig, seine Bulle mit Gepränge austrompend. Was geschehen soll, weiss er noch nicht, Gott wird dafür sorgen, der himmlische Vater weiss, wessen ihr bedürft, ehe ihr darum bittet: -- so tröstet er sich und den Freund. Den Gedanken, an den Papst zu schreiben, giebt Luther angesichts der Bulle auf, zumal er noch nicht weiss, was Eck in Leipzig weiterhin thun wird.

Am 11. Oktober kann Luther an Spalatin berichten, dass die Bulle in Wittenberg angelangt sei und die Universität an den Kurfürst berichtet habe. Luther selbst hat sie gelesen; denn er charakterisiert sie scharf in seinem Briefe an den Hofkaplan. (Enders II Nr. 452, cf die Worte: vides in ea damnari Christum, welche die eigene Lektüre voraussetzen; auch schickt er Spalatin ein Exemplar). Wenn er ausspricht, Christus selbst werde in ihr verdammt, so mag er die als häretisch bezeichneten Sätze im Auge haben, in denen er selbst auf die Autorität Christi sich berufen hatte (art. 2, 11, 25, 26 = exurge#18; #27; #41f). Was er erwartete, die Aufforderung zu einem Verhör, (35) hat er nicht gefunden, nur das Verlangen des Widerrufs. So verachtet er die Bulle, er will sie als erdichtet und erlogen bekämpfen, obwohl er von ihrer Echtheit überzeugt ist. Im übrigen fürchtet er nichts, da die Bulle wie Eck in Leipzig und überall verachtet werden, ja, er freut sich für die beste Sache Böses erleiden zu dürfen. Seine Appellation will er erneuern (Es geschah am 17. November). -- Aehnlich spricht er sich in den Briefen der Folgezeit aus: er freut sich, dass der Herzog Johann Friedrich von Sachsen wegen der Bulle ihm Mut zusprach (Enders II Nr. 357), dass Johann Greffendorf durch die Bulle nicht entmutigt wird (ebda Nr 358), sagt nicht ohne Spott mit Beziehung auf Ecks Miserfolge (cf ebda Nr 511 und 524), derselbe habe doch mit Thränen seine Bulle in Rom erbeten, verachtet sie seinerseits kühnlich, obwohl er argwöhnt, Herzog Georg werde seine Vertreibung aus Wittenberg veranlassen. Sein kühner Mut sticht merklich ab gegen die in Wittenberg herschende Angst, von welcher selbst die Professoren nicht verschont blieben. Man hat sogar Luther die wahren Motive (der Furcht) des Schreibens an den Kurfürsten verheimlicht. Etwa 400 Studenten weniger waren in jenen Tagen in Luthers Vorlesung. Der Kurfürst selbst hingegen blieb der Bulle gegenüber ruhig und kühl, Erasmus hatte sich verleiten lassen, sogar gegen die Bulle sich auszusprechen.

Hatte Luther am 11. Oktober Spalatin eine Schrift gegen Eck angekündigt, die wohl bald darauf erschienen sein wird (Enders II Nr. 352, WA 6,577), (36) so kann er am 4. November ihm seine Latina Antibulla senden (Enders II Nr. 362, WA 6,595) und ihre deutsche Uebersetzung ankündigen, welch letztere besonders Herzog Georg und dem Merseburger Bischof zugedacht war. "Vor lauter Unwürdigkeit der Sache habe ich mich gezwungen, kurz zu sein. So martert mich dieses Satanswerk von Bulle, fast hätte ich ganz geschwiegen, .... doch die Grösse der widerlichsten Lästerungen in der Bulle hat mich überwunden". Mit Bezug auf das Verhalten des Herzogs Georg spricht er wiederum die Befürchtung aus, die Bulle werde einen unstillbaren Aufruhr hervorrufen (Enders II 532). "Wer dieser Bulle nun Vorschub leistet oder ihr nicht entgegentritt, der kann unmöglich selig werden". -- Unter dem 13. November meldet er den Empfang einer satirischen Schrift Bulla. -- Jene stürmischen Entgegnungsschriften auf die Bulle scheinen der massvollen Besonnenheit des Kurfürsten nicht genügt zu haben, denn er liess, zurückgekehrt von Köln, wo er mit den Nuntien eine Zusammenkunft gehabt hatte, Luther durch Spalatin zu einer Verteidigung der einzelnen in der Bulle verdammten Artikel auffordern, welche dieser alsbald in Angriff zu nehmen versprach (an Spalatin 29. Nov. 1520). Die deutsche Uebersetzung derselben (37) will er auch selbst übernehmen, weil es nur eine freie Uebertragung werden könne. Er verspricht, alles "was jene Mordbrenner durch die ihnen sehr ähnliche Bulle verdammt haben", zu verteidigen.

Bald darauf sandte Ulrich von Hutten ihm seine Randglossen zur Bulle zu, nachdem bereits Capito ihn auf dieselben aufmerksam gemacht hatte (Enders III 4,15). Dann entschloss er sich -- der Plan war schon seit längerem gefasst -- durch einen nicht miszuverstehenden öffentlichen Akt seine Verachtung des päpstlichen Bannstrahls kundzugeben. Er verbrannte am 10. Dezember vor dem Elsterthore die Bannbulle, nachdem Melanchthon die Wittenberger Studentenschaft durch Anschlag ad hoc pium et religiosum spectaculum hatte einladen lassen. Wie es in diesem Aufrufe ausdrücklich hiess, sollte die Verbrennung der Bulle die Antwort sein auf die Verbrennung der "frommen und evangelischen Bücher Luthers". Hatte Luther schon vorher jede private fürstliche Vermittlung in Sachen des Bannes abgelehnt (Enders II 486f. 510); so war er nunmehr zielbewusst selbständig vorgegangen, auch die Mahnungen eines Spalatin hatten ihn nicht zurückgehalten. Wenn er selbst in jenem denkwürdigen Augenblicke seinem Thun die Motivierung gab: "Derweil Du den Heiligen des Herrn betrübt hast," so wiederholte er das Urteil, welches er über die Bulle gesprochen, als er sie zum ersten Male zu Gesicht bekam. Mit einem kühnen Trotze teilt er Spalatin fast in amtlicher Form, ohne ein persönliches Wort hinzuzufügen, den Vorgang mit (Enders III nr 375). Und doch (38) hatte er innerlich gezittert, als er den Schritt that (an Staupitz 14. Januar 1521)! und erst allmählich war froheste Zuversicht über ihn gekommen. Eine öffentliche Rechtfertigung seines Thuns liess er bald darauf ausgeben (opera varii argumenti V 257), nachdem er unmittelbar am Tage nach der Verbrennung der Bulle seinen Studenten die Bedeutung dieses Aktes klargelegt hatte.

Bald darauf empfing er die Nachricht, die Pariser Theologenfakultät habe alle in der Bulle verdammten Artikel für christlich erklärt mit Ausnahme von zweien, welche discutierbar seien. (cf an Spalatin 15. Dez. 1520; siehe darüber, wie lange sich diese Gerücht erhielt WA 8, 257). Luther freute sich über diese Bestätigung der Richtigkeit seines Thuns und wünschte, dass jene Kunde sich bewahrheiten möge. -- Unter dem 16. Januar kann er Spalatin nach Worms zugleich mit Huttens Glossen zur Bulle und seinem Dialog Bulle die ganze Assertio samt Supplement schicken; ihre gepfefferte Schärfe sei notwendig gewesen, die deutsche Bearbeitung solle ebenmässiger werden; am 21. Januat schickt er ihm unter Wiederholung dieser Versicherung ein Pröbchen davon, bald darauf die folgenden Bogen je nach ihrem Erscheinen, bis das Ganze am 1. März vollendet war. Inzwischen hatte er "mitten unter Bullen, Schwertern und Kriegsdrommeten" das Friedenswerk der (lateinischen) Adventspostille mit Widmung an seinen Kurfürsten in Druck gegeben. -- Seine zuletzt an Staupitz geäusserte frohe Zuversicht hat er nicht verloren, er scherzt darüber, dass die (39) Bulle ihn von den Papstgesetzen absolviert habe, ebensowenig aber verlor er die klare Erkenntnis der durch die Bulle geschaffenen ernsten Lage: "bis jetzt ists in meiner Sache Spiel gewesen, Ernsteres steht bevor", schreibt er an Staupitz, (14. Januar 1521), und das unterwürfige Verhalten desselben ist ihm deshalb leid, weil es "nach Kenntnisnahme jener Bulle und Christi Schande noch hat geschehen können (9. Februar 1521). Ihm ist mit der Bulle der Riss zwischen dem Papsttum des geistlichen Rechts und ihm vollendet, und nicht mit Unrecht ahnt er, dass die Bulle Anstoss geben wird zu einer neuen politischen Behandlung seiner Angelegenheit. Sein Verhör zu Worms war das Schlussglied in einer Kette diplomatischer Verhandlungen, welche sich an die Bannbulle knüpften. Die Bewegung, welche die Bulle in den verschiedensten Städten hervorrief -- teils fand sie Beifall, teils bitteren Spott -- das Verhalten eines Meissner und Merseburger Bischofs, eines Herzog Georg, das kaiserliche Mandat zur Bestätigung der in der Bulle verordneten Bücherverbrennung musste ihre politische Bedeutsamkeit, noch ganz abgesehen von den Wormser Verhandlungen, Luther kundthun. --

Bei seinem  zweiten Erscheinen vor der Reichsversammlung in Worms berief sich Luther an einer Stelle auf die Bulle. Bekanntlich teilte Luther in der Antwort auf die zweite Frage des (40) Trierer Offizials Johann Eck seine Bücher in drei Klassen. Die erste Klasse seien Schriften "von Glauben und Sitten, evangelisch und schlicht, die auch seine Gegner anerkennen". Ja, selbst die Bulle -- hier offenbar angeführt als die Verkörperung grimmigster Gegnerschaft -- mache etliche seiner Bücher zu unschädlichen, wiewohl sie dieselben durch ein widernatürlich Urteil mit verdamme (WA 7,833, 836, 879). Luther bezieht sich hier auf das Gebot der Bulle an alle Christgläubigen, ne scipta etiam praefatos errores (die 41 Artikel) non continentia ab eodem Martino quomodolibet condita vel edita .. legere, asserere ... imprimere praesumant, quinimo illa comburant" (exurge#69). Motiviert war dieses Verbot damit, dass alle Schriften eines inimicus orthodoxae fidei als solche verdächtig seien. Bereits in seiner Schrift adversus execrabilem Antichristi bullam hatte Luther diesen Widersinn berührt, er mochte nun besonders in ihm haften, als auch Hutten, dessen Glossen zur Bulle Luther inzwischen gelesen hatte, an de betr. Stelle ähnlich sich geäussert hatte. Der Ritter schreibt: "Etiam sana scripta Lutheri damnas? Mit dem Unkraut willst Du auch die beste Saat ausraufen? Das scheint doch gottlos und Deiner nicht würdig". --

Als Luther am 13. Juli 1521 erstmalig die Entscheidung der Pariser Theologen, die er schon einige Tage vorher erhalten haben muss, erwähnte (Enders III 190), brachte er sie nicht mehr in Beziehung zur Bannbulle. Der Augenschein lehrte, dass jenes Gerücht falsch gewesen, und der Inhalt der Verdammungsurteils war trotz unverkennbarer Anlehnung an die Bulle ein weit reichhaltigerer. Auch in seiner deutschen Uebersetzung der Pariser Artikel erwähnt er sie nicht mehr. (cf die Herübernahme von Artikel 1, 6, 15, 12, 29-34, 36-39, 8,11, 4 paris2#1) -- (41)

Indem die Uebersicht über die Erwähnungen der Bulle in Luthers Korrespondenz und einzelnen Aeusserungen hiermit abgeschlossen wird, stellt sich als Gesamteindruck fest, dass die Bannbulle für Luther ein entscheidendes, einschneidendes politisches Ereignis mit Wirkungen von grosser Tragweite bedeutete, welch letzere er aber getrost Gott anheim stellt, da er innerlich in getroster Zuversicht auf Grund seiner religiösen Position über das widerchristliche Papstmachwerk erhaben ist. -- Prüfen wir nunmehr die Erwähnungen der Bulle in Luthers Schriften: (42)

Seine erste litterarische Antwort auf die Publizierung der Bannbulle trägt die Form einer Invektive gegen ihren Exekutor. Luther hatte beim Empfang der Bulle geäussert, er wolle den Namen des Autores, des Papstes, aus dem Spiele lassen, daher der Titel "von den neuen Eckischen Bullen"; sofern er zugleich eine Gegenschrift Ecks auf sein Manifest an den christlichen Adel bekämpfte, fügte er hinzu: "und lugen" (WA 6,576f). Wenn Luther beginnt: "Das Dr. Eck von Rom sey kummen, wirt mir durch viele tappere antzeygen bekundigt" und dann als Beweise speziell für diese Behauptung sowie im allgemeinen für Ecks Schlechtigkeit auf seine Thaten in Bayern, Schwaben, Oesterreich, Rhein, Rom, Bononien "und auch nu in Meyssen und Sachszen" verweist, so giebt er einen Rückblick über seine Beobachtungen der Eckschen Machinationen, wie sie z. T. oben skizziert wurden. Wenn er an Ecks Thaten in Schwaben erinnert, so mag er denken an die Nachrichten, die Adelmann aus Augsburg ihm übermittelt hatte, die Erwähnung Bayerns, Oesterreichs und Bononiens weist auf die Disputation Ecks in Landshut (1510), Wien (1516) und Bologna (1515) [cf über die Eckschen Disputationen Albert in Zeitsch. für histor. Theologie 1873 S. 385ff. Ebda. auch den Nachweis, dass Luther nur ein Urteil seiner Zeit wiedergab, wenn er Eck verspottete]; schon einmal hatte Luther die victoriae Pannonicae, Longobardicae, Bajoricae bespöttelt (cf Enders I 404). Unter Ecks Thätigkeit am Rhein ist seine siebenmonatliche Wirksamkeit in Köln in den Jahren 1501/1502 verstanden [oder etwa (43) sein Angriff auf Erasmus in Basel? Albert a. a. O. 397]. Wenn endlich Ecks Treiben "nu in Meyssen und Sachszen" genannt wird, so geht das auf seine Erfolge bez. Misserfolge in Leipzig, Erfurt und Meissen, um die Luther genau wusste. Die Canonici indocti, welche Luther als Beleg für die Wetterwendigkeit Ecks in jenen Anfangsworten nennt, knüpften an die Meissener Intriguen Ecks an, der Eccius dedolatus, den luther weiterhin nennt, schilderte die Blosslegung der Eckschen Machinationen in der Form einer gründlichen chirurgischen Operation.

Luther behandelt im weiteren Verlauf seiner Schrift einzelne Sätze der Bulle, die Eck angeführt hatte, sehr kurz und thut, wie er sagt, sein Maul erst weit auf in seiner Verteidigung des Costnitzer Konzils. Er begnügt sich mit einer knappen Zurückweissung der Verdammung der betr. Sätze und der Berufung auf seine Schriften, aus denen sie exzerpiert sind. Die Sätze werden angeführt als Sätze Ecks, nicht der Bulle. So wird zunächst Satz 2 in freier Wiedergabe der Form, die Eck ihm gegeben hatte, besprochen. "Zum ersten schreybt er, ich mackel das sacrament der tauff, das ich sage, es neme nit alle sund abe (cf Ecks Worte auf Blatt Aj der Ausgabe von M. Landsberg [Fr]); cf in der Bulle: in puero post baptismum negare remanens peccatum etc. (exurge#18). Die Behauptung, die Luther Eck zuschreibt, er (Luther) wünsche keine Besprengung mit Taufwasser, stammt nicht aus der Bulle, sondern ist von Eck hinzugesetzt. -- Eine Zuammenfassung von Artikel 6-9, 13 und 14 der Bulle ist es, wenn Luther Ecks Worte anführt: "das ich die rew vernichte und unnottig achte, die beychte beschneytte und gnugthuung vorwerff" (WA 56,580). Den folgenden Worten Ecks, die Luther in freier Zitierung angiebt: "das ich vorwirffe bereytung zum sacrament mit beten und fasten", liegt Satz 15 der Bulle zu Grunde (exurge#31). Die Behauptung Ecks (44) in der Wiedergabe durch Luther "das ich leren sol, es sey gnugsam, das der sunder von sunden lasz, oder schon nit rew habe", war durch Satz 6 und 14 der Bulle legitimiert (cf WA 6,580 anm. 3). Nachdem Luther noch fünf weitere Sätze Ecks besprochen, die sich mit der Bulle nicht berühren, verlässt er die bisher eingehaltene Ordnung, in genauer Reihenfolge Punkt für Punkt Eck zu widerlegen und bringt zunächst einen Satz Ecks, der bei diesem an späteren Stelle sich findet, um alsdann wieder in Ecks Ordnung einzulenken. Jener Satz ist die Ecksche Behauptung: "das ich nit gerne sehe die Ketzer vorprennen, spricht er, ich furcht der haut" (Bei Eck heisst es Bl. B: Auch wil ich nith ruren, dass er seiner haut förcht und sagt, es sey wider den Willen des geistes, das man Ketzer vorbren), und steht in Beziehung zu Artikel 33 der Bulle (exurge#49). -- Der 18. und 24. Satz der Bulle war Stützpunkt gewesen für Ecks Verteidigung des Ablasses und Bannes, trotzdem er Missbräuche in der praktischen Handhabung beider anerkannt hatte. Luther macht Eck den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit, sofern er die Behauptungen Luthers innerlich anerkenne. (exurge#34; #40) -- Mit dem 41. Satz der Bulle stimmte die von Luther angeführte Behauptung Ecks überein, er erstrebe Aufhebung der Bettelorden (exurge#57). Auch hier beschuldigt Luther den Gegner der Unwahrhaftigkeit. -- Wie die Bulle (Satz 34 = exurge#50), so hatte auch Eck getadelt, "das ich wider die Turcken kriegen vorwirff, bisz das wir vorhyn frum werden und darnach mit gotis furcht an sie tziehen". -- Endlich schützt Eck noch den 38. und 39. Satz der Bulle über das Fegfeuer, worauf aber Luther sich gar nicht einlässt. (Die Worte Ecks, s. WA 6,587 anm.) Nunmehr geht Luther zur Erörterung seiner Behauptungen über das Constanzer Konzil über, um erst am Schluss die Bulle wieder zu treffen. Er behandelt sie hier als ein Lügenwerk Ecks und begründet ausführlich, warum sie ihm als solches erscheint. Es war mehr ein (45) dialektischer Kunstgriff Luthers, der ihm die schärfste Verspottung der Bulle ermöglichte, als innerste Ueberzeugung (cf an Spalatin 11. Okt. 1520). Ihm kam es vor allem auf die Sache an, dass man wagte, christliche Artilen zu verdammen, die Autorschaft war nebensächlich. Ein gewisses traditionelles Respektsgefühl gegen den Papst mochte bei seinem Verhalten mit unterlaufen. --

Hatte Luther in der besprochenen Schrift gleichsam nur den Sack geschlagen, aber nicht minder den Esel gemeint, so wendet er sich bald darauf unmittelbar selbst adversus execrabilem Antichristi bullam. Der Satz, mit welchen Luther diese Schrift beginnt, es sei das Gerücht von einer gegen ihn ausgegangen, durch Eck veranlassten Bulle zu ihm gedrungen, noch ehe sie ihm zu Händen kam, beglaubigen seine brieflichen Aeusserungen. Auch das zeigt seine Korrespondenz, dass er diese "Tochter der Nacht" endlich gesehen hat vix tandem multum adiuvantibus amicis. Sie war gekommen, die Bulle (venit tandem bulla ista Romana per Eccium allata), von Eck gesandt, die Bemühung der Freunde -- es wird vor allem an den Rektor Burkard zu denken sein, dem amtlich die Bulle zugesandt war -- wird sich darauf beschränkt haben, ihn baldmöglichst von dem Eintreffen zu benachrichtigen; es war dies insofern ein Freundesdienst, als der Rektor "bei den Juristen in Rat funden, solichs (die Bulle) der Universität nit zu publizieren (Enders II 492, Anm. 2); abgeschwächt aber wurde dieser Freundesdienst in seiner Bedeutung dadurch, dass alsbald Exemplare der Bulle in Wittenberg eintrafen, sodass Luther sie ohnehin bald hätte kennen lernen müssen (Carlstadt hat sie erst am 16. Oktober gesehen). -- Nicht ohne Absicht wird die Bulle (46) als Machwerk des Antichrist behandelt; unter diesem Begriffe -- und deutlich genug weist Luther auf diese Möglichkeit hin -- konnte auch der Papst Platz finden. In feierlicher Protestation verwirft er die Bulle als blasphemia Christi, filii Dei et Domini nostri -- eine weitere Wiederholung seines ersten Urteils über jene. Luther tadelt alsdann die summarische Verwerfung der Artikel, ohne dass man sie genauer Einteilung und Ordnung unterzog. Durch Einführung des Wörtleins respective und allgemeine Bezeichnung der Artikel als alii respective haeretici alii erronei alii scandalosi habe man sich präciser spezialisierter Formulierung, wie die Differenzierung des Verdammungsurteils im Einzelnen zu verstehen sei (nescimus, qui, quales, quanti), überholen geglaubt. (cf die Worte der Bulle WA 6,599 dafür, dass sie sich thatsächlich mit einer summarischen Verwerfung der Artikel begnügte (exurge#63)). Wenn nun Luther im Folgenden die gesamte Unterscheidung von articulus haereticus, erroneus, scahdalosus, offensivus als acutissima acutissimorum hominum distinctio lächerlich macht und seinerseits nur das Entweder Oder: wahr oder falsch anerkennen will, (WA 6,601), so liegt seiner beissende Ironie letztlich ein vielleicht von Luther mehr geahnter als ihm deutlich bewusster tiefer Gegensatz zwischen ihm und den Römlinge zu Grunde. Für diese hatte jene "Spitzfindigkeit" Bedeutung; es gab dogmatische, besser noch (47) juristische (n47) Unterschiede in den Abweichungen von der Lehrtradition. Irrtum und Häresie war dort z. B. nicht das Gleiche. Pflegt der Begriff der Häresie seine Norm vom Kirchenbegriff zu empfangen, so musste, sofern der letzere für das Bewusstsein des Mittelalters eine rechtlich-gesetzlich festgelegte Grösse umschloss, die Häresie als Rechtsverletzung und Gesetzesübertretung eben dieser Ordnung erscheinen. Sofern aber diese Ordnung, nicht zum wenigsten deshalb, weil ihre Materie innerlich der äusseren Hineinpressung in gesetzliche Formen widerstrebt, niemals alle Eventualitäten, Meinungen, Probleme bis ins Einzelste völlig umspannen kann, ist Raum geschaffen für Differenzen, die ohne direkt häretisch zu sein, doch gewisse Abweichungen von dem traditionellen Lehrtypus darstellen und kirchlicherseits als Irrtümer -- zum Unterschied von der ausgesprochenen Häresie -- beurteilt werden. Diese Differenzierung, die in einzelnen hier nicht zu besprechen ist, da nur das Principielle in Frage kommt, resultierte mit Notwendigkeit aus dem Kirchenbegriff. Fiel nun aber dieser, so auch jene. Für Luther war er gefallen, die Kirche war ihm nicht mehr jene hierarchisch gegliederte Gemeinschaft unter festgelegten Lehrnormen, sondern conventus fidelium. (48) Ist aber der Glaube als intensives, unmittelbares, praktisches Agens Charakteristikum der Zugehörigkeit zur "Kirche", so verliert die Differenzierung intellektueller Momente ihre Bedeutung. Jetzt concentriet sich die Differenzierung auf ein Entweder-Oder: wahr oder falsch. Häresie, Irrtum, etc. sind völlig gleichwertig gemessen an der praktisch orientierten Glaubensgewissheit. Jetzt heisst es, wie Luther sagt: quod haereticum non est, catholicum est, Christo dicente, Qui non est contra vos, pro vobis est. Dass Luther selbst früher bei anderer Gelegenheit allen Nachdruck auf die Unterscheidung von erroneus, haereticus etc. gelegt hatte, nimmt sich seiner jetzigen scharfen Polemik gegenüber eigentümlich aus und ist ein Beweis, wie sehr er inzwischen zur Klarheit über seinen Kirchenbegriff sich durchgerungen hat. --

Nunmehr weist Luther auf den später in Worms wiederholten Widersinn hin, dass man auch diejenigen seiner Bücher verbrennen solle, in denen keine Irrtümer sind. Es klingt wie eine Antecipation der späteren historischen Vorgänge, wenn Luther an dieser Stelle an Kaiser, Fürsten und Bischöfe appelliert, solche Ungeheurlichkeiten nicht zu dulden. -- Mit bitterem Spotte bedankt sich Luther bei dem römischen Stuhl, dass er, der doch sonst so geizig sei, in der Bulle sich rühme, ihm allein das Geld für eine Romreise zwecks Umkehr von Irrtümern angeboten zu haben. Um die Bannung zu rechtfertigen hatte Leo X in der Bulle ausgeführt, dass er alles gethan habe, um Luther von seinen Irrtümern zurückzubringen, z. B. ihn auch salvo conductu (49) et pecunia ad iter necessaria nach Rom (1518) citiert habe (exurge#70). Luther seinerseits erklärt dieses Anerbieten für eine Lüge, die Cajetan in die Bulle hineingebracht habe. Die Einsichtnahme der Citationsakten (cf op. var. arg. II. Das salvo conductu wird dort erwähnt, s. 402) soweit sie vorhanden sind, giebt Luther darin Recht, dass jene Vergünstigung ihm nicht angeboten worden ist. -- Eine deutliche Anspielung auf Worte der Bulle liegt vor, wenn Luther erklärt, die Bulle mache die ecclesia catholica zu einige wenigen Cardinälen, Prioren, Magistern und Doktoren (Luther nennt diese, weil Leo in der Bulle sich cum Cardinalibus regularium ordinum Prioribus, ... pluribus aliis sacrae Theologiae .. .Magistris solidarisch erklärt hatte; exurge#59), während doch Augustin einen anderen Kirchenbegriff im Auge gehabt hatte, als er die Worte sprach, er würde dem Evangelium nicht glauben, wenn ihn nicht die Autorität der Kirche dazu veranlasst hätte. Die Bulle hatte nämlich erklärt, Luthers Sätze seien contra catholicae ecclesiae doctrinam sive traditionem (exurge), deren unbedingte Autorität doch Augustin durch jenen Anspruch -- die Bulle citiert ihn -- anerkannt hätte (exurge#60). Luther seinerseits weiss sich mit der gesamten Kirche, der communio sanctorum, wie er mit den Worten des Apostolikums sagt, eins, ist auch der Ueberzeugung, dass Augustin diesen Kirchenbegriff habe, und muss so zu dem bitteren Spott kommen, die Bulle schränke den Kirchenbegriff ein, wenn sie ihm vorwerfe, er handle contra ecclesiae doctrinam. Für sein Bewusstsein handelt er nur gegen die Doktrin seiner Richter in der Bulle. Luther beurteilt den Gegner hier von seinem Kirchenbegriff aus; dadurch geht ihm die nüchterne Betrachtung verloren, dass der oder die Verfasser der Bulle von ihrem Standpunkte aus gar nicht (50) anders urteilen konnten, als sie es thaten. -- Luther bespricht nunmehr die sechs ersten Artikel der Bulle (art. 4 nur indirekt), anerkennt sie als die seinigen und erklärt sie in Uebereinsstimmung mit der "katholischen und christlichen Wahrheit". Die wiedergabe der Artikel differiert in einigen unwesentlichen Punkten von der Huttenschen Wiedergabe der Bulle, dem gleichzeitigen Leipziger Druck, dem römischen Druck und dem Magnum Bullarium. So sagt Luther in Artikel 1: haeretica est sententia statt haeretica sententia est (so die Drucke), dare illis statt illis dare, auch lässt er das iustificantem vor gratiam aus, fügt dagegen in Artikel 2 ein esse hinter remanens hinzu. In Artikel 3 sagt er assit statt adsit, in Artikel 5 lässt er das et zwischen Confessionem und Satisfactionem aus und schreibt scriptura sacra statt sacra scriptura (so das Bullarium und der Leipziger und römischer Druck, Hutten lässt das sacra aus), in Artikel 6 liest er mit den gleichzeitigen Drucken collectio, während das Bullarium collatio liest. Die Differenzen werden sich durch gedächtnismässige oder freie Wiedergabe seitens Luthers erklären, wenn es auch möglich bleibt, dass ihm ein Druck oder eine Handschrift vorlag, die jene Abweichungen enthielten. Indem Luther auf die Erörterung der übrigen Artikel verzichtet, wiederholt er zum Schluss (51) seine feierliche Erklärung, die verdammten Sätze seien sämtlich christlich.

In der deutschen Wiedergabe seiner Schrift lässt Luther jede Rücksicht auf den Papst fallen und erklärt ihn offen für den Verfasser deer Bulle. (WA 6,615ff). Die Polemik gegen die Differenzierung der Verdammung wiederholt sich, fast mit denselben Worten, ebenso der Nachweis des Widersinns, auch diejenigen Bücher zu verbrennen, welche keine Irrtümer enthalten (WA 6,618; 620). Die beiden in der lateinischen Schrift nunmehr folgenden Bezugnahme auf die Bulle fehlen in der deutschen. Statt sechs bespricht Luther hier zwölf Artikel. Die deutsche Wiedergabe derselben ist mit sichtlicher Anlehnung an den lateinischen Urtext abgefasst; wird Einzelnes ausgelassen, xo ist es Unwesentliches. So fehlt in Artikel 1 die Uebersetzung des sed usitata und novae legis, in Artikel 3 des exeuntem a corpore animam, in Artikel 4 ist "Gottes" zu "Liebe" hinzugesetzt, in Artikel 5 fehlt die Uebersetzung des Christianis vor Doctoribus, in Artikel 7 ist -- wohl zur Verdeutlichung -- den Worten "new leben iest die beste busz" beigefügt "odder umbkeren ist das beste"; um desselben Zweckes willen in Artikel 11 "da er sagt zu Petro" sowie die Ausschreibung des Citates. Man hat den Eindruck, dass Luther bei der Verdeutschung die lateinische Bulle vor sich hatte; vielleicht erklärt es sich so, dass die Uebersetzung daas in der lateinischen Schrift ausgelassene et in Artikel 5 bringt. --

In der Assertio omnium articulorum giebt Luther, wie schon der Titel besagt, eine genaue Erklärung sämtlicher verdammten Lehrsätze, "vielleicht weil es notwendig sei, den Glanz und Schimmer zu zerstören, durch den die mit dem Titel des römischen Oberhirten und den Namen einiger Doktoren gezierte Bulle bei dem Volke Autorität finden könne, denn das Volk glaubt, was unter des Papstes Namen ausgeht, kommt von Gott (o.v.a. V 158; WA 7,95)". (52) Dass Luther spöttisch hervorhebt, der Papst und etliche Doktoren hätten die Bulle ausgehen lassen, ist uns bereits bekannt. In der Wiedergabe der Artikel begegnen wiederum einige Differenzen von den oben genannten Drucken. In Artikel 1 sagt Luther: Haeretica est sed usitate sententia, während jene diese Zwischenstellung des sed usitata nocht haben und sententia vor est setzen, ferner stellt er dieses Mal die Worte um zu dare gratiam illis (die Drucke: gratiam illis dare) und lässt das iustificantem wiederum aus (ass01#41). In Artikel 2 ist das esse wiederum hinzugefügt, in Artikel 3 das exeuntem ausgelassen und wiederum assit statt adsit gesagt, in Artikel 4 secum fert statt fert sceum, in Artikel 5 fehlt wiederum das verbindende et und die Titulatur Christianis vor S. Doctoribus, in Artikel 6 sagt Luther: et acquisitionem aeternae damnationis statt ac aeternae damnationis acquisitionem, in Artikel 7 steht bei ihm hinter est ein enim und fehlt et hinter proverbium, der hinter praestantius stehende Trennungsstrich est eretzt durch ein quo dicitur, und die Worte de caetero non facere summa poenitentia fehlen (ass03#1). In Artikel 8 steht venialia peccata statt peccata venialia und manifeste mortalia statt manifesta mortalia. In Artikel 11 schiebt Luther ein te hinter confidas ein; mit dem Leipziger und römischen Druck sowie dem Bullarium setzt er absolutus vere eris gegen et absolutus es bei Hutten. In Artikel 12 und 14 ist bei Luther sese gesetzt statt einfachen se in den Drucken. In Artikel 13 stimmt Luther mit den gleichzeitigen Drucken überein in Auslassung der erklärenden aut hinter papa gegenüber dem Bullarium. In Artikel 15 stetz Luther magnus error est statt est error in den Drucken, accedant statt accedunt, iudicium sibi manducant und haec sola fides mit dem Bullarium gegen ad iudicium in den gleichzeitigen Drucken, Hutten lässt das: fides weiterhin aus. In Artikel 16 heisst es bei Luther: nec Bohemi ... sunt haeretici et schismatici, während die Drucke lesen sed schismatici. Diese Aenderung ist nicht ohne Bedeutung. Die Bulle, welche sed setzte, stellt sich auf den (53) Standpunkt, den Luther in ausführlicher Form letztlich in der Schrift an den christlichen Adel ausgesprochen hatte (cf WA 6,454ff, cf auch 506), dass die Böhmen nicht mehr als Häretiker, sondern nur als Schismatiker zu betrachten seien. Hebt nun Luther an unsere Stelle diesen Unterschied auf, so verrät das einmal eine Nehbeurteilung der Böhmen durch ihn, (Se side 203!) und dann wiederum den oben ausführlich besprochenen Gedanken, nach welchem es für ihn von seinem Kirchenbegriff aus nur noch eine Gleichstellung von haereticus und schismaticus giebt. Seine gegenwärtige Dogmatik, wenn man so sagen darf, hat ihm die Feder bei der Wiedergabe jenes Satzes geführt und ihn vergessen lassen, dass er früher jene durch sed bezeichnete Differenz gemacht hatte (n53). -- Eine unbedeutende Abweichung von den Drucken bietet die Umstellung sub utraque specie communicantes statt communicantes s. u. sp. In Artikel 19 liesst Luther mit dem Leipziger und römischen Druck sowie dem Bullarium his qui statt iis qui bei Hutten, in Artikel 23 setzt er poenae externae statt externae poenae in den Drucken, in Artikel 25 weicht Hutten ab durch die Lesart super ecclesiis statt ecclesias bei Luther und den übrigen Drucken, in Artikel 26 schreibt Luther duntaxat, während Hutten und das Bullarium dem Leipziger und römischen Druck dûtaxat in dumtaxat auflösen, Artikel 29 setzt er fuerit, welches in den Drucken hinter probatum steht, erst hinter reprobatum, in Artikel 36 stellt er res est statt est res, in Artikel 38 sagt er de sua salute statt eorum s. (54)

In seiner deutschen Schrift "Grund und Ursach aller Artikel, so durch die römische Bulle unrechtlich verdammt worden" ist es wohl nicht ohne Anspielung auf die Bannbulle ausgesprochen, wenn Luther sich gegen den Vorwurf der Bissigkeit und Selbstüberhebung verteidigt (EA 24,54f = assty01#9). Die Bulle hatte ihm superba curiositas contra Apostoli doctrinam plus sapere velle vorgeworfen und von ihm ausgesagt: obaudivit semper ... usque in praesentem diem contumax (exurge#72). -- Die deutsche Wiedergabe der Artikel ist wiederum eine freie, Manches, das im Lateinischen zur Präcisierung der Begriffe diente, ist fortgelassen, anderes zur Verdeutlichung hinzugefügt. So ist im Artikel 1 nur "Sakrament" gesetzt in Uebersetzung von sacramenta novae legis, auch ist das sed usitata nicht wiedergegeben (assty01#31). In Artikel 3 fehlt das exeuntem a corpore animam im Deutschen, in Artikel 4 ist "Gottes" hinzugesetzt, in Artikel 5 fehlt die Titulatur "christlich" und ist das et gesetzt, in Artikel 7 und 11 kehrt der bereits angemerkte Zusatz wieder. In Artikel 15 erklärt es sich aus dem vulgären Sprachgebrauch, wenn es einfach heisst "zum Sakrament gahn" für das lateinische: ad sacramenta eucharistiae. Das et praeparatoria in demselben Artikel ist im Deutschen nicht wiedergegeben, in Artikel 16 entspricht die deutsche Wiedergabe dem von Luther in der Assertio (55) gesetzten Text. In Artikel 19 ist das qui veraciter eas consequuntur nicht wiedergegeben, in Artikel 20 ist das ad fructum spiritus utiles durch das einfachere "der Seelennutz" übersetzt, das Abstractum criminibus in Artikel 21 ist umgewandelt in das konkretere "Todsünden"; in Artikel 22 ist das lateinische nec necesarie nec utiles in Umkehrung ("weder nutz noch noth") wiedergegeben und das seu moriturus ausgelassen. In Artikel 23 steht das attributlose "Gebet" für spiritualis oratio -- im Lateinischen war ein derartiges Attribut um der Klarheit willen erforderlich. In Artikel 25 fehlt in beato Petro bei der deutschen Wiedergabe, in Artikel 26 ist das im Lateinischen nur mit den Eingangsworten eingeführte Bibelcitat völlig wiedergegeben und das neutrale ad ligata masculinisch übersetzt; in Artikel 27 ist der Papst der Kirche voraufgestellt, während das Lateinische umgekehrte Reihenfolge hat, ebenso in Artikel 29 das "vordammt" dem "bestätigt". Es entspricht Luthers Kirchenbegriff, wenn das universalis Ecclesia in Artikel 30 durch "ganze Christenheit" wiedergegeben wird. In Artikel 32 ist zur Erklärung ein "dennoch" eingeschoben, in Artikel 34 das Pronomen "illos" durhc das Nomen "Türken" ersetzt, in Artikel 36 das post peccatum in zwei Begriff im Deutschen auseinander gelegt: "nach dem Fall Adä" -- also von dem peccatum originale originans verstanden -- "oder nach der gethanen Sund" -- vom peccatum actuale gedacht. Da dogmatisch das letztere durch das erstere notwendig bedingt war, kann man von einer Erweiterung des Sinnes in der deutschen Wiedergabe nicht sprechen, sondern nur von Verdeutlichung (assty05#80). -- Das sacra Scriptura, quae sit in canone giebt Luther wieder mit "Schrift, die do sei bewähret und glaubwürdig", in Artikel 37; dem dogmatischen Begriff des Kanon (56) entsprechend. In Artikel 38 ist die "Schrift" der "Vernunft" vorgestellt gegenüber umgekehrter Folge im Lateinischen.

Fasst man zusammen, so ergiebt sich, dass Luther in der grösseren lateinischen wie in den deutschen Schriften gegen die Bulle ihre Sätze nicht alteriert, nur an einer Stelle hat er von seinem geänderten Standpunkte aus modifiziert. In Uebrigen ist er mig seiner Vorlage nicht freier verfahren als Hutten z. B. Wegen der engen Anpassung an das Original scheint es wahrsehcinlich, dass er es in seinen beiden Schriften vor sich hatte.

Der Eindruck, welchen die Bannbulle auf Luther machte, spiegelt sich darin, dass er auch in den Schriften, welche nicht speziell gegen sie gerichtet sind, ihrer namentlich gedenkt oder an sie anspielt. Sie gehörte mit zu dem Gedankenmaterial, welches gleichsam im Vordergrunde seines Geistes lagerte und sich zur Verwendung anbot, sobald nur irgenwelche Gelegenheit sich zeigte.

In seiner Schrift gegen Ambrosius Catharinus, im Druck erschienen am 1. April 1521 (cf op. var. arg. V 287; WA 7,698ff), bei Erläuterung des Verses: Et roborabitur efficacia eius et non in efficacia sua, der Danielvision (Dan. 8,24) bespricht Luther den Unfug des päpstlichen Bannes, mit dem der Papst jeden, der ihm widerspreche, gleichsam vernichte, sofern er ihm die Existenzberechtigung in der Kirch abspreche. Aus dieser päpstlichen Anmassung natum est terrificum illud omnium Bullarum fulmen, quod in fine adiciunt: Si quis ausu temerario contraire praesumpserit, indignationem Dei omnipotentis et beatorum apostolorum Petri et Pauli sese noverit incursurum (o.v.a. V 350; WA 7,747 = exurge#89; lutcat04#22). -- Die Bannbulle hat wohl vornehmlich diesen Zornesausbruch hier veranlasst, in ihr hat Luther diese Schlussworte gelesen. Er giebt sie nahezu wörtlich wieder. Die Bulle setzte omnipotentis Dei statt umgekehrter Stellung, ac statt et vor beatorum, das apostolorum hinter Pauli und fügte dem ein eius (Dei) bei und se statt sese. Wenn die Bulle sagt: hoc attentare praesumpserit, so bezog sich das auf die unmittelbar (57) vorhergehenden Worte: Nulli ... liceat .. ausu temerario contraire, welch letzteren Worte Luther setzen musste, da bei ihm jene Relation fortfiel. Ist durch die Bannbulle vornehmlich sein Urteil an dieser Stelle veranlasst, so ist die Ausdehnung desselben auf alle Bullen ducrhaus richtig, sofern die Bullen am Schlusse Strafandrohungen gegen die Uebertreter ihres Inhalts zu bringen pflegten in festgelegter Formel.

In seiner Schrift gegen Latomus erwähnt Luther an zwei Orten die Bulle. Nachdem er einen Trugschluss seines Gegners als solchen entlarvt hat, fügt er hinzu, er habe jene Sophisterei übergehen wollen, aber "in Erinnerung an das Gepränge und die Bulle" -- Luther denkt wohl daran, dass die letztere doch vielfach Anerkennung gefunden hatte -- damit die Einfältigen jene Thorheiten nicht für Wahrheit hielten, habe er dem Gegner den verdienten Lohn gegeben (WA 8,77 = latom03#30). Meine Widersacher, so fährt er fort, sind die, welche der Papst billigt und cultrices agri dominici fideles nennt. So hatte Leo X die Cölner und Löwener Universität -- Latomus gehörte der letzteren an, woraus Luthers Anführung der Bulle sich erklärt -- als Zeugen der Lutherschen Irrtümer tituliert (exurge#14). -- Auf eben diesen Ruhmestitel kommt Luther zurück in ironischer Verspottung des Latomus, dem er ein Citat aus Paulus autoritativ entgegensetzt. Latomus, so ironisiert Luther, wird sich nun gewiss gegen den Apostel erheben mit ganzer Wucht seines Wortgepränges, die Bücher des Apostels werden verbrannt werden, und dann wird eine terribilis bulla cultrices illas fideles agri dominici belobigen (WA 8,95 =latom04#42).

In seinem "Evangelium von den 10 Aussätzigen" wiederholt Luther ein früheres Urteil über die Bulle. Indem er den (58) Samaritaner preist, weil er an Christo festhielt, trotzdem er "verachtet, verdammt und verlästert war von den Priestern, Gelehrten, Grössten, Besten und Meisten im ganzen Volk", fragt er: "Wer dürfte jetzt Christum also halten, wenn ihn Papst, Bischof, Doktores, Mönche, Pfaffen, Fürsten mit allem ihrem Haufen verdammt haben "und eine bulle lassen widder ihn auszgehen, wie wir offentlich sehen, das sie thun?" (WA 8,378) Christliche Artikel verdammend hat die Bulle Christum selbst verdammt, daran hält Luther fest.

Auf eine Anspielung an die Bulle in der Kirchenpostille hat Bossert aufmerksam gemacht. Luther nennt in der Predigt über Tit. 2 die Päpstlinge Pharisaei, "welche der Profet Ps. 80 nennet Monios, d. h. ein Sonderling, das heissen sie eine wilde Sau, die alleine und sonderlich gehet" (EA 7,2 145). Bekanntlich hatte der Papst in der Bulle die Hülfe des Herrn gegen den aper de silva et singularis ferus angerufen (exurge#4); den Vorwurf, dass er den Weinberg Gottes verwüste, den die Bulle mit den Psalmwort ihm gemacht hatte, lässt Luther alsdann auf den Gegner zurückspringen. Zeitlich fällt diese Anspielung in der ersten Wochen der Wartburgzeit.

Eine weitere Bezugnahme liegt vor in der Epistelpredigt am Neujahrstage. Luther spricht davon, dass bei den Scholastikern Christus ein "Haufputzen" bleibe, da man ja nach ihrer Lehre durch eigenes Thun die Gnade erlange, "wie sie öffentlich nicht allein lehren, sondern auch verfechten mit Papsts Bullen und aller Macht und verdammen die Wiederlehre als die höhesten und ärgesten Ketzereien" (EA 7,2 311). Auch hier scheint wider das Urteil durch, dass die Bulle Christum verdamme. Ebenso in der Predigt über das Evangelium am Sonntag nach dem Christtag: "Also (sich an Christo stossen) müssen auch noch alle Werkheiligen thun, auf ihren Werken stehen, sich am Glauben stossen und solchen Fall (59) thun an Christo, dass sie verbrennen, verdammen, verfolgen, alle, die ihre Werk verwerfen oder nichts wollen sein lassen, wie denn jetzt wir am Papst, Bischofen, Doctoren und allen Papisten sehen".

Die Untersuchung der Schriften bestätigt das Ergebnis, welches rücksichtlich der Bannbulle aus der Korrespondenz und mündlichen Aesserungen gewonnen wurde, nämlich ihre ausschliesslich religiöse Wertung, welche gerade um dieser Exklusivität willen zu ihrer Verwerfung führen musste. Die politische Tragweite der Bulle wird zwar nicht, wie in den Briefen, ausgesprochen, spiegelt sich aber wieder in ihrer häufigen Erwähnung, sofern daraus resultiert, dass sie ihn bewegt haben muss.

Fra side 59, kapitel 4. Die Bulle In Coena Domini

Als Luther den Jahresanfang symbolisierend verwertend (WA 8,691; EA 24 ??) 1522 dem Papste die Uebersetzung der Bulle In Coena Domini als Neujahrsgeschenk präsentierte, griff er in seinem Vorwort zu derselben zurück auf die päpstlichen Ablassverkündigungen, wie er sie aus eigener Erfahrung kennen gelernt hatte (Bullen er udstedt af Urban V i 1363). Wenn nur das geschlagene Silber einen fröhlichen Anblick gab und ihre Taschen freundlich anglänzte, so habe man damals die schwersten und schändlichsten Sünden, Mord, Ehebruch und dergl. durch den Ablass ausgetilgt "wie die Son den kleynen schnee auffleckt"; da habe man sich darüber verwundert, "was doch das mochten fur sunde sein, die in der allerheyligsten bulla des abentfressens ausztzogen und forbehalten weren, das die allein nit kundten abwasschen szo viel wolckenburst und syndflusz des unseglichen ablas" (WA 8,692). Wie die Durchsicht seiner Schriften aus der ersten Zeit seines öffentlichen Auftretens ergiebt, gab Luther in jenen Worten nur den Eindruck wieder, den er thatsächlich in jener frühesten Periode gehabt hatte. Die Bulle begegnet in Luthers Schriften erstmalig in den Resolutionen disputationum de indulgentiarum (60) virtute 1518, und zwar setzt ihre Erwänung genau an dem später herausgestellten Punkte ein, dem Kontraste zwischen päpstlicher Reservation und der durch den Ablass tilgbaren Fälle. Bei Erörterung von These 75 äussert sich Luther: "es ist wunderbar, sie wagen zu schreien, Mord, Räuberei, Wollust allerlei Art, Lästerungen gegen die Jungfrau Maria und Gott könnten leichtlich durch diese Ablässe vergeben werden, warum lassen sie nicht auch jene leichteren vergeben werden, die in Bulla Coenae reserviert werden? Aber da heist es: Pontifex non remittit (WA 1,622 = res10#64). -- In These 78 werden in der Resolution die Gnadengaben scilicet Evangelium, virtutes, gratiae curationum sachlich von dem Verfügungsrecht des Papstes, der nur ihre persönlichen Inhaber hinschicken kann, wohin er will, losgelöst gedacht und dabei in leiser Form (mit der Einführung ut non dicam) Verwunderung ausgesprochen, dass die Bulle Coenae mit ihren Reservatfällen noch nicht freigegeben ist. Die innere Grund, welcher die Erwähnung der Bulle hier veranlasste, ist derselbe letztlich wie bei These 75 (res10#71). -- En ähnlicher Gedanke, nur dass die Antithese nicht sowohl gegen die durch den Ablass vergebbaren peccata als vielmehr gegen blasphemische Behauptungen der Ablasskrämer (cf den Inhalt der These) gerichtet ist, begegnet These 72. (n60) Wenn die Kirche geringfügige Vergehen, wie sie jene Bulle ahfzählt, nicht vergiebt, etiam si plenissima plenissimarum facultas remittendi daretur (n60a), vielmehr dem apostolischen (61) Stuhl reserviert lässt, kann sie da diejenigen, welche die Himmelsthüre geradezu verschliessen, ungestraft lassen? Oder sind etwa, fügt er bitter hinzu, jene Ungeheuerlichkeiten der Ablasskrämer und Scholastiker zu gross und zu schlimm, als dass sie in die Coenae -- am Gründonnerstag, dem bekannten Publikationstag der Bulle -- vorgelesen und reserviert werden? Sollen sie nur im Himmel bei Gott vorgelesen und niemals remittiert werden? (WA 1,620 = res10#48).

Dieser Ansatzpunkt der Erwähnung der Bulle Coenae Domini ist in der Folgezeit geblieben; seiner Wiederkehr bei Publizierung ihrer Verdeutschung gingen weiterhin noch voraus die Bezugnahmen in der Schrift an den christlichen Adel und der captivitas babylonica. In Punkt 6 der erstgenannten Schrift, der Forderung der Abschaffung der päpstlichen Reservationen, werden "szonderlich" namhaft gemacht "die lecherlichen, kindischenn fel, die sie auff blaszen mit der bulla Cenae domini, die nit wirdig seien, das man es täglich sund nennen solt, schweyg dan szo grosse fel, die der Bapst mit keynem ablas nachlessit" (WA 6,432). -- Fast wörtlich wiederholt ist dieser Gedankengang in der captivitas babylonica bei Erörterung der Ohrenbeichte. Indem Luther diese zwar nicht in der Schrift begründet findet, aber dennoch für nützlich, ja notwendig erklärt, polemisiert er gegen die päpstliche Zwangszuweisung des Beichtkindes an bestimmte Beichtväter und die Reservation bestimmter Fälle. "Ja, gerade die Fälle reservieren sich die gottlocen Tyrannen (die Päpste), welche weniger wichtig sind, -- die grossen aber über lassen sie dem Priestervolk -- wie z. B. jene lächerlichen und erdichteten Fälle in der Bulle Coenae Domini" (WA 6,546 = capt03#24).

Trotz der Identität nun des Ansatzpunktes ist eine wichtige Differenz  in der Beurteilung der Bulle in der ersten und späteren (62) Zeit unverkennbar. Die jene Bulle als officielles, kirchenrechtliches Aktenstück objectiv, soweit man von Objevtivität bei Luther sprechen kann, ansehende Wertung ist der schroffste Polemik, der Forderung der Abrogierung gewichen. Hatte Luther in der ersten Zeit die Bulle, sie respektierend als kirchenrechtliches Aktenstück, in ihrer scharfen Verurteilung kleiner und kleinster Sünden zum Massstab genommen der Beurteilung schwerer und schwerster Sünden, dabei Widersprüche innerhalb der römischen Sündenerlasspraxis aufdeckend und positive Forderungen stellend (s. besonders WA 1,620), so ist in der Folgezeit die Aufdeckung der Widersprüche zwar geblieben, auch jene formelle Messung der Sünden an der Bulle, aber der ganze Gesichtspunkt ist dadurch ein anderer geworden, dass die Anerkennung derselben fortgefallen ist. Jene Verwunderung, wie er sagt, was denn für grossen Sünden in der Bulle reserviert seien, die noch nicht zum Tadel, geschweige denn zum Protest sich erhebt, ist zur Einsicht geworden, dass überhaupt keine Sünden in derselben verboten seien, sondern päpstliche Prätension hier Gesetze aufgestelle habe unter Ignorierung dessen, was wirklich Sünde sei (cf officiis veris ... comtemptis: capt03#23). Das Vorrücken auf dem antipäpstlichen Wege und die Festigung der eigenen Position spiegelt sich in diesem Wechsel der Beurteilung wider. Indem das Papsttum iure divino fiel in der Leipziger Disputation, somit als menschliche Institution dem Irrtum unterworfen war, so war die unbedingte Autorität einer Rechtsatzung, wie die Bulle Coenae sie war, gelöst, und ihr nunmehr der Prüfung frei gegebener Inhalt musste reprobiert werden, weil er mit der auf Grund der Schrift vertieften Sündenerkenntnis Luthers auf das Lebhafteste contrastierte. Wusste die Schrift vom Papsttum schon in den Thesen cf These 25 -- die päpstliche Reservation von Sünden als solche dahin, so musste die Bulle Coenae Domini gerade um ihrer minutiösen Reservatfäle willen als ein Ausbund von (63) Irreligiosität erscheinen, als Gipfelpunkt päpstlicher Praxis, mit den heiligstem Gefühlen Spott zu treiben. -- So wird es verständlich, dass die Bulle bei Luther ohne die nähere Spezialisierung ihrer Beurteilung der Sünde, auch lediglich als Schaustück päpstlicher Arroganz erscheint; sie ist Typus gleichsam.

Es wird nach dem Obigen nicht zufällig sein, dass in der im Anschluss an die Leipziger Disputation entstandenen Schrift ad aegocerotem Emserianum erstmalig diese Anschauung auftaucht. Indem Luther Emser den Widersinn seiner Behauptung verwirft, dass was den Böhmen gefalle häretisch sei, kehrt er den Spiess um und beschuldigt den Gegner der Häresie, dem ohne Zweifel böhmisches Geld oder ein böhmisches Weiblein gefallen könne (WA 2,661 Anm. 2 zur Erklärung), ja, von Emsers Voraussetzung aus könnte selbst die Päpste keine Bulle von diesem Falle der Häresie -- Luther denkt an die päpstliche Geldgier -- freisprechen, nicht einmal die, quae in cena domini legitur (WA 2,661). Offenbar ist hier die Bulle genannt als päpstliches Machtmittel, mittelst welches dis Päpste durch Verbot gewisser anticurialistischer Handlungen sich sicher zu stellen suchen. -- Aehnlich orientiert ist die Erwähnung der Bulle in der Predigt zum 3. Adventssonntage in der Kirchenpostille. Indem Luther 2. Petr. 2,10 auf "den Papst und die Seinen" bezieht, fügt er zur Rechtferdigung dieser Beziehung hinzu: "wie wir denn sehen, dass der Papst thut am grünen Donnerstag in der Bulle Coenae Domini, und wenn's ihn gelüstet" eine Reihe päpstlicher Verdammungsurteile in's Auge gefasst, so wird aus der namentlichen Nennung jener Nachtmahlsbulle evident, dass sie als eklatantester Beweis für jene betrachtete wird.

Die von Nicolaus Müller (WA 8,689) angeführten Stellen, vn denen die erste noch dazu aus späteren Zeig stammt, (64) in welchen Luther die Bulle Coenae erwähnt, die man als die einzigen anzunehmen geneigt sein könnte, werden um die oben genannten Erwähnungen zu vermehren sein; Luther hat, als er die Bulle verdeutscht und glossiert herausgab, schon lange um sie gewusst; ob er sie früher schon selbst vor Augen hatte, wird nunmehr zu suchen sein.

Luther begleiteten die Herausgabe der Bulle mit den Worten: denn ich den allerheyligsten stuel damit entschuldigt haben will, dass er sie (die Bulle) biszher nicht offenbart hat ... Nu aber ... kompt dein altherkommend gutte recht zumasz .. und lest auszgehen disse allerheyligste bulla des abentfressens" (WA 8,692). Dieses Urteil ist historisch unrichtig. Der römische Stuhl hat von den ersten Anfängen der Entstehung jener Bulle im 12. Jahrhundert an Publikationen der betr. Verdammungen den Bischöfen und Erzbischöfen in ihren Sprengeln geboten und dieses Gebot aufrecht erhalten, sodass noch Leo X. in der von Luther vordeutschen Bulle die traditionelle Formel für die mindestens einmal jährlich zu vollziehende Bekanntmachung wiederholte. Auch existierten Drucke verschiedener Rezensionen der Bulle. Allein Luthers Urteil wird verständlich, wenn man weiss, dass die gewünschte Publikation der Bulle in Deutschland besonders wie auch anderwärts nicht stattzufinden pflegte, ein Umstand, der (65) naturgemäss wiederum auf die Verbreitung der Drucke derselben rüchwirken musste, so dass es nicht auffält, wenn Luther keinen derselben kannte. Soviel ich sehen konnte, sind dieselben in Deutschland überhaupt nicht bekannt geworden. --

Die Wichtigkeit jenes Urteils Luthers besteht nun darin, dass es die nur mittelbare Kenntnis Luthers von der Bulle vor ihrer Publizierung durch ihn beweist. Sucht man den Vermittler, so wird man durch die ersten Erwähnungen der Bulle in die Zeit des Ablassstreites gedrängt. Und in der That liegen hier die Wurzeln für die Kenntnis der Bulle seitens Luthers. Es begegnet in der Ablasslitteratur jener Zeit wiederholt die Bulle Coenae Domini, in Bullen sowohl wie in Confessionalien. (n65) (66)

Die Ursache liegt in der von Luther berührten Wichtigkeit der Reservatfälle derselben. Die Curie, deren Jubelablass auch von Reservaten absolvierte, nahm ausdrücklich Fälle der Bulle Coenae aus; daher Luther ganz richtig sagt, auch der grösste Ablass -- und das war der Jubiläumsablass -- könne von Reservaten jener Bulle nicht absolvieren. Es liegt am nächsten, die Bulle Leos X. von 1515 bezw. das an sie und die Instructio summaria sich knüpfende Volksgerede als Quelle für Luther anzunehmen, falls man nicht auf die Bulle Julius II von 1511 sowie auf Leos X. Bulle von 1517, die wenn auch nicht für die Thesen selbt, so doch für die Resolutionen Luther vorgelegen haben kann, rekurrieren will. Sicheres lässt sich nicht ausmachen. Die Bulle von 1515 erwähnte Fälle der Bulle Coenae. Die Absolutionsformel der Instructio summaria, die ja auf jener Bulle ruht, sagt daher auch (absolvo) a delictis etiam in litteris, quae in cena domini singulis annis publicantur, contentis. Es ist jene Stelle der einzige Punkt, da die Instructio die Bulle Coenae nennt, weshalb oben nicht sowohl sie selbst, sondern vielmehr das Gerede über sie, das sich hier aussetzen mochte, als Quelle genannt war. Ohne Erläuterung nämlich könnte jene Erwähnung missverstanden werden. Man darf jene Absolutionsformel nicht in Widerspruch mit (67) Luthers Aeusserungen bringen und dahin verstehen, als werde in ihr, und damit auch in der Bulle von 1515 von sämtlichen Fällen der Nachtmahlsbulle absolviert; das widerspräche der ganzen Tradition und würde Luthers Aussage in den Resolutionen zu einer bewussten Unwahrheit stempeln. Es sind vielmehr stillschweigend bestimmte Fälle, die in den Bullen namentlich genannt wurden (cf Löscher I 369), dder Kürze halber, vielleicht auch um gewisser Dupierung des Volkes willen, als unabsolvierbar vorausgesetzt. Es bestimmte die Instructio für die Ablassprädikanten, die Fälle durch textgemässiges Vorgehen zu erläutern, welche durch die Kraft dr Bulle absolviert werden könnten: eine derartige Vorschrift hatte nur dann Bedeutung, wenn gewisse Clauseln oberserviert werden mussten. Darf man endlich die sogenannten Sermone Tetzels für diese Zeit heranziehen, so hätte man urkundlichen Beweis, dass in den Erläuterungen thatsächlich die Reservate der Bulle Coenae besprochen wurden als irremissibel (summ-instruc#24). -- Dafür dass Luther sicherlich auch auf mündliche Rede fusst, könnte man noch anführen, dass die erste Erwähnung der Bulle Coenae gerade in der Resolution zu der These (These 72) steht, welche gegen die Schwätzereien des Ablasskrämers gerichtet ist, die Luther bekanntlich nicht selbst gehört hatte. Dass man über die Bulle -- infolge dcer Ablässe -- im Volke sprach und sie mit Furcht und Grausen ansah, beweist Hutten, der im Vadiscus von der Bulle sagt: eam ut nihil praeterea metuunt homines (Böcking IV 244). (68)

Allein es gilt noch ein Bedenken zu lösen: ohne Rest gehen die Notizen Luthers über die Bulle Coenae nicht in die Ablasslitteratur auf. In dieser (einschl. der Bulle von 1515) begegnen als die Fälle, welche unter allen Unständen dem päpstlichen Stuhle vorbehalten werden, Verschwörungen gegen den Papst, Tötung der Bischöfe oder Handanlegung an sie oder andere Prälaten, Fälschung apostolischer Briefe und Lieferung von Waffen und anderen Gegenständen an die Ungläubigen. Luther nun nennt Waffenlieferung an die Türken -- dass er das in den Ablassformeln stehende infideles auf die Türken präcisiert, ist durchaus korrekt und den ursprünglichen Intentionen des Reservats entsprechend. -- Hinderung der Rompilger und Verletzung apostolicher Briege. Das in der Mitte stehende Reservat nun gehört nicht zu den durch Ablass unabsolvierbaren -- es ist mir in keiner Formel begegnet -- wohl aber findet es sich bereits in den frühesten Fixierungen der Bulle Coenae Domini, und wird auch in der die Fälle der letzteren aufzählenden Extravagante Pauls II. von 1468 genannt. Da nun Luther von den ersteren keine gekannt hat, so bleibt nur der Schluss übrig, dass er, sei es durch das geistliche Recht sei es durch mündliche Kunde von jenem Reservat der Bulle Coenae wusste und dasselbe -- sachlich unrichtig -- auf gleiche Stufe setzte (n68) mit den Reservaten derselben Bulle, die ihm die Ablasslitteratur bezw. das an sie geknüpfte Gerede als irremissibel aufwies. Verständlich wird dieser Irrtum Luthers unschwer, wenn man den Faktor mündlicher Tradition und eine Neigung Luthers, in historischen Dingen zu nivellieren, in Rechnung zieht. (69)

Werden somit die Ausserungen Luthers über die Bulle Coenae Domini aus der Ablasslitteratur mit der angegebenen Ergänzung verständlich, so reicht dieselbe nicht mehr aus für die Erklärung der in der Kirchenpostille begegnenden Erwähnung. Denn der Gipfelpunkt päpstlicher Arroganz, deren Typus die Bulle ist, wird hier pointiert in die "Verbannung und Verfluchung von Königen, Fürsten und allem, was hoch und herrlich ist auf Erden". In dieser Zuspitzung hat Luther bisher dieselbe nicht erwähnt; dass die Bulle eine Exkommunikationsbulle war, spricht er hier erstmalig aus. (WA 1,620 = res10#48 wird das öffentliche Vorlesen der Bulle ausdrücklich auf das reservari allein bezogen gedacht). Die Ablasslitteratur hatte keinen Grund, diesen Punkt herauszustellen, die Publizistik berührte denselben auch nicht; so wird Luther auf Grund persönlicher Einsichtnahme in die Bulle zu jener Erwähnung veranlasst sein. Er hat die Bulle auf die Wartburg gehabt, als er an seiner Predigt über den 3. Adventssonntag arbeitete; spiegelt sich in der Postille wieder, was ihn bewegte, so wird verständlich, warum er gerade jenen Punkt an der Bulle heraushebt; ihr Charakteristikum war ja seine Rezeption unter die Schar der Verdammten. Somit fällt jene Predigt zeitlich nach der Kenntnisnahme der Bulle, vielleicht mit der Arbeit an ihr zusammen; nach allen Anzeichen -- halten wir einmal zunächst daran fest -- datiert letztere von Ende 1521 Anfang 1522 (cf WA 8,691), die Predigt hingegen kann aus von Bossert geltend gemachten zwingenden Gründen nicht vor dem 13. Januar entstanden sein.

Doch vielleicht lässt sich noch näher bestimmen, wie und wann die Bulle auf die Wartburg kam und dann die Datierung ihrer Uebersetzung modifizieren: In einer Untersuchung über den Dialog "Neu-Karsthans" hatte ich die Vermutung ausgesprochen, Spalatin habe die bereits Mai bis Juli bekannt gewesene Bulle zurückgehalten, um Luther vor Unvorsichtigkeiten zu bewahren, und dieser habe erst bei dem heimlichen Besuche in Wittenberg (70) dieselbe kennen gelernt und in sein Patmos mitgenommen. Diese Vermutung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn die im Neu-Karsthans erwähnte Bulle Coenae Domini thatsächlich die Bulle von 1521 ist; das aber ist der Fall aus denselben Gründen, die bereits für Luthers Citate derselben in Betrachte kamen. Hutten, dessen Autorschaft für den Dialog "Neu-Karsthans" ich wohl als bewiesen betrachten darf, erwähnt vor dieser Schrift die Bulle Coenae Dnomini nur als Typus päpstlicher Arroganz in Reservaten; in seinem Dialogus Bulla sive Bullicida wie auch in der Trias Romana behandelt er sie unter diesem Gesichtspunkte. Dass sie Exkommunikationsbulle war, hat Hutten noch nicht gewusst. Im Neu-Karsthans aber heisst es: "Aber yetzund ist der geistlich straff scherpffer dann keins tyrannem grymmigkeit, als man schunbarlich sicht in des bapst bullen, die all grün donnerstag zu Rhom gelesen würt, die hat mir (Sickingen) Hutten verteütschet, und ich find bei sechtzigerley menschen, die in derselbigen bullen durch den Bapst järlich verbannet werden", d. h. hier ist die Verdammung der Häretiker offenbar das Charakteristikum der Bulle. Folgt daraus aber aus den oben bei Luther geltend gemachten Gründen die persönliche Einsichtnahme in die Bulle, so wird es die von 1521 sein, die, ein prächtiges Agitationsmittel, von Hutten bei der auch im Sommer 1521 noch fortgesetzten Lehtüre nach Tisch seinem ritterlichen Freunde vorgelesen wurde. Ist aber die Bulle darnach etwa Ende April oder Mai in Worms bekannt gewesen, wie kommt es, dass Luther trotz der engeren Beziehungen zu dem dortigen Kreise erst so spät um sie weiss? Es fält fast auf, dass er sie nicht schon in Worms kennen lernte; hat er sie nun vor Januar nicht erwähnt, so wird der Schluss nahezu zwingend, dass er sie in Wittenberg Anfang Dezember kennen lernte. (Auch Bossert a. a. O. 350 Anm 4 urteilt: "die Nennung seines Namens in der Bule wurde ihm wohl in Wittenberg mitgeteilt", giebt aber nicht die genaue Begründung). Denn wer sollte sie ihm, nachdem sie fast ein halbes Jahr ihm verborgen geblieben war, nun plötzlich übermittelt (71) haben, wenn nicht er sich selbst? Und wer wird ihm die Bulle vorenthalten haben, wenn nicht der vorsichtige kurfürstliche Hofprediger?

Allein, wie kommt es, dass Luther, wenn er schon Mitte Dezember -- er war vom 2. - 10. Dezember von der Wartburg fort -- um die Bulle wusste, sie erst in einer Predigt nach dem 13. Januar erwähnt? Es ist ja möglich, dass er sic schon vor sich hatte, als er an der Predigt über das Evangelium des 2. Advent arbeitete, aber wahrscheinlich ist es nicht; Luther hätte gewiss die Bulle schon in dieser Predigt erwähnt, wie er sonst sofort wiedergiebt, was ihn bewegt -- und die Bulle hat ihn bewegt, das beweist ihre Uebersetzung. Wahrscheinlich hat Luther allerdings in Wittenberg die Bulle kennen gelernt, aber sie nicht persönlich mitgenommen, sondern sich schicken lassen. Nun schreibt Luther unter dem 17. Januar 1522 an Spalatin: Omnia [d. h. das Zugesandte] accepi -- und jetzt wird klar, warum er in der Predigt über das Evangelium des 2. Advent die Bulle nicht erwähnt, sondern erst in der folgenden Predigt. Die Uebersetzung der Bulle kann dann nicht vor Mitte Januar angesetzt werden, wogegen die Beziehung auf Neujahr nicht spricht -- sie ist symbolisch gemeint -- wofür sich aber geltend machen lässt, dass Luther in den zwei Briefen von Ende Dezember nach der Rückkehr aus Wittenberg, in denen er über seine Thätigkeit spricht, nur die Arbeit an der Postille und die Bibelübersetzung erwähnt. --

Da mir ein Exemplar der Bulle Coenae Domini, wie sie Leo X. 1521 redigiert hatte -- sie wird nur handschriftlich verbreitet gewesen sein -- nicht vorlag, konnte ich Luthers Uebersetzung nich am Original prüfen. Jedoch war von vorneherein zu erwarten, dass Leo X. zum grossen Teile nir die fixierte Form (72) seiner Vorgänger wiederholte; eine Vergleichung der Uebersetzung Luthers mit der Nachtmahlsbulle Julius II. von 1511 bestätigt diese Vermutung: die beiden Bullen decken sich inhaltlich, nur dass § 10 eine Zusatz trägt und in § 1 unter die Zahl der Exkommunizierten auch Luther mit seinen Anhängern und Begünstigern aufgenommen ist. Formell finden sich nur unbedeutende Differenzen, die sich unschwer teils aus Uebersetzungsfreiheit Luthers, teils aus anderer Fassung der Bulle Leos X. erklären lassen, sodass im letzteren Falle Luther getreuer Uebersetzer ist.

Wenn Luther in § 1 (bei ihm "das ander Capitel", da er die Einleitungsform als "das erst Capitel" zählt) "gonner, auffhalter unnd ruckhalter", (EA 24,170) hingegen die Bulle Julius II. nur fautores, receptatores bietet, so wird nicht ein erklärender Zusatz Luthers anzunehmen sein, sondern im Original ein defensores gestanden haben. (Luther übersetzt in § 6 defendere mit "ruckhalten"). Jedoch erklärend hinzugesetzt durch Luther ist das Wort "Apostel" vor Petri und Pauli. -- In § 2 liest die Bulle Julius II. et alios qui, während Luther sagt "sonderlich die" (EA 24,172); es ist aber sehr möglich, dass er hier seiner Vorlage getreulich folgt, sofern die Formel Pauls III. wie Urbans VIII. hier ein praecipue aufweist. Luther hingegen wird die Umstellung des consilium vor auxilium in der Uebersetzung vorgenonnem haben, da Julius II. wie Paul III. die gegenteilige Stellung bieten. -- In § 4 hat Luther gegenüber der Bulle Julius II. seine sachlich unbedeutende Erweiterung -- es fehlt bie Julius II ein sub nomine ejusdem Romani Pontificis --, die aber aus Pauls III. Bulle als im Original Leos. X vorhanden sich wahrscheinlich machen lässt. -- In § 6 giebt Luther das in allen Bullenformularen gleichmässig sich (73) findende conditionis et status durch das  einfache "stand" wieder (EA 24,173; her står der "Wesen und Stand") (In § 10 hingegen u. 14 übersetzt er die gleichen Worte durch "stand und wesen"). In § 7 stellt Luther in der Uebersetzung "rauben" vor "nehmen", während Julius II und Paul III. -- also auch wohl Leo X. -- wohl capiunt, spoliant lasen. -- In der § 9 ist Luther ein Uebersetzungfehler begegnet. Er sagt: "Item wir vorbannen und vormaledeyen alle, die da umb yhrer sach und geschefft willen, schlahen, lemen odder todten odder gutter berauben denen, so durch sich selbs odder durch ein andern odder andere personen, sie sein geystlich odder weltlich, tzum Romischen hoffe lauffen" etc. (EA 24,174) Dass man durch einen anderen nach Rom laufen kann, klingt seltsam, hat auch im lateinischen Text nicht gesagt sein sollen, der vielmehr auch die Anstifter zum Mord -- durch einen anderen ermorden lassen, giebt einen verständlichen Sinn -- unter die Exkommunikation stellen wollte. Der lateinische Text (n73) stellte freilich sein per se vel alium derartig in die Mitte, dass er missverständlich bezogen werden konnte. -- In § 10 wird gleichfalls die zweideutige Stellung der pertinaciter Luther veranlasst haben, zu übersetzen: "sich halsstarrig vermessen, zu entziehen", während es naturgemässer isg, das Adverb zu subtrahere zu ziehen (es heisst: qui ... pertinaciter subtrahere seu quomodolibet recerede praesumunt). Die Worte nach "geystlichen personen" bis "ausz war ursach es wolle" (Ea 24,175) müssen der Bulle Leos X. eigener Zusatz gewesen sein (74) sie finden sich bei Paul III. in ähnlicher Form. -- In § 12 übersetzt Luther das in allen Bullen sich findende alma urbs durch das einfache "die stad Rom". Sehr wahrscheinlich ist am Schlusse dieses Abschnittes Luther wiederum ein Uebersetzungsfehler begegnet. Das lateinische terras et loca vel iura ad ipsam Romanam Ecclesiam spectantes et pertinentes et adhaerentes ac fautores et defensores eorum seu in his dantes eisdem auxilium, consilium vel favorem bei Julius II. könnte von Luther wiedergegeben sein durch "land und recht, zu der Romischen kirchen gehörig und anhengig und zustendig, auch alle, die solchen gunst, schutz, hulff und radt datzu geben". [Der er tale om Luthers Capitel 12, altså formentlig Leos §11, EA 24,176]. Das "anhengig", das im Lateinischen keine andere Parallele hat, wird durch falsche Beziehung des adherentes entstanden sein; allein mit voller Sicherheit lässt sich das nicht behaupten, da die übrigen Bullen abweichen, zudem noch eine Umstellung anzunehmen wäre (adherentes vor pertinentes) und endlich die Schlussworte bei Luther stark verkürzt wiedergegeben wären. -- Die Uebersetzung von §§ 13 und 14 lässt sich nicht kontrollieren, erst mit den Schlusssätzen "dawidder soll nichts helfeb" etc. bewegt sich die Bulle wieder in altem Geleise. In dem ersten Abschnitt (nach den Absätzen in WA 8 gerechnet) hat Luther das Wort "wirden" am Anfang stehen, während Julius II. und Paul III. -- also auch wohl Leo X. -- es am Schlusse der Periode bringen. In dem 2. Abschnitt findet sich ein bei Julius II. und Paul III. am Schlusse stehendes et quae quo ad hoc penitus tollimus et omnino revocamue von Luther unübersetzt, doch wird es fraglich sein, ob die Bulle Leos X. diesen Zusatz aufwies. -- In Abschnitt 4 hat Luther die zweifellos im Original vorhandenen Worte ordinibus, etiam mendicantium wiedergegeben durch "auch den Bettelorden", während die korrekte Uebersetzung, wie aus dem Zusammenhang klar erhellt, lauten würde: "den Orden, auch den Bettelorden", deren besondere Hervorhebung durch die Geschichte (75) ihrer Privilegien hinlänglich motiviert ist. In der Einleitung dieses Abschnittes könnte Luther das et quaevis derogatoriae fortiores et efficaciores et insolitae clausulae apparerent, welches er wohl gelesen haben wird, sachlich nicht unrichtig frei erklärend wiedergegeben haben durch: "und ob drynnen erfunden wurden dize unbreuchlichen tzusetze, das der auffhebenden briefe recht stercker und krefftiger ist den der auffgehabenen, ob dieselbigen wol auch alle ander tzuvor auffheben", doch liegt auch die Möglichkeit vor, dass das Original eine weitere Form bot. -- In Abschnitt 7 am Schlusse wird das "predigen" Uebersetzung des im lateinischen Original vorhanden gewesenen nuntient sein, wie es zwar nicht Julius II., wohl aber Pauls III. Bulle enthielt. Die beiden letzten Abschnitte enthalten die üblichen Schlussformel. -- Das Gesamturteil, mit welchem Luther die Herausgabe begleitete, ist die Herausstellung der Diskrepanz der Bulle mit den Worten Jesu. An dieser Norm hatte er auch die Bannbulle gemessen. Statt zu segnen, wie es geziemend wäre für den, der sich Christi Statthalter zu sein rühmt, flucht sie, sattt zu geben, mehr selbst als verlangt wird, bannt sie jeden, der ihrem Urheber etwas nehmen will. (cf WA 8,705ff).

Damit verharrt Luther auf dem Standpunkte der lediglich religiösen Beurteilung der Bulle, von dem er ausgegangen war; geändert hat sich nur der Grad der Wertung. Diese lediglich religiöse Schätzung, die ausgehend von der eigenen mühsam erkämpften Position in jener Bulle ihr absolutes Gegenteil erblicken musste, in ihr, sofern sie sich der eigenen Christlichkeit bewisst war, daher nur ein Machwerk den Antichrists sehen konnte, musste sich naturgemäss einem geschichtlichem Verständnis derselben verschliessen. Die absolut religiöse Wertbeurteilung musste zur absoluten Negation derselben führen. Mittelstufen in der Art von Entschuldigungen etwa oder Annahme von Missverständnissen hatten keinen Platz. Nur einmal, bei der ersten Erwähnung der Bulle, hat Luther ein historisches Urteil (76) über dieselbe gefällt, d. h. er hat ihre Rigorosität, die im Contrast zu sonstiger Laxheit der Curie sein religiöses Bewisstsein affizierte, geschichtlich zu verstehen gesucht. Die Devotion des Mönches gegenüber dem römischen Stuhl suchte den empfundenen Widerspruch durch die Geschichte auszugleichen: "so heilig handelte damals die Kirche, dass sie, indem sit Gottes Gebote -- eben das, was durch die Indulgenzen jetzt vergeben wurde, -- hielt zuerst, auch so kleine Dinge mit solcher Strenge zügeln wollte. Es gab ja nocht nicht jene Hydra und Hölle von Simonie, Lust, Pomp und sonstiger Greuen in der Kirche" (WA 1,620 = res10#48). Er verlegt also hier die Bulle gleichsam in die gute alte Zeit der Kirche und lässt aus der Degeneration derselben den Contrast, den er empfand, resultieren. Die stark religiöse Motivation auch dieses geschichtlichen Urteils liegt auf der Hand; daher hat er dasselbe auch, jemehr seine religiöse Position im anticurialistischen Sinne sich festigte, fallen lassen und um eine Ergänzung und Berichtigung nicht Sorge getragen. Die Gegenwart wird anders urteilen und die Bulle als Ganzes wie in ihren einzelnen Fällen aus geschichtlichen Situationen erwachsen zu verstehen suchen, doch wäre es unbillig, ein solches Urteil schon von Luther zu verlangen. Er hat geurteilt, wie seine Zeit zu urteilen pflegte, subjectiv, religiös, ja selbst der spezielle Ansatzpunkt seiner Urteile über die Bulle war im Milieu gegeben, Hutten hat an demselben Punkte seine Polemik eingesetzt, und aus seiner Aeusserung war zu schliessen, dass das Volksurteil ebendort seinen Ausgangspunkt nahm. Nur soll das nicht verkannt werden, dass es die machtvolle Kräftigkeit des Heilsbewusstseins war, die Luther zu einer Schärfe des Urteils weitertrieb, wie es das Volk und selbt der feingebildete Hutten nicht zu geben vermochte, weil ihnen jene abging.

Fra side 76, Kapitel 5: Die sogenannte apostolische Glaubensbekenntnis.

Als Luther im Augustinerkloster zu Erfurt in schwerster körperlicher und seelicher Pein darnach rang, "einen gnädigen (77) Gott zu kriegen", gehörte zu den Faktoren, welche in milder seelsorgerlicher Zucht ihn allmählich dem Angst- und Screckensgefühl entrisse, auch die Stimme eines alten Klosterbruders, die ihn hinwies auf das Wort: "ich glaube an eine Vergebung der Sünden" (die Bericht geht auf Melanchthon zurück). Es war ein Wort des apostolischen Glaubensbekenntnisses, welches dem Verzagenden Trost gab. Es war ihm wie eine neue Offenbarung, als er es vernahm, und doch hat er es damals nicht erstmalig gehört, es stand in der Schätzung seiner Kirche an höchster Stelle vermöge des Ursprungs, den man ihm beilegte, war Lehrstoff des Schulunterrichts  und wurde durch liturgische Verwertung den Gläubigen und besonders dem Priester -- und Luther war ein solcher -- stetig in Erinnerung gebracht. Aber es lag eingekapselt unter einer Masse von Satzungen zumeist rechtlicher Natur, die das aktuelle praktisch-religiöse Interesse in Anspruch nahmen, auf der Kanzel erwähnte man es kaum, und so war es für die Religiosität, wie man sie damals verstand, bedeutungslos geworden; so hatte auch der homo religiosus Luther es bisher nicht zu werten verstanden. Erst die Erschütterung des eigenen Ichs liess ihn dasselbs schätzen, von sich selbst aus, subjektiv gewann er ihm Bedeutung ab, nicht etwa wurde eine solche objektiv ihm nahe gebracht.

Die innerste Verbindung der persönlichen religiösen Erlebnisse mit dem überkommenen Symbol, wie sie im Kloster zu (78) Erfurt erstmalig auftritt, ist typisch geblieben für die Folgezeit. Niemals wird von Luther das Apostolikum, losgelöst von ihn bewegenden religiösen Gedanken, gleichsam objektiv als geschichtliche Grösse eingeführt, sondern stets zur Illustration, Bekräftigung und Autorisierung religiöser Wahrheiten. Und wo er, wie in der "kurzen Form der 10 Gebote, des Glaubens und des Vaterunsers" von 1520 traditionell beeinflusst ist in der Zusammenstellung gerade dieser drei Stücke, da zeigt die Interpretation eine Lebendigkeit subjektiven Empfindens, die ihres gleichen sucht, die die überkommene tote Schlackenmasse in den praktischen Lebensbedürfnissen dienendes Metall umzusetzen vermochte. Der Subjektivität der Auffassung aber entspricht es, dass dieselbe bei Verwertung einzelner Sätze des Symbols in der Auslegung variiert je nach den Luther bewegenden Gedanken; es entspricht ihr ferner eine gewisse Einseitigkeit der Verwertung, sofern der für Luther in der uns beschäftigenden Zeit bedeutsame Ideenkomplex nach bestimmter Richtung gravitiert. Berufungen auf Sätze des Apostolikums, die später begegnen, fehlen in unserem Zeitabschnitt, weil die Saite in Luthers Innerem noch nicht klang, oder wenigstend noch nicht bedeutsam genug klang, um sie in Bewegung zu setzen. So darf es nicht Wunder nehmen wenn -- abgesehen von der Gesamtauslegung -- nur Sätze des sogenannten dritten Artikels in Luthers Schriften begegnen (n78). Ueber Trinität und Unität, über Gottheit und Menschheit Christi stritt man ja damals noch nicht, während Gedanken über die Kirche, die communio sanctorum, Sündenvergebung, ja selbst über das ewige Leben im Centrum des aktuellen Interesses standen. (79) Vielleicht verband sich mit dem persönlichen aktuellen Interesse auch eine unbewisste Anpassung an das Milieu. In der damaligen Publizistik scheint nur der  Artikel sancta ecclesia catholica eine Rolle gespielt zu haben. Erst in der Wartburgzeit im Magnificat (WA 7,574) und namentlich der Kirchenpostille (EA 10,138) begegnen Bezugnahme auf Sätze des sogen. ersten und zweiten Artikels. Aber es ist beachtenswert, dass in allen Fällen der Bibeltext ihm dieselben nahelegte, also etwas ausser ihm Liegendes, nicht die unmittelbare religiöse Erfahrung. Der autoritative Charakter des Symbols, den er benutzt, um das Verständnis biblischer Wahrheiten zu erläutern tritt hier der persönlichen Gewissheit voran, ohne dass ihm selbst freilich dieser Gradunterschied bemerklich geworden wäre.

Die ihm im Kloster am Apostolikum aufgegangene Gewissheit hat Luther ausdrücklich zu wiederholen noch einmal Gelegenheit gehabt. Es galt seinen Satz: Niemand sein die Sund vorgeben, er gläub denn, dass sie ihm vorgeben werden, wenn ihn der Priester absolviert (cf WA 1, 542, 544) gegenüber der Verdammung in der Bannbulle aufrecht zu erhalten. Luther verteidigt ihn in seiner Schrift: "Grund und Ursach aller Artikel etc" auf indirektem Wege. Besteht die Verdammung zu Recht, so fällt der "Artikel des Christenglauben, da alle Christen sagen: ich gläub in den h. Geist, ein h. christlich Kirche, Vorgebung (80) der Sund". "Denn dieser mein Artikel nit anders lehret, denn dass wir gläuben sollen Vorgebung der Sund, gleichwie der christgläubige Artikel lautt" (WA 7,371 = assty03#31). Der Nachdruck liegt offenbar auf dem "ich gläube in" d. h. der Applizierung des Lutherschen Glaubensbegriffes auf das Objekt der Sündenvergebund. Damit aber bewegt sich seine Argumentation auf der Linie weiter, deren Anfangspunkt im Erfurter Kloster anhebt. (Man hat später katholischerseits gesehen, dass diese Verwertung des Symbolwortes durch Luther das Beichtwesen thatsächlich aufhob). Augenscheinlich überspannt Luther den im Symbol vorliegenden Glaubensbegriff im Sinne der seinigen. Letzterer steht ihm fest, und er findet ihn in ersterem wieder, nicht etwa umgekehrt. Das Symbol hat in seiner Fixierung auf die bei Luther vorliegende streng antithetische Fassung des Glaubens (im Gegensatz zu eigenem Thun= nicht reflektiert, ihm war der Inhalt des Geglaubten die Hauptsache, während es die Bestimmung des Glaubens qua solchen in der schillernden Unbestimmtheit liess, die seiner Zeit eigen war, immerhin stark der Seite zuneigte, auf welcher Luthers Gegner standen. --

Noch ein zweites Mal in derselben Schrift konnte Luther dem Papsttum Verleugnung des Apostolikums vorwerfen. Indem er daran festhält, dass dem Papste kein Recht zustehe, Glaubensartikel zu setzen, macht er einige dieser päpstlich autorisierten Artikel lächerlich. So hat man im Lateranense beschlossen die Seele des Menschen sei unsterblich, "denn es war vergessen in dem gemeinen Glauben, da wir alle sagen: ich gläub ein ewiges Leben" (WA 7,425 = assty05#18) d. h. man hätte sich an den vorhandenen Glaubensartikeln, de unumwunden als solche von Luther anerkannt werden, genügen lassen sollen. Aehnlich sagt er in der Kirchenpostille bei Besprechung von Tit. 2.13: Daraus klärlich bewähret wird, (81) dass die Seele unsterblich sei, ja auch der Leib wiederkommen muss; wie wir im Glauben beten: Ich gläube eine Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. (EA 7,163). Offenbar har er die "Auferstehung des Fleisches" grob-sinnlich gedacht, die beiden letzten Glieder des 3. Artikels verbürgten ihm das Wiederkommen des ganzen Menschen, das letzte das der Seele, das vorletzte das des Leibes, den er vom Fleische hier nicht unterscheidet (cf WA 7,219,28 "Leyb oder Fleysch").

Alle übrigen Erwähnungen des Bekenntnisses bei Luther konzentrieren sich um die Worte: "h. christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen". Diese Thatsache liegt darin begründet, dass Kirche und Heilsweg im Romanismus in so enger Verbindung standen, dass eine Erneuerung des letzteren den Begriff der ersteren notwendig umgestaltet musste. Und wer sich die Expansivkraft der römischen Kirche, alle Gebiete zu durchdringen, vergegenwärtigt, der begreift, warum am Kirchenbegriff Luthers neuer Heilsbegriff in erster Linie praktisch werden musste, und wird verstehen, welches Interesse Luther hatte, seinen Kirchenbegriff durch Berufung auf das apostolische Symbol zu salvieren. Er selbst ist sich nicht bewusst gewesen, etwas Neues mit der Fassung seines Kirchenbegriffes zu bringen, er hat auch in erster Zeit sich und die Vertreter des Romanismus auf gleichem Boden stehend geglaubt, und als er der bestehenden Discrepanz inne ward, hat er sich nicht als Träger neuer Wahrheiten angesehen, vielmehr die Gegner als vom uralten Wege abbiegend, den er zu gehen überzeugt war. So erklärt sich jenes eigentümliche schwankende Verhalten Luthers in seiner ersten Zeit, Devotion vor Rom wechselt mit schroffster Rücksichtlosigkeit. So versteht sich die feierliche Erklärung in seinem Appell ans Conzil 1518: contra unam sanctam et Catholicam et apostolicam ecclesiam nihil dicere intendo. (WA 2,37 = appell18#6). Mit Absicht sind die feierlichsten Ehrentitel (82) im Anschluss an das geheiligste Symbol gewählt und die Einigkeit Luthers mit der empirischen römischen Kirche ist hier ausgesprochen. Thatsächlich aber waren damals schon die Band, die ihn an die römische Kirche, sowie dieselbe selbst sich verstand, sehr stark gelockert. Doch die volle Klarheit kam erst in Leipzig, ohne aber, wie gesagt, als Heuheit empfunden zu werden. Wohl aber weiss er jetzt, dass seine Gegner von ihm abweichen. Die erste Aeusserung, in welcher er das apostolische Symbol zu dem Begriff der Kirche in Relation setzt, kehrt deutlich ihre Spitze gegen sie. In der Resolution zu seiner 13. These für die Leipziger Disputation ist sie ausgesprochen. Bekanntlich deutet hier Luther die Worte Mt. 16.18 Tu es Petrus, die Hauptstütze der Romanisten für das ius divinum des Papsttums, nicht auf Petrus qua homo sondern qua revelationis paternae auditor auf Grund der Worte Christi: caro et sanguis non revelavit tibi sed pater meus, qui est in coelis (WA 2,190 = R13-01#64). Dann aber kann auch die successionelle Kraft dieser Worte nicht auf Menschen qua solche gehen, ut nunc aliqui (wohl besonders Eck und Dungersheim) somniant, sondern nur auf die Träger der göttlichen Offenbarung. Diese aber sine quia de nullo privato homine certi sumus habeat nec ne revelationem patris, die Kirche (R13-01#66). Sie ist Petrus und der Empfänger der Schlüsselgewalt. So sagt auch das Symbol, welches feststeht: credo ecclesiam sanctam, communionem sanctorum. (R13-01#67).

Den Ausdruck communio sanctorum zur Bezeichnung der Kirche hat Luther schon in seinen ältesten Psalmenvorlesungen (83) gebraucht, aber noch nicht in Beziehung zum Apostolikum gesetzt, weil er seinen Kirchenbegriff noch nicht klar herausgebildet hatte und daher einer Apologie desselben noch nicht bedurfte. Denn das Symbol soll an obiger Stelle den Kirchenbegriff Luther gewährleisten; das geschieht, indem die communio sanctorum als erläutender Beisatz zu ecclesia sancta gefasst wird. "Die ganze Welt, sagt Luther, bekennt, sie glaube, dass die h. katholische Kirche nicht Anderes sei als die Gemeinschaft der Heiligen". Indem letztere als die Gläubigen gedacht sind, ist der Beweis auf Grund des Symbols geschlossen. Doch Luther weiss auch eine patristische Autorität für seine attributive Fassung der communio sanctorum auf seiner Seite. Rufin in seiner expositio symboli (Migne XXI 335ff) erwähnt die communio sanctorum nicht, folglich, so schliesst Luther, wurde "vor alters" dieser Artikel nicht gebetet, sondern er war wohl Glosse zur Erklärung der ecclesia sancta Catholica, drang dann im Laufe der Zeit in den Text und wird jetzt mitgebetet. Emphatisch schliess er: o wie notwendig und gut war diese Recipierung der Glosse, wegen derer, die heute Kirche alles Andere nennen als communio sanctorum! (R13-01#68)" -- So ist also nicht Erasmus, sondern Luther der erste, welcher bemerkt hat, dass Rufin eine kürzere Formal kannte als die jetzt geläufige. Luther macht auf einen späteren Zusatz aufmerksam, (84) freilich nicht von philologischer Beobachtung aus wie Erasmus, sondern aus religiösem Interesse; er hat daher auch keine kritischen Consequenzen gezogen wie Erasmus.

Die Argumentation Luthers ist konsequent, von Glaubensgewissheit getragen, fast keck zu nennen, man wird ihr verzeihen, dass sie der Kritik nicht standhält. Es ist bekannt, dass Luther die im Symbol stehende Fassung der sancta ecclesia catholica, die von der empirischen Kirche verstanden sein wollte, umgedeutet hat im Sinne seines vergeistigten Kirchenbegriffs, und dass die communio sanctorum wohl vielleicht verschieden gedeutet werden aber jedenfalls nicht als Erläuterung zu sancta ecclesia catholica interpretiert werden kann. Doch wird Luther in dieser appositionellen Fassung auf Vorgängern fussen, obwohl wir einen bestimmten nicht anzugeben vermögen, überhaupt die einzelnen Glieder der Traditionskette nicht aufzeigen können. Ob Augustin zu ihnen gehört, bleibt fraglich, sicher ist, dass Luther die epexegetische Fassung bei ihm zu finden überzeugt war (cf WA 2,287 mit 2,279; eck05#32; eck04#5). (85) Luther hat späterhin sich auf Huss berufen, und zwar nicht mit Unrecht. In seiner Schrift de ecclesia äussert sich der Böhme in Erläuterung seines Kirchenbegriffs an einer Stelle: communication vel communio ... est gratiae divinae gratum facientis participatio ... Et ista communicatio est communio sanctorum, qui sunt corpus Christi mysticum, cuius caput est Christus, quam communionem credimus dicentes credo communionem sanctorum (de ecclesia, S. 207, Ausgabe 1520 Wittenberg). Hier ist zwar die epexegetische Fassung nicht direkt ausgesprochen, musste aber jedem einleuchten, der aus der Lektüre des Huss'schen Buches wusste, dass jenes corpus Christi mysticum an anderer Stelle für Huss = ecclesia ist. -- Die Auffassung, dass erläuternde Zusätze im Laufe der Zeit in das Symbol eindrangen, wird bei Luther aus katholischem Boden insofern verständlich, als man in variablen Formen nicht ängstlich war, wenn nur der Inhalt gewahrt blieb. (n85) (86)

Die in der Vorbereitungsschrift auf die Leipziger Disputation erstmalig ausgesprochene Begriffsbestinnung hat Luther des öfteren wiederholt und dabei präcisiert. Er hat die Kirchlichkeit eines Huss damit verteidigt, in Leipzig 1519 wie in Worms 1521. "Mit Unrecht, so sagt er in 1519, hat man den Artikel tanteum est una ecclesia universalis in Kostnitz verdammt, denn die ganze Kirche betet: "Ich glaube an den h. Geist, h. katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen". Einen solch edlen Glaubensartikel zählen sie under die [verdammten] Artikel des Huss!" -- Die Pointe seiner Argumentation setzt er voraus, er nimmt als selbstverständlich an, dass die Worte des dritten Artikels des Symbolum nur in seinem Sinne gefasst werden können, sodass ihre Identität mit, wie er meint, Hussens Ansicht sich ergiebt. -- Im Worms hat er nicht anders gesprochen. "Diesen Artikel (den obengenannten von Huss) so schreibt er an den Grafen von Mansfeld, wollte ich nicht lassen verdampt sein; denn er ist ein Artikel unseren Glaubens, da wir sagen: ich glaub eine heilig christliche Kirch" (cf EA 53,73. Die Aeusserung war Antwort auf Vetus Frage bez. seiner Bücher). -- Man hat ihn nicht verstanden damals, wie er auf das kirchliche Symbol sich berufen konnte. -- Wenn Luther das catholica mit "christlich" übersetzt, so vergegenwärtige man sich, dass diese Wiedergabe schon in vorreformatorischen Bekenntnissen sich fand, für Luther gab sie das wieder, was sein Kirchenbegriff forderte. --

Als es galt, seinem Kurfürsten gegenüber den 14 Nothelfern besseren evangelischen Trost zu geben, wies ihn Luther auf die "neue Schöpfung Gottes", die Kirche der Heiligen d. h. Gläubigen, deren Güter, "Glaube, Hoffnung, Liebe und andere Gnaden und Gaben sind, die Leid und Freud gemeinsam mit einander tragen: haec est communio sanctorum, in qua gloriamur (cf WA 6,131), -- Hier liegt der Accent auf dem Gemeinschaftsleben der Gläubigen; es war diese Fassung ebenfalss traditionell, Thomas v. Aquino z. B. definiert die communio sanctorum als communio bonorum in ecclesia = Teilnahme an den in der Kirche befindlichen (87) Gütern, ebenso Huss als communio inviminis et amoris (n87). Nur mussten sich natürlich diese Güter je nach Fassung des Kirchenbegriffs ändern, für die TRadition sind es die Sakramente vorwiegend, für Luther der Heilsbesitz in Glaube, Liebe, Hoffnung. Doch hat er einmal die communio ss. speziel mit dem "Sakrament den Leichnam Christi" in Verbindung gebracht. In seinem Sermon darüber definiert er das Sakrament direkt als "gemeinschaft aller heyligen" (WA 2,743) "darum nennet man es auch mit seynem teglichen Namen Synaxis oder Communio, das ist gemeynschaft". Das Sakrament wird weiterhin als "Zeichen der Gemeinschaft" definiert (cf ebda.) Offenbar wirkt hier die Tradition stark nach. (cf WA 2,755).

Als der "hochberühmte Romanist zu Leipzig" die Notwendigkeit des Papsttum demonstrieren wollte aus der Thatsache, dass jede Gemeinde ihren Vorsteher haben müsse, hielt ihn Luther entgegen, dass es mit der Christengemeinde doch ein ganz ander Ding sei als mit einer weltlichen Gemeinde. "Die erste weysze noch der schrifft ist, das die Christenheit heysset eyn vorsammlunge aller Christgleubigen auff erden, wie wir ym glauben betten: "Ich gleub in den heyligen geyst, ein gemeynschaft der heyligenn". (pave#51) Hier ist das Zwischenglied "h. christliche Kirche" ausgelassen, weil es Luther auf die Heraushebung des "geistlichen" Charakters der Kirche ankommt. Fast mit denselben Worten wie in der Tesseradekas werden die Güter dieser "vorsammlung ym geist" gepriesen, "das heist nu eigentlich ein geistliche einickeit, vonn (88) wilcher die menschen heissen ein gemeine der heiligen". Ist aber so -- das ist die Spitze der Beweisführung -- die christliche Gemeine "in die geystliche ort" gelegt, so kann der Papst zu Rom nicht ihr Haupt sein. Heisst es doch nicht -- so sagt Luther an anderer Stelle in derselben Schrift -- "ich gleub in den h. geist, eine h. römische Kirche, ein gemeinschaft der Romer", (WA 6,300 = pave95), und auch nicht -- wie er in der Schrift an den christlichen Adel sagt -- "ich gleub in den bapst zu Rom", "auff das es klar sey, die h. Kirch nit an Rom gepunden sondern szo weit die welt ist, in einen glauben vorsamlet". (WA 6,412) --

Ist aber so die Kirche eine spirituelle Gemeinschaft, so können sichtbare Instanzen nicht von ihr einen Menschen exkludieren. Von diesem Gesichtspunkte aus hält Luther dem kleinen Häuflein derer, die ihn in der Bannbulle verdammten, das Apostolikum entgegen. "Wo denn die Kirche die Gemeinschaft der Heiligen ist, wie wir im Symbolum beten, d. h. eine universale Kirche, müssen (nach Meinung der Bulle) die von ihr ausgeschlossen sein, die nicht zu jenen 20 Mann (die ihn verdammten) gehörten" (cf Adversus execrabilem Antichristi bullam, WA 6,606). --

Die theoretische Erörterung über Mt. 16,18 und die dabei geübte Verwertung des Apostolikums wurde praktisch in der Beichtfrage. Sind der Kirche als Gemeinde der Heiligen die Schlüssel verliehen, so kann die Absolution als Kraftwirkung der letzteren nicht mehr an eine sichtbare, absolut bindende Autorität geknüpft werden, sondern vollzieht sich innerhalb der Gemeinde Christi, wo nur immer der h. Geist sie aussprechen heisst. "Wenn das Apostolikum, so sagt Luther in der Schrift "von der Beicht" (cf WA 8,163), der Kirche das Attribut "heilig" giebt, so geschieht es (89) "umb des h. Geysts willen, den sie gewísslich hatt". Bestätigt aber findet Luther die Richtigkeit seiner Gedankengang in der weisen Anordnung der Artikel des Symbols. "Darumb ist unser glawb also geordnet, das der artickel "vorgebung der sund" muss stehenn nach dem artickell "Eynn heilig Christliche kirche" und fur dem (scil muss stehen s. WA 8,163 amn 1) "Ich glawb ynn den h. geyst", auff das erkennet wurd, wie on den h. geyst kein h. kirche ist und on h. kirche kein vorgebune der sund ist".

Wiederum den Begriff der Kirche, "die vorborgen ist im Geist und nur geglaubt wird, wie wir sprechen: ich glaube eine h. Kirche", machte Luther in der Schrift über die Abschaffung der Privatmesse geltend, um zu beweisen, dass jene "Messpriesterschaft" (sacerdotium missarium), an welche die Menge das Seelenheil hänge, von Gott nicht geboten sei. Eine geistige Gemeinschaft bindet ihr Heil nicht an sichtbare Personen, nicht die Kirche als communio sanctorum, sondern der Papst hat jene Priester eingesetzt (WA 8,418ff). Aber wenn auch die Kirche als communio sanctorum Glaubensobjekt ist, schwebt sie darum doch nicht als abstrakte Grösse über jeder Empirie, vielmehr: sanctorum communionem in terris vivere credimus (WA 2,415 = releip04#34), sie existiert auf Erden, an Wort und Sakrament erkennbar. --

Zu dem Anfang unserer Besprechung der Aeusserungen Luthers über das Apostolikum werden wir zurückgeführt in der Stelle aus der Schrift gegen Ambrosius Catharinus. Wie der Fels, so sagt hier Luther bei Besprechung von Mt. 16,18, muss auch der darauf errichtete Bau sein, d. h. die Kirche, invisibilis et spiritualis sola fide perceptibilis ... sicut dicimus: Credo ecclesiam sanctam catholicam (WA 7,710 = lutcat01#31). --

Auf die volle Höhe persönlichen Glaubenslebens aber erhebt Luther das Apostolikum in der Kirchenpostille. Die Worte: "sage der Tochter Zion: siehe dein König kommt zu Dir", geben (90) in ihrem ersten Teile (sofern Luther den Dativ "der Tochter Zion" urgiert) ihm Anlass zu machtvoller, majestätischer Heraushebung individuellen Glaubens. "Es liegt Deine Seligkeit nicht dran, dass Du glaubest, Christus sei den Frommen ein Christus, sondern dass er dir ein Christus und Dein sey". Aus dieser persönlichen Heilsgewissheit entspringen "Liebe und gute Werke, ungezwungen", gewirkt vom h. Geist. Der Christ wird "den Heiligen gleich", ja "heilig". Das muss so sein "Denn wir sprechen: Ich glaube eine heilige christliche Kirche, die da ist eine Gemeinde der Heiligen. Willst Du ein Stück von der heil. christlichen Kirche und Gemeinde der Heiligen seyn, so musst Du ja auch heilig sein, wie sie ist" (EA 10,5. Diese Beziehung des "sancta" kennt Huss nicht; ihm ist die Kirche "heilig" mit Bezug auf die zukünftige sittliche Vollendung). -- Angebahnt ist diese individuell-ethische Fassung schon nach der Leipziger Disputation, wenn Luther in den Erläuterungen zu derselben sagt: es muss doch wohl auf Erden einige sehr h. Menschen geben, wenn anders wir an die reale Existenz der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen glauben (WA 2,415 = releip04#34); aber hier überwiegt noch der Collektivbegriff. Schon etwas deutlicher wird Luther im Sermon vom Sakrament des Leichnams Christi, wenn er sagt: "Also alle heyligen seyn Christi und der Kirchen Glied und wer in dieselbe Stadt aufgenommen wird, der heisst in die Gemeinde der Heiligen genommen" (WA 2,743). --

Man sieht, nach den verschiedensten Seiten hin, je nachdem die Anlässe variieren, wendet Luther als beweisende Stütze seines Kirchenbegriffs die Apostolikumsworte: h. christliche Kirche, Gemeinde der Heiligen, an. Er fasst die communio ss. teils als congregatio credentium im Sinne der Gesamtheit der Gläubigen, teils, weil ihm die starre Fassung der congregatio als Zusammengeschartsein zu leblos wäre, als Gemeinschaftsleben der Gläubigen, als Lebensgemeinschaft, die im Besitze von Gütern ist, welche sie ihren Gliedern communiziert. ER gebraucht die Begriffe (91) congregatio und communio unterschiedslos (cf zum Begriff congregatio WA 5,450), ebenso im Deutschen Gemeinde und Gemeinschaft, weil ihm beides untrennbar verbunden ist. Doch muss bemerkt werden, dass das für den lateinischen Sprachgebrauch nicht immer so war. In seinen Psalmenvorlesungen aus ältester Zeit unterscheidet er deutlich die Begriffe communio und congregatio. Erstere ist ihm das intimum des domus Christi als conventus spiritualis der Gläubigen, von der congregatio aber sagt er: est massa illa, ex qua eliguntur et assumuntur in concilium justorum [sive (sieh?,rr) wie er an anderer Stelle sagt spiritualis conventus fidelium]. Somit ist congregatio ein weiterer Begriff als communio, sie deckt sich mit der empirischen Kirche; congregatio sanctorum seu ecclesia manifesta sagt er selbst, hingegen ist die communio die aus dieser sich rekrutierende, in ihr enthaltene Gemeinde der Gläubigen. Wenn nun diese Unterscheidung der Begriffe späterhin fortfiel, so wird das dem Einflusse von Huss und Augustin zuzuschreiben sein; Augustin fasst die Kirche häufig als congregatio ss. und Huss bezeichnet seinen idellen Kirchenbegriff ebenso, das hat Luther veranlasst, nun diesen Terminus synonym mit communio zu gebrauchen. Jedoch kommt hier Huss die primäre Bedeutung zu; denn Luther hat Augustin schon gekannt, als er noch den weiteren Begriff der congregatio gebrauchte, während fast unmittelbar nach (92) Kenntnis von Huss de ecclesia die Synonymität mit communio auftritt. Nicht den Ausdruck congregatio also, sondern die Verwertung desselben für den ideellen Kirchenbegriff hat Luther von Huss. --

Mit Augustin hat Luther an den bisher besprochenen Orten die Gemeinde der Heiligen von den Christen hier auf Erden (cf WA 6,300 = pave95 "so weit die Welt ist"; 293 "auf Erden") verstanden. An zwei Stellen jedoch vom Jahre 1519 und 1520 wendet er diesen Artikel an auf die Gemeinschaft der himmlischen Heiligen, wie sie im Heiligenkult als solche verehrt wurden. Offenbar näherte er sich mit dieser Interpretation der in curialistischen Kreisen beliebten Deutung. (cf catlut11#46). Die erste Stelle entstammt einer Predigt vom 11. November 519. Da Luther, in einer fortlaufenden Predigtreihe über die Genesis begriffen die Geschichte des Heiligen jenes Tages wider sonstige Gewohnheit an den Schluss stellt, reicht ihm in der Ausführung die Zeit nicht aus zu genauer Besprechung derselben, und so giebt er nur einige Richtlinien für die Bedeutung des Heiligenkults als solchen, weist ihm ethischen -- sofern die Heiligen uns zum Vorbild dienen -- und religiösen Wert bei -- sofern sie unsere Fürsprecher bei Gott sind, alles Leid mit uns tragen und dasselbe überwinden helfen. Darin dienen sie uns, dazu teilen sie ihre Güter uns mit iuxta vim et sententiam articuli fidei "sanctam ecclesiam catholicam, sanctorum communionem (WA 9,422). Hier ist zweifellos die communio sanctorum verstanden von dem Gemeinschaftsverhältnis der irdischen Gläubigen mit den himmlischen Heiligen. Auch in dieser Interpretation hat Luther Vorgänger gehabt, ohne dass sich ein bestimmter Autor nenne liesse. (93) Es könnte auffallen, dass Luther auch bei dieser Interpretation die communio sanctorum epexegetisch zu sancta ecclesia setzt, doch wird ihn dazu der Gedanke bewogen haben, dass die sanctorum communio nur dem Gliede der s. ecclesia offen stehe, mit welcher Vorstellung er traditionelle Ideen traf. -- Die besprochene Stelle ist Beweis dafür, dass Luther die Wirkungskraft der Heiligen nicht suspendiert hat. Den Kölner und Löwener Theologen gegenüber hatte er sich darüber zu verteidigen. Dass nach priesterlicher Willkür die Bitten der Heiligen uns "appliziert" und "kommuniziert" werden, das, so sagt er, habe er geleugnet, nicht aber ihre Wirkungskraft per virtutem fidei, spei et charitatis, quae est communio sanctorum (WA 6,191). Hier fehlt der Begriff sancta ecclesia, damit ist die Brücke zue epexegetischen Fassung der communio geschlagen, und der oben berührte Einheitspunkt in Luthers Bewusstsein rücksichtlich der Verwertung des Symbols wird deutlich erkennbar. --

Um zu einer Gesamtbeurteilung zu gelangen, sei der Ausgangspunkt bei Luthers Erläuterung des ganzen Symbols in der "kurzen Formel" genommen. Luther teilt das Apostolikum "in drei Hauptstück, nach dem die drei Person der h. gottlichen Dreifaltigkeit darin erzählt werden". Das klingt traditionell und war doch eine Neuerung, sofern es die Aneinanderreihung der 12 Artikel durchbrach und dieselben subsummierte unter die drei Glaubensobjekte, Vater, Sohn und h. Geist. Schon hier bahnt sich die Geltendmachung dessen an, worauf der Wert der kurzen Formel ruht: die scharfe Fixierung des Glaubensbegriffes. Glauben heisst (94) "seine Trau in Gott setzen, es auf Gott wagen", und von diesem Prinzip aus soll das Credo im Symbol verstanden werden. Vielleicht ist es durch Rufin beeinflusst, wenn Luther das dem credo dreimal beigefügte in trinitarisch orientiert sein lässt. "Inn gott den vatter, in Jhesum Christum, in den h. Geist (ÉA 22,15, WA 7,215). Und den glauiben soll manniemant geben dan alleyn gott, darumb wirt die gottheit Jhesu Christi und des h. geystes damit bekant, das wir ynn uhn gleych wie ynn den vatter glauben". Rufin sagt: Nunc autem in illis quidem vocabulis, ubi de divinitate ordinatur fides, "in" dicitur; in ceteris vero, ubi non de divinitate, sed de creaturis et de mysteriis sermo est, in praepositio non additur. -- Unter dem Glaubensbegriff werden nun sämtliche Symbolartikel subsummiert und damit in lebendigste Relation zum bekennenden Subjekt gesetzt: Gott ist allmächtig, "was mag mir gebrechen?" "so er Schöpfer Himmels und Erden ist, wer will mir Etwas nehmen?" "Jesus ist mein Herr, mir zu gut vom h. Geist empfangen -- so geht es fort durch alle Artikel, in keinem fehlt die Beziehung auf das Ich. -- Die Auslegung des dritten Hauptstückes ist gleichsam Zusammenfassung der von uns besprochenen zerstreuten Aeusserungen. "Ich glaub, dass da sei auf Erden, soweit die Welt ist nit mehr dann eine h. gemeine christliche Kircke, welche nicht anders ist dann die Gemeine oder Sammlung der Heiligen". "Ich glaub, dass Niemand kann selig werden, der nit in dieser Gemeine erfunden wird" -- auch dieser Gedanke ist uns bekannt, ebenso die jener zugeschriebenen Güter, "Glaube, Hoffnung und Lieb", und dass ein Glied der Gemeinde an allen Gütern derselben partizipiere (cf WA 6,131). Die antithetische Wendung: "Ich glaub, dass do sei in derselben Gemeinde, und sonst nirgend Vorgebung der (95) Sund", empfängt volles Licht aus der besprochenen (zeitlich freilich später fallende) Stelle aus der Schrift "von der Beichte". Wiederum charakteristisch ist, dass die Uebertragung der Schlüsselgewalt unter ausdrücklicher Citierung von Mt. 16 und 18 an "dieselbe einige Gemeinde" zu dem Artikel von der Vergebung der Sünde in Beziehung gesetzt wird, wie es 1519 erstmalig von Luther geschehen war. --

Die lebendige Verknüpfung des Symbolinhaltes mit der Persönlichkeit des Bekennenden, das ist die Neuschöpfung Luthers -- damit kehren wir zu unserem Ausgangspunkte zurück. Er spricht es einmal aus, dass das Apostolikum und das Herrngebet das tägliche Leben des Christen begleiten sollen, ihn bewahrend vor Sünde (cf WA 4,691). Was bisher mitgeschleppt wurde, hat er wieder lieb und wert gemacht, fruchtbar für den Glauben. Für den evangelischen Glauben. Wo das Symbol noch Erwähnung fand, geschah es im Sinne curialistischer Dogmatik; für einen Emser ist die h. christliche Kirche im Symbol die unfehlbare Papstkirche (cf Enders: Luther und Emser I 114), für Murner die römische Kirche, deren Autorität man anerkennen muss, Catharinus leitet aus diesen Symbolworten den päpstlichen Primat als articulus fidei ab (Schrift gegen Luther Bl. 64 2t. Bl. 87) -- an dem Gegensatze wird die Grösse Luthers vielleicht am klarsten. Und doch zeigt auch gerade dieser Gegensatz den gemeinsamen Boden beider Teile. Sie haben beide von ihrer Dogmatik aus das Symbol interpretiert, als Kinder einer Zeit, welcher die Geschichte im Banne der Religion stand, beide ihren Standpunkt gleichsam über dem Symbol genommen, nur Luther höher als seine Gegner, auf der höchsten Stufe, dem Evangelium selbst. Weil hier der Glaube Persönlichkeitssache war, deshalb wurde auch der Symbolglaube Persönlichkeitssache bei Luther. Das Symbol selbst aber fand er vor, und er hat es genommen, wie er es vorfand, als bekleidet mit höchster Autorität, die man sogar rechtlich (96) festgelegt hatte, als "den Glauben" (so nennt Luther das Symbol EA 24,95, WA 6,293, 8,163, EA 22,15).  Gott hat es gegeben, so sagt er einmal (WA 4,691,23). Das war traditionelle Schätzung, aber sie wurde nicht als solche empfunden. Luther hat sich nicht etwa bemüht, die apostolische Herkunft besonders zu verfechten, Studien darüber hat er nicht gemacht, dazu war nirgend für ihn Veranlassung gegeben. Indem der persönliche Glaube an die überkommene Grösse herantrat und seine Kraft in sie hineinlegte, wurde die traditionelle Hochachtung persönlich, Luther glaubte im Symbol die kurzeste Summe der Heilsgewissheit ausgedrückt zu finden, und damit das, was die Kirche aller Zeiten hatte sagen wollen. Ein Konflikt des Glaubens mit den Symbolformeln, eine Spannung zwischen Symbol und Schrift, wie sie im Mittelalter immer wiederkehrte, lag völlig ausserhalb seines Gesichtskreises. So vermag er ex concessis aus dem Symbol zu argumentieren und dasselbe autoritativ zu verwerten. (cf hierfür besonders die Stellung aus der Kirchenpostille, in denen Luther die Uebereinsstimmung des persönlichen Glaubens mit dem Symbol voraussetzt). Für die Zweifel eines Laurentius Valla, Reginald Peacock und Erasmus hatte Luther dem entsprechend kein Verständnis; was ein Alveld im tractatus de Communione sub utraque aus der Tradition angab, dass die Apostel nach Pfingsten vor ihrer Zerstreuung in alle Welt das Symbol komponiert hätten, das hätte Luther auch schreiben können. (n96) (97)

Dass diese Harmonie von Glauben und Symbol aus den beiden Faktoren der Tradition und Subjektivität (der persönlichen Heilsgewissheit) sich derart zusammensetzte, dass letztere das beherrschende Prius war, wird man nur dann verkennen können, wenn man den Glaubensbegriff repristiniert und die innerste persönliche Einheit von Symbol und Glaube zu einer äusserlichen abschwächen will. Man vergisst dann, dass Luther, indem er die Heilsgewissheit an das Symbol heranbrachte und nicht umgekehrt, über die absolut bindende Geltung desselben innerlich hinaus war. -- Schon seine Zeit hat das vergessen, oder vielleicht überhaupt nicht erkannt. Emser klagt in seiner Gegenschrift auf Luthers Buch an den christlichen Adel darüber, dass Luther vielfach deshalb nicht für einen Ketzer gehalten werde, weil er nicht wider die 12 Stücke des christlichen Glaubens rede (cf Kolde I 273; Emser seinerseits merkte wenigstens so viel, dass Luther mit dem Symbol nicht stimmte, wie es die römische Tradition verstand). So konnte vom Standpunkt des römisch Denkenden nur dann gesprochen werden, wenn man rein äusserlich den Glauben an das Symbol vom autoritativen Hinnehmen verstand, einerlei wie man es interpretierte. Die Grösse Luthers hatte nicht erkannt, wer so sprach. Hier bahnt sich die Entwicklung an, wie sie von Melanchthon über die Confessio Augustana hinüber zum Synkretismus führt, einen Consens zwischen Katholiken und Evangelisten im Festhalten des Apostolikums zu finden. Ihr erstes Auftauchen aber zeigt deutlich, dass diese Auffassung nicht evangelisch ist. -- Immerhin ist bemerkenswert, dass Luthers STellung zum Apostolikum ihm Anhänger warb und ihyn als in Einklang mit der Tradition erscheinen liess. (n97)

Kapitel 6: Das sogenannte athanasianische Symbol.

Wer einen Einblick gethan hat in die Verwertung des apostolischen Symbols bei Luther, der wird von vornherein nicht erwarten, das nach Athanasius benannte Glaubensbekenntnis bei Luther häufig citiert zu finden. Dieses auf di Darstellung augustinischer Trinitätslehre und Christologie abzielende Symbol vermochte um seines Inhalts willen nicht in lebendigen Connex zu Luthers religiöser Gedankenwelt zu treten; es mochte hinzukommen, dass es innerhalb des mittelalterlichen Frömmigkeits- und Erziehungslebens keine bedeutsame Rolle spielte, als Unterrichtmaterie kam es nur für die künftigen Kleriker in Betracht, in der Publizistik begegnet es kaum.

Gelegentlich, als Beispiel zur Erläuterung eines Gedankens, nicht etwa um eine erkämpfte Ueberzeugung durch die Uebereinstimmung mit dem altkirchlichen "Glauben" zu decken, führt Luther einmal die Erinnerung an den Symbolinhalt in die Psalmenauslegung ein. Er behandelt bei Besprechung des 119. Psalms in geistvoller Weise das Gesetz geschichtlichen Fortschreitens, nach welchem das derzeitige Neue durch das Kommende antiquiert wird, unter dem religiösen Gesichtspunkte von Buchstabe und Geist. Was heute Geist ist, d. h. lebendiger Mittelpunkt des Interesses, ist morgen Buchstabe, d. h. gehört der Vergangenheit an (WA 4,365; die Stelle ist besonders darum interessant, weil sie das moderne Problem des Verhältnisses der Geschichtsthatsachen zum religiösen Glauben anschneidet). So war beispielsweise der zur Fixierung gebrachte Artikel von der Trinität zur Zeit des Arius Geist, jetzt aber ist er Buchstabe, wenn wir auch wiederum Geist hinzufügen d. h. Glauben. Offenbar denkt Luther bei dem articulus trinitatis (99) expressis an das Symbol, er hat also die Autorschaft des Athanasius mit seiner Zeit festgehalten. Charakteristisch -- und das schon in den Jahren 1513-1516! -- findet sich wiederum das, was bei Besprechung des apostolischen Symbolums als die Neuschöpfung Luthers festgestellt werden musste, die lebendige Beziehung des Subjektes zum Symbol durch den Glauben, wenn anders letzteres nicht tote Mass, Buchstabe, bleiben soll.

Auf derselben Höhe bewegt sich die zweite Erwähnung des Athanasianum bei Luther. Der Löwener Professor Latomus, in dem ersichtlichen Bestreben, Luther als arianischen Ketzer hinzustellen, warf ihm Vergehen gegen die Athanasianum vor. Den aus Luthers Schriften herausgezugenen Satz: omne opus bonum in sanctis viatoribus esse peccatum fasste er als Verstoss auf gegen die Symbolworte: qui bona egerunt, ibunt in vitam aeternam. Luthers Behauptungen, die jenem Satze zu Grunde lagen, richteten die Spitze gegen die Möglichkeit des Beichtbekenntnisses sämtlicher, sei es Tod- sei es verzeihlicher Sünden (cf WA 1,332, 428); man solle vielmehr Gott bitten, auch die verborgenen Fehler, die wir selbst nicht wüssten, zu verzeihen. Denn letztlich ist all unser Thun, auch das gute, verdammenswert, wenn Gott mit uns ins Gericht treten wolle. Auf diese Gedanken zurückgreifend bekennt Luther seine Konkordanz mit dem Symbol gegen Latomus. Allerdings ist unser Thun böse, zum mindesten ist es ungewiss, ob nicht auch in dem sogen. Guten peccatum stecke, Gott aber mache durch seine Gnade dasselbe -- was es von Natur nicht sei -- zu einem veniale und lasse, wiederum durch die Gnade, im Gericht das ewige Leben erlangen, von dem das Symbol rede. Nur wenn man den Begriff der Gnade ausschalte und so das peccatum (nicht als dem Subjekt verborgen beigemischtes Moment des sogen. bonum, sondern) als damnabile im absolutem Sinne fasse, verstosse man gegen das Symbol (cf WA 8,58 = latom02#16) -- Hier wird offenkundig, dass die Berufung auf das Symbol das Sekundäre bei Luther ist gegenüber dem Prius der eigenen Ueberzeugung. Hätte der Gegner nicht das Symbol hervorgesetzt, Luther hätte desselben nicht bedurft. Andererseits freilich ist er, nachdem (100) dasselbe nun einmal zur Sprache gebracht ist, bemüht, seine Uebereinsstimmung mit der durch die Tradition geheiligten Urkunde zu erweisen; er freut sich des Einklangs, wie beim Apostolikum, so hier. Darum hat er nicht gesorgt, dass nur eine gewisse Künstelei das von ihm und Latomus behandelte Problem in das Symbol hineinspielen konnte (Im Symbol handelt es sich um die Entscheidung im letzten Gericht: die Guten erlangen das Leben, die Bösen das Höllenfeuer. Auf die Begriffsbestimmung des "Gutseins" (= bonum com peccato veniali), auf die für Luther Alles ankommt, ist im Symbol nicht reflektiert); seine Zeit pflegte so zu argumentieren.

Kapitel 7: Das fünfte Laterankonzil.

Das Laterankonzil von 1512 - 1517 bedeutete einen Sieg der Curie über die Weltmächte, speziell über Deutschland und Frankreich. Es hatte noch kurz zuvor geschienen, als solle es den Herrschern dieser beiden Staaten im Bunde mit einer rebellierenden Cardinalspartei gelingen, durch ein von weltlicher Seite einberufenes Konzil dem Papste die seit den Constanzer Tagen noch immer brennende Reform zu dekretieren. Allein päpstlicher Diplomatie gelang es, zunächst in die gegen Rom gerichtete Einigkeit des deutschen und französischen Herrschers Bresche zu legen, sodann keck ein Gegenkonzil im Lateran zu konstituieren, sich die spanische Unterstützung zu sichern, durch litterarische Capazitäten sich kirchenrechtlich die Rechtmässigkeit der eigenen Massnahmen nachweisen zu lassen, und so schliesslich, unterstützt durch einen Umschwung in der äusseren Politik, dem Gegner den Todesstoss zu versetzen: das Konzil zu Pisa löste sich auf, und nunmehr dekretierte Rom im Laterankonzil, was es für gut befand. Es gestaltete sich das letztere zu einem glänzenden Triumph curialistischer, insbesondere papalistischer Politik. Beinahe jede Sitzung gipfelte in einer Verherrlichung der päpstlichen Primatsrechte. (101)

Geht man von der Einsichtsnahme in die Entstehungsgeschichte und den Verlauf dieses Konzils, dieses Kreuz und Quer diplomatischer Verhandlungen, über zu den Notizen, welche Luther über dasselbe bietet, so wird man über die Spärlichkeit derselben erstaunt sein, wenn man nicht die Bedingungen, unter denen Luther schrieb, und die Interesse, welche ihn leiteten, in Rechnung zieht. Die Konzilsakten hat Luther nicht gekannt (auch Eck kannte sie nicht), sie sind erst am 31. Juli 1521 im Druck in Rom bei Jacob Mazochius vollendet worden, nachdem Leo X. am 25. Oktober 1520 den Druckauftrag gegeben und in einer vom Mai 1521 datierenden Zuschrift das Studium der Akten empfohlen hatte. Auf die Wartburg sind dieselben nicht mehr gekommen, Luther hätte sie sonst zweifellos in der Postille erwähnt. So ruhen also seine Aeusserungen auf mündlicher Ueberlieferung; dass diese wiederum allzu reicht nicht war, wird erschliessbar daraus, dass Deutschland von den Beschlüssen des Konzils nicht sonderlich berührt wurde, auch seinerseits die Oekumenizität desselben nicht anerkannte. So weit darf man jedoch nicht gehen, mit Kolde (Luthers Stellung zur Konzil und Kirche, S. 13) in der zeitgenössischen deutschen Litteratur nur sehr selten dasselbe erwähnt finden zu wollen; man hat es genannt, nur sind es stets einige wenige Punkte, die man nannte; es sind z. T. dieselben, die auch Luther kennt. Luther mag vieleicht mehr gewusst haben, als er sagt, jedenfalls reflektiert er nicht auf die (102) historischen Entstehungsverhältnisse des Konzils, ihn bewegen nur die Konzilsbeschlüsse, welche thetisch oder antithetisch zu seinen religiösen Positionen sich verhalten. Seine Aeusserungen lassen sich in 7 Gruppen teilen.

Wenn Luther das Konzil unter dem Sehwinkel der Reform ansah, kam er zu dem Urteil, dass es auf diesem Gebiete nichts geleistet habe. Dieses Urteil war nicht unberechtigt; man hatte freilich in den Sessionen genug von Reform geredet -- das Einzelne ist Luther nicht bekannt gewesen -- auch einen Spezialausschuss für die Reform gebildet, sowie das Placet für einige diesbez. Vorschläge erlangt, aber teils waren die Reformen nur auf dem Papier geblieben, teils aber waren sie vor allem nicht durchgreifend genug, um wirklich als Verbesserungen empfunden zu werden. Was vollends Luther als Reform beurteilt hätte, boten sie in keiner Hinsicht,. -- Man kann beobachten, wie Luthers Urteil an Schärfe zunimmt mit der Steigerung seines Abstandes von der Curie. In den Resolutionen zu den Thesen kommt es nur sehr zurückhaltend, fast schüchtern zum Ausdruck, dass die gelehrten und h. Männer, die unter Julius II. die Kirche durch ein eigens dazu eingesetztes Konzil reformieren wollten, nichts erreichten, oder dass man es anders als es in den letzten beiden Konzilien -- Luther schliesst das Pisanum mit dem Lateranense zusammen; es ist ihm also nicht der innere Gegensagt zwischen beiden, der die höchste politische Spannung involvierte, bewusst geworden -- geschehen sei, anstellen müsse, wenn reformiert werden solle (WA 1,573 = res05#71; diese Stelle citiert Catharinus in seiner ersten Schrift gegen Luther Bl 8). Der Papst, so sagt er in der Resolution zu der 89. These, hat die besten Absichten; kann man sein Handeln nicht immer als das beste beurteilen, so liegt die Schuld nicht sowohl an ihm als an Zwischeninstanzen, die seine Intentionen durchkreuzen. Ecclesia indiget reformatione, quod non est unius hominis Pontificis nec multorum Cardinalium officium, sicut (103) probavit utrumque novissimum concilium, sed totius orbis, immo solius Dei (WA 1,627 = res10#100). Es entspricht den thatsächlichen Verhältnissen, dass Papst und Cardinäle die Leiter des Konzils waren. -- Sieht man aus Luthers Worten, dass er im Laterankonzil den Thatbeweis besitzt, eine einseitig curialistisch unternommene Reform genüge nicht, so erhebt sich ihm aus dieser Thatsache der erste Gedanke an ein Universalkonzil (der dann in de Schrift an den Adel sich veränderte zu der Forderung ds "frei Concilium" als Nationalkonzil). An unserer Stelle tritt der praktische Gesichtspunkt noch hinter den theologischen zurück -- auf die göttliche Initiative laufen seine Gedanken letztlich hinaus -- aber ein Ansatz zu praktischer Formulierung ist da.

Ganz anders bereits, entschieden und klar, klingt die Aeusserung über das Laterankonzil in den operationes in Psalmos, bei der Auslegung des 12. Verses von Psalm 10. Luther hat durch die eigene Erfahrung gelernt, auf eine Reformation zu verzichten. Die Geschichte hat ja gelehrt, dass mit Konzilien nichts erreicht werden kann; bedeutsame Konzilien haben stattgefunden -- er nennt das Constanzer und Basler -- doch was haben wie erreicht? Von dem jüngsten Konzil will er nicht reden, es war ein Spottkonzil (cf WA 5,345). -- Fast dasselbe sagt Luther in seiner Schrift "von den guten Werken" in Punkt 11: "Es meynen etlich, man sol das auff gemein Concilium stellen. Da sag ich neyn zu, dan wir haben vil Concilia gehabt, da solchs ist furgewandt, nehmlich zu Costnitz, Basel und das letzt Romisch. Es ist aber nichts ausgericht und ymmer erger worden" (WA 6,258). Die auf Grund des Lateranense früher geforderte Korrektur der Konzilien ist zur Negation ihrer Wirkungsfähigkeit somit inzwischen geworden. So kann Luther höhnisch dem Gegner, Prierias, als er von der Machtsphäre des Concilium universale spricht, zurufen: quale fuit novissimum Lateranense (WA 6,338), gleichsam sagend: wir wissen ja, was Ihr ein Universalkonzil heisst, nämlich eine Versammlung Eurer Cardinäle. (104) Hier ist offener Vorwurf geworden, was in den Resolutionen angedeutet war.

Zweifellos hat zu diesem harten Urteil über die Erfolglosigkeit dieses Konziles mitgewirkt, dass, wie bereits erwähnt, die Oekumenizität desselben angezweifelt wurde. In der Antwort auf den Stolper Zettel kommt Luther darauf zu reden: man dürfe sich doch auf dieses Konzil nicht berufen, "das noch nit tzehen jar alt, von vielen zu Rom selbst für nichts gehalten, auch in detzschen und allen landen wenig ere erlangt hat" (WA 6,138). In der Tat hat es in Deutschland, England und namentlich Frankreich nicht an Opposition gefehlt; wenn Luther dieselbe jedoch auch auf Rom ausdehnt, so ist nicht auszumachen, woran er denkt. Meint er die oppositionelle Cardinalspartei? Aber dieselbe war wiederum zum Gehorsam gegen die päpstlichen Wünsche gebracht worden. Meint er die Kämpfe im Kirchenstaat, die Franz Maria della Rovere zur Wiedereroberung des Herzogtums Urbino unternahm? Aber die Kämpfe hatten mit der Oekumenizität des Konzils nichts zu schaffen. Oder hatten Freunde, etwa der pommersche Propst von Colberg, oder Johann Hess, die beide Ende 1519, aus Rom zurückgekehrt bei Luther weilten und ihm nachweislich von den dortigen Verhältnissen berichtet haben (breve af 13-10 19 og 7-12 19), von römischer Opposition gegen das Konzil berichtet? Es wird das Wahrscheinlichste sein; dann handelt es sich wohl um eine mehr private Renitenz.

Man wird ferner den feierlichen Protest der Pariser Fakultät gegen das Laterankonzil zu beachten haben, wenn Luther von der Opposition "aller Lande" spricht. Derselbe war nicht spurlos vorübergegangen, er hatte noch einmal den alten kirchenpolitischen Ruhm der Pariser Universität aufleben lassen, in (105) Deutschland fand er Widerhall. Luther hat die Appellation (Der Wortlaut der Appellation bei Löscher I 560ff) gekannt, so wird seine Bemerkung vollends deutlich. --

Die zweite Gruppe der Aeusserungen Luthers über das Laterankonzil betrifft die Verdammung des Baseler Konzils durch dasselbe. Man kan deutlich zwei Stufen in der Beurteilung dieses Conzilsbeschlusses durch Luther unterscheiden. Gelesen hat er ihn zuerst in der Pariser Appellation, aber er hat an ihr keine Gelegenheit genommen, sich darüber zu äussern, da hält ihm Cajetan in Augsburg denselben als Erweis der Papstgewalt vor (WA 2,8 = act-a01#18), und nunmehr verwertet Luther diesem Anstosse entsprechend ihn zur Demonstrierung päpstlicher Anmassung. An den Kurfürsten und Spalatin schreibt er am 19. November in diesen Sinne (Enders I 111 og 112): "Sie werden in Rom alles versuchen, wenn der Papst über Concilium und Schrift sich erhebt". So war jener Beschluss ein Faktor für die Lösung Luthers von der Curie -- man beachte, dass ihm in Augsburg die Unterscheidung von curia und ecclesia Romana aufging!

Doch die Wirkungskraft dieses Beschlusses auf ihn reichte noch weiter, das Gehörte und Gelesene harrte noch der vollen Erweckung: die Leipziger Disputation brachte dieselbe. In dem Briefe an Spalatin vom 15. August 1519 und dem Rechtfertigungsschreiben über die Leipziger Disputation, welches er mit Carlstadt am 18. August 1519 an den Kurfürsten sandte, begegnet der Konzilserlass erstmalig mit Vollbewusstsein seiner Tragweite verwertet. Provoziert durch den Gegner hatte Luther im Eifer der Disputation sich fortreissen lassen zu der Erklärung, das Costnitzer Konzil habe geirrt, und dieselbe trotz anfänglichen Schwankens und Verklausulierens aufrecht erhalten. Das Laterankonzil wurde nunmehr Rechtsgrund für diese seine These. Das Laterankonzil hatte ein anderes Konzil verworfen, hatte also selbsst ein solches für irrig erklärt, was brachte Luther andere Waffen zum Schutz (106) seiner Behauptung als die vom Gegner selbst dargereichten? Wenn das Konzil unbedingt normativ sein soll und dann ein Konzil das andere verdammt, so kommt es schliesslich zu einem Durcheinander "dass wir zuletzt nicht wissen, wo Papst, Concilium, Kirche, Christus oder wir dabei bleiben" (EA 53,17 = br180819#38). Ja, keck spricht er es Spalatin gegenüber aus, hat das Lateranense ein Conzil verworfen, so steht mir das gleiche Recht zu, mir soll nun das Nicänum höher gelten als das Constanzer Konzil (WA 2,400 = releip01#57).

Jener Beschluss des Conzils war in der 11. Sitzung am 19. Dezember 1516 gefasst worden und in der Bulle Pastor aeternus schriftlich fixiert, nachdem man schon vorher in Reden sich über die Illegitimität der Basler Versammlung deutlich genug geäussert hatte. Man sah sich päpstlichersseits gezwungen der Kirchenpolitik jene Kirchenversammlung preiszugeben und salvierte sich durch Rekurrierung auf die Papstgewalt. -- Es ist durchaus sachentsprechend, wenn Luther in diesem Beschluss zugleich eine Verdammung des Costnitzer Konzils, obwohl dasselbe nicht genannt ist, erblickt (cf EA 53,17 = br180819#38). Die Pariser Fakultät war ihm in diesem Urteil vorangegangen (Löscher I 556), und das Konzil selbst hatte keinen (107) Zweifel darüber gelassen, dass es die Costnitzer Beschlüsse treffen wollte, wenn es die Absolutheit der Papstgewalt betonte. --

Ein eigentümlicher Irrtum ist Luther hinsichtlich des Laterankonzils begegnet in seinen Schriften wider den Zettel des Meissener Bischofs. Sowohl in seiner deutschen wie lateinischen Antwort schiebt Luther dem Gegner die Behauptung zu, das jüngste Konzil habe die communio sub una für die Laien bestimmt (WA 6,136 und 148). Er spottet dann seinerseits darüber, dass man ein solch junges Konzil autoritativ der bisherigen Praxis der Böhmen entgegenzusetzen wage. Siceht man nun die Konzilsakten durch, so sucht man vergeblich einen diesbez. Beschluss, über das Abendmahl ist in jener Kirchenversammlung überhaupt nicht verhandelt worden. Andrerseits aber heist es in der Schedula des Meissener Bischofs: Cum itaque tractatulus quidam sive sermo in vulgari Idiomate de sacratissimo corporis Christi sacramento sub nomine et insciptione Doctoris Martini LUther Augustiensis contra novissimi sacri Lateranensie generalis Concilii statuta passim per civitatem et diocesim nostras publice venalis exponatur, in quo inter cetera comperiuntur auctori illius pulchrum expediensque videre quod Ecclesia per generale concilium statueret Omnes utriusque status Christifideles sub utraque species ... communicari. Hat sich nun etwa der Bischof geirrt und Luther diesen Irrtum in seine Schrift herübergenommen? Kaum, vielmehr hat Luther den Bischof missverstanden. Er hat das contra ... Concilii status bezogen auf den vom Bischof angegebenen Inhalt seines Sermons, während dieser in der Herausgabe als solcher eine Verletzung der Konzilsbeschlüsse sah, und nicht mit Unrecht, sofern das Konzil in der 10. Sitzung beschlossen hatte, es dürfe kein Buch gedruckt werden, sei es in Rom sei es anderwärts, ausser nach Durchsicht und Approbation des Vicarius Urbis und des Magister S. Palatii bez. ausserhalb Roms des Bischofs oder eines vom Bischof zu deputierenden Censors und des Inquisitors. Dieser Beschluss war der Rechtsgrund, mit welchem (108) der Bischof sein Vorgehen gegen Luther stützte (n108); er war geschickt gewählt, der Bischof wollte Luther mit stärksten Waffen schlagen. Er lässt keinen Zweifel darüber, wie er seine Worte in seinem Zette gemeint hatte. Er erklärt in seiner zweiten "Notel" auf Luthers Schriften, welche er an sein Kapitel richtet, von dem Laterankonzil Luther gegenüber ganz ruhig: welichs gar nichts von dem Hochwirdigen Sacrament geordnet sunder bleiben lest bei der aufsatzung des alten und vor langen Jahren (1215) gehaltenen Concilii", und erläutert alsdann das "wider die aufsatzung und ordnung dess nechist gehalten Lateranense Concilium" durch genaue Wiedergabe des oben charakterisierten Konzilsbeschlusses. -- Luther hat seinen Irrtum nicht ausdrücklich korrigiert; stillschweigend vielleicht dadurch, dass er auf jenen vermeintlichen Beschluss über das Abendmahl weiterhin nicht mehr zurückkommt. Dass er um sein Versehen gewusst hat, wird wahrscheinlich dadurch, dass er von dem Briefe des Bischofs an sein Kapitel gehört haben wird (WA 6,135 dass des Bischofs Mandat "einen Konzilsbeschluss über Christi Gebot setzte", ist nach Obigem nunmehr zu korrigieren).

Der vierte Punkt, um welchen Aeusserungen Luthers sich gruppieren lassen, betrifft den Beschluss des Konzils, dass die Seele unsterblich sei. Luther hat ihn lächerlich gemacht, wie er nur konnte. Als er seine 13. These für die Leipziger Disputation in längerer Resolution verteidigte, sucht er sein Urteil über die frigidissima decreta zu erhärten durch den Hinweis, dass es mit den römischen Gesetzen schon so weit gekommen sei, dass man es für notwendig erachte, die Unsterblichkeit der Seele feierlichst auf einem Konzile zu statuieren (WA 2,226 =r13-05#11). Was soll man von (109) Gesetzgebern halten, die Selbstverständliches festlegen? -- Und als er im Kommentar zu Galaterbrief an die Stelle kommt: Ihr haltet Tage, Monate, Zeiten und Jahre, und der Auslegung die zeitgemässe Wendung giebt auf den geforderten Gehorsam gegen Papstgebote, verbindet sich wiederum herbster Spott mit der Einführung jenes Konzilsbeschlusses: Für den Kampf gegen den Türken sollen wir Geld zahlen, die schlimmsten Notstände aber vergisst man; der Türke kann zwar den Leib töten, aber wir töten die Seele und berauben sie des Himmels, wenn trotzdem die Bestimmung des letzten Konzils wahr ist, dass die Seelen unsterblich seien, besonders die der Christen (WA 2,541). Der Begriff des animam occidere hat vermöge einer Ideenassociation die Erinnerung an jenes Dekret in ihm wachgerufen und bitter lässt er den Beschluss über die Unsterblichkeit der Seele kontrastieren mit dem faktischen Töten derselben. -- Als dann fernerhin Prierias die constitutiones papae in decidendo de fide et moribus als infallibel bezeichnete, -- eine Antizipierung des Vaticanums -- rief ihm Luther in seiner Glosse zu: sicut probatum est novissimo concilio, ubi decisum est animam esse immortalem (WA 6,338). Es war bitterste Spott, die Infallibilität des Papstes an einem feierlichen Beschluss über eine selbstverständliche Thatsache zu demonstrieren. Dass die Selbstverständlichkeit die Pointe der Polemik Luthers war, wird vollends klar aus seinen Worten in der Schrift an den christlichen Adel deutscher Nation. Er klagt in Punkt 7 die Römlinge an "dass sie selbst fast nichts mehr wissen vom Glauben zu sagen", und als Beweis führt er die "kindische, leichtfertigen Artikel" des letzten römischen Konzils an, darinnen sie gesetzt haben, dass des Menschen Seele unsterblich sei" (WA 6,432). -- Genau dasselbe sagt die Aeusserung in seiner Schrift: "Grund und Ursach aller Artikel etc". Aus Anlass des 27. Satzes der Bannbulle knüpft er wie in dem Traktat gegen Prierias wieder an die Papstgewalt an. Er bittet die "Papstjünger", doch einmal "ihr (110) Maul aufzuthun" und die "Artikel des Glaubens, der Sitte und guter Werke" zu zeigen, die der Papst aufgestellt habe, "auf dass wir den h. Geist und Christum einmal zur Schul führeten und einen guten Schilling gäben, dass sie so vergessen und säumig gewesen sein, haben uns nit recht und gnug gelehret den christlichen Glauben und gute Werk" (WA 7,425 = assty05#13). Und nun zeigt er mit beissender Ironie einen solchen Papstartikel auf. "Meisterlich" ist neulich zu Rom der "heilig Artikel" beschlossen, dass die Seele des Menschen unsterblich sei. Man hatte vergessen, dass man im Glaubensbekenntnis sagte: "Ich gläub ein ewigs Leben". -- In der Assertio omnium articulorum ist die Polemik etwas gemildert, auch wird der Beschluss über die Unsterblichkeit der Seele nicht ausdrücklich als lateranensischer gekennzeichnet (ass03#65).

Berechtigt war diese Lächerlich-Machung jenes Konzilsbeschlusses nicht; sie ist entstanden unter Nicht-Beachtung d. h. in diesem Falle Unbekanntschaft mit der historischen Situation, welche denselben hervorgerufen hatte. Die Kirchenversammlung wollte mit ihm eine konträre Lehre, die Boden zu gewinnen schien, verwerfen; das war ihr gutes Recht kraft der ihr zustehenden Lehrgewalt, und Luther hat in anderen Fällen dasselbe auch anerkannt. Der Beschluss der 8. Sitzung richtete sich gegen den Paduaner Professor Petrus Pomponatius, welcher die Sterblichkeit der Seele nach Aristoteles vorgetragen hatte; für die Kirche war in der That jener Beschluss von Bedeutung, zumal man der betr. päpstlichen Konstitution das Gewicht einer prinzipiellen Entscheidung über das Verhältnis von Theologie und Philosophie im Sinne der Unterordnung der letzteren gab. Luthers Gegner Eck hat hier schärfer gesehen, er gibt sehr klar an, dass der Beschluss sich gegen "gewisse Philosophen" richte (n110), und weist (111) ihm auch die angegebene prinzipielle Bedeutung unzweideutig zu. -- Es ist aber ungerechtfertigt, nunmehr Luther wegen seines Irrtums "theologische Ignoranz" vorzuwerfen, wie Hergenröther nicht unterlassen kann. Wie konnte der "Professor von Wittennberg", wie ihn Hergenröther nicht ohne Absicht nennt, von jener historischen Situation wissen, wenn er die Akten nicht kannte, und wie darf man ihm sein Urteil verübeln, wenn dasselbe in Deutschland das übliche war? Am 19. Dezember 1513 war jener Beschluss gefasst worden, und bereits am 29. März 1514 erwähnt ihn Scheurl aus Nürnberg in einem Briefe an Trutvetter in Eisenach, ja, setzt ihn schon als bekannt voraus: "wenn ich nicht glaubte, Ihr wüsstet schon, was die Lateransynode über die Unsterblichkeit der Seele festgesetzt hat, würde ich Dir des Längeren darüber schreiben". Es leuchtet ein, dass auch ihn der Beschluss ein ungeheuerlicher dünkt. Die Luther bekannte Satire Eccius dedolatus verhöhnte denselben in nicht misszuverstehender Weise, und die Luther gleichfalls bekannten Glossen Huttens zur Bannbulle spotteten auch über das Dekret des nescio quid conciliabuli ... animam esse immortalem. Man muss darauf verzichten, eine der genannten Schriften als Quelle für Luthers Aeusserungen in Anspruch zu nehmen, es genügt die (112) Feststellung der Thatsache, dass er mit seinen Aeusserungen innerhalb des Milieus steht.

Es darf auch nicht auffallen, dass Luther in der angegebenen Stelle in Grund und Ursach aller Artikel (cf auch WA 5,652) bez. in der Assertio den Konzilsbeschluss weiterhin dahin spezialisiert, es sei darin festgesetzt, die Seele sei die Form des Leibes. So hiess es thatsächlich in der päpstlichen Konstitution, allein ihr Inhalt muss auch ohne die Akten weiter bekannt geworden sein, da Scheurl in dem zitierten Briefe einen weiteren Punkt aus derselben, die Regelung des philosophischen Studiums, namhaft macht. --

In der Schrift contra malignum Eccii iudicium und weiterhin in der an den Adel (in Punkt 20) wirft Luther die Frage auf: "Welcher Geist hat dem Papst Gewalt gegeben, die Heiligen zu erheben?" Man wird nicht fehlgehen, darin eine Anspielung an einen Schluss zu sehen, den man, wie es scheint, aus den Dekreten des Conzils über die Papstgewalt gemacht hat. Das Konzil selbst hat über jenes Recht des Papstes nichts ausdrücklich bestimmt, aber wenn Crotus in einem Briefe vom 28. April 1520 dasselbe als nuper cognitum bezeichnet, so hat er dasselbe aus dem Lateranense erschlossen, und warum dann nicht auch Luther? Es möchte sogar sehr wahrscheinlich sein, dass auf Crotus' Brief die zweite Notiz Luthers zurückzuführen ist. --

Wenn Luther in den Glossen zu des Prierias Schrift unter den unfehlbaren Festsetzungen des Papstes auch erwähnt, man habe auf dem Lateranense beschlossen den Zehnten pro ventre Romano zu bezahlen, so geht das auf den Beschluss der letzten Konzilssitzung. Da die Verhandlung über diesen Punkt eine sehr bewegliche war, -- man äusserte, es sei doch schon schimpflich (113), eine allgemeine Kirchenversammlung mit einer Geldforderung zu schliessen -- wird es begreiflich dass Luther um das Endergebnis derselben weiss. --

Endlich spricht Luther in der Schrift an den Adel von einer auf dem Konzil erlassenen Gebetsvorschrift, dass "ein Priester je einmal im Monat sein Gebet zu sprechen schuldig ist, will er sein Lehen nicht verlieren". Er meint wohl eine Bestimmung der in der 9. Sitzung vom 15. Mai 1514 erlassenen Bulle supremae dispositionis arbitrio. Luther giebt ihren Inhalt aber nicht genau wieder, die mündliche Ueberlieferung, aus welcher er schöpft, wird davon die Ursache sein. Es hiess in der Bulle, Benefiziaten, welche 6 Monate nach Erlangung der Pfründe das Brevier nicht beten, sollen nach Verhältnis der Zeit der Unterlassung mit Verlust des Einkommens bestraft werden. Beharren sie bei ihrer Nachlässigkeit, so sollen sie nach vorgängiger Mahnung das Benefizium verlieren. Wer in 15 Tages das Brevier nicht mindestens zweimal rezitiert, gilt als derart strafbar, dass er der Prfünde beraubt werden kann. Das Konzil bestimmte also noch strenger, als Luther angiebt.

Sicherlich geht es auch auf die römische Kirchenversammlung, wenn Luther in der Assertio omnium articulorum zwischen die Aufzählung der beiden von ihm nach anderweitigen Aeusserungen auf das Konzil bezogenen Artikel einschiebt die Bestimmungen des Papstes se esse imperatorem mundi et regem coeli et Deum terrenum (WA 7,132 = ass03#65). Schon in Leipzig, sodann im Sendbrief an den Papst (WA 7,10) hatte Luther Gelegenheit gefunden, der Konzilsbeschlüsse zu gedenken, welche die Würde des päpstlichen Primates festlegten (WA 2,400; 405 = releip01#57; releip03#20). Es war auf dem Konzile oft genug, am meisten in den Eröffnungsreden, abe rauch in den Bulen, usgesprochen worden, dass die Papstgewalt über die ganze Welt sich (114) erstrecke; den König der Könige, den Monarchen des Erdkreises hatte den Papst einer der Redner bezeichnet, ein anderer hatte ihn den Gott auf Erden genannt, es mochte wohl Kunde von diesen Ueberschwänglichkeiten nach Deutschland gelangt sein.

Lassen sich für die letzerwähnten Punkte, soweit ich sehe, aus der zeitgenössischen Publizistik keine Parallelen beibringen, so findet sich andrerseits die bereits erwähnte Verhängung der Bücherzensur, von welcher Eccius dedolatus spricht, bei Luther nicht erwähnt; als man ihm den Beschluss nahelegte, hat er ihn missverstanden.

Der Gesamteindruck, welchen man aus der Erörterung der Aeusserung Luthers über das Laterankonzil gewinnt, ist der, dass dasselbe nur deshalb für Luther Bedeutung gewonnen hat, weil es in lebendigste Relation zu seinem religiösen Gedankenkreis sich setzte. Es war das jüngste Konzil, reichte hinein in die Zeit des inneren Werdens Luthers, und was bedeutete für ihn in der Periode seines ersten öffentlichen Auftretens ein Konzil! Es war für ihn die höchste Autorität d. h. letztlich Alles. Man sollte meinen, es hätte der Gedanke an das gleichsam miterlebte Konzil diese Autorität erschüttern müssen; das ist nicht der Fall gewesen. Es bedurfte innerste Kontraste von Konzilsbeschlüssen mit seiner religiösen Ueberzeuung, um diese Erschütterung hervorzurufen, das Costnitzer Konzil hat sie bewirkt; aber als nun die Autorität wankte, da halt das Laterense, das Wankende vollends zu stürzen. In ihm hatte Rom sich lächerlich gemacht; hatte ein Konzil so seine Infallibilität in bedenkliches Licht gesetzt, wer garantierte für die andern? zumal, wie das Lateranense selbst zeigte, eins wider das andere war? So wird es verständlich, wie Luther, nachdem die Konzilsautorität in Glaubenssachen gefallen war, nunmehr auf die Reformthätigkeit eines Konzils, wie es bisher sich zusammengesetzt hatte, überhaupt keine Hoffnung mehr (115) setzt und in der Schrift "von den guten Werken" -- unmittelbar nach der oben besprochenen Stelle über das Lateranense -- den ersten warmen Appell an die weltliche Macht richtet, an Kaiser, Fürsten und Städte, nun ihrerseits frisch die Sache in die Hand zu nehmen (cf WA 6,258). Das jüngste römische Konzil hat innerhalb der Entwicklung der Stellung Luthers zu Konzil und Kirche zwar nicht die bedeutsamste, aber eine sehr gewichtige Rolle gespielt.

Fra side 115, kapitel VIII.  Das Baseler Konzil.

Es sind nur wenige Notizon, welche Luther über die Baseler Kirchenversammlung bietet. Ueber den geschichtlichen Verlauf derselben, die Schwierigkeiten, unter denen sie entstand und sich behaupten musste, sagt er nichts, interessiert haben ihnnur einzelnen Konzilsbeschlüsse, und wiederum nur deshalb, weil er an ihnen eigenen Tesen erläutern oder stützen konnte. Die Konzilsakten sind ihm bekannt gewesen, er begründet in der Schrift de captivitate babylonica eine Aussage über die Kirchenversammlung mit den Worten: ut exstantes annales et literae concilii probant. (WA 6,507 = capt#73) Panzer in seinen Annales typographici giebt einen Basler Druck von 1499 und einen Hagenauer von 1500 an, man darf annehmen, dass Luther auch schon vor jener ausdrücklichen Erwähnung der Akten dieselben kannte, also mindestens schon 1518, in welchem Jahre in seinen Resolutionen zu den Thesen erstmalig das Konzil genannt wirt.

Luther verteidigt sich hier in Erläuterung seiner 26. These gegen den Einwand, dass Sixtus IV die Gewalt des Papstes bis ins Fegfeuer ausgedehnt habe, und man deshalb diese päpstliche Vollgewalt anerkennen müsse. Luther sagt: auch wenn der Papst (116) mit einem grossen Teil der Kirche so oder so dächte, ohne zu irren, so sei es noch keine Sünde oder Häresie, das Gegenteil zu denken, so lange nicht durch ein allgemeines Konzil nach beiden Seiten, positiv und auch negativ (approbatum alterum, alterum reprobatum) die Entscheidung formuliert sei. So denke z. B. die römische Kirche auch mit dem ganzen Baseler Konzil und fast der ganzen Kirche, die selige Jungfrau sei ohne Sünde empfangen, und dennoch, weil das Gegenteil nicht ausdrücklich reprobiert sei, dürfe man die nicht für Ketzer halten, die dieses (das contrarium) zu ihrer Meinung machen (WA 1,582f = res06#78). Zur Illustrierung seines Satzes, dass die Approbation der These noch nicht die Reprobation der Antithese in sich schliesse, konnte Luther kein treffenderes Beispiel wählen als die Frage dder immaculata conceptio, ja, es war sein Satz überhaupt nur in diesem einem Falle gültig, auf eine Verallgemeinerung würde sich die Curie schwerlich eingelassen haben, sie wiedersprach auch dem allgemeinen Wesen des Rechts, welches in der Dekretierung der Position die Reprobierung der Negation mitsetzt, und Luther selbst hat anderweitig seinen Satz nicht durchgeführt (cf z. B. wenn er WA 1,391 sagt: "Ein Ketzer heisst, der nit glaubt die Stück, die not geboten sind zu glauben". Hier wird die ausdrückliche Verdammung des Gegenteils des Gebotenen nicht erfordert). Sollte er seine ganze Argumentation etwa ironisch gemeint haben und seine Gegner mit Sixtus IV., den sie ihm vorhielten, selbst haben schlagen wollen, sofern bekanntlich dieser den streitenden Dominikanern und Franziskanern verboten hatte, die gegnerische Meinung zu verketzern, da die Kirche die streitige Frage noch nicht encschieden habe? Dann würd jene sachlich unmögliche Verallgemeinerung des Spezialfalles aud der Ironie verständlich. Unmöglich ist das nicht, wenn auch der Spott zum Tenor des Ganzen nicht recht passen will, um so weniger, als bald darauf dasselbe Argument sicherlich ohne Ironie wiederkehrt: aus scholastishcer Dialektik, die Verallgemeinerungen nicht scheut, begreifen sich ohnehin, (117) ernst genommen, die Worte. -- Wie dem auch sei, jedenfalls ist der Gedanke an Sixtus IV und sein Dekret, welches Luther aus dem geistlichen Recht bekannt sein mochte (Extrav. lib. III. tit. XII c. 2), das Primäre, veranlasst durch den gegnerischen Einwurf (cf schon WA 1,583 = res06#79), und das Basler Konzil tritt sekundär hinzu, weil es gleichfalls in jene Frage der immaculata conceptio sich geäussert hatte. In der 36. Sitzung hatte es einen diesbez. Beschluss gefasst. Es ist richtig, wenn Luther sagt, dass die ecclesia Romana etiam cum Concilio universali Basiliensi ac tota ferme ecclesia die unbefleckte Empfängnis annehme, wenn man nur das "cum" nicht presst in dem Sinne von "im Einverständnis mit", sondern lediglich addierend fasst und das "universali" auf Rechnung der Auffassung Luther setzt. Jener Beschluss nämlich ist nach der Translation des Konzils nach Ferrara bez. Florenz von den in Basel Zurückgebliebene gefasst, er galt für die römische Curie nicht als autoritativer Konzilsbeschluss, ebensowenig die Baseler Versammlung als Universalkonzil. Die Curie hat scharf zwischen Beschlüssen vor und nach der Trnalation unterschieden, Luther nicht. Ihm kam es ja nicht auf die Frage an, wie der Papst sich zu den betr. Versammlungen stellte, sondern lediglich auf diese selbst und ihre Beschlüsse. Er folgte hier, seiner ganzen theologischen Stellung entsprechend den Freunden der Idee der Konzilsautorität, welchen die Baseler Beschlüsse als legitim galten, ohne dass wir nachweisen können, dass er mit den "Warum?" sich ernstlich beschäftigte, wie man das überhaupt in Deutschland wenig that. In der Tradition, wie sie im Milieu des deutschen Volksbewusstsein umging, fiel zudem Baseler Konzil (118) Reformkonzil-Universalkonzil zusammen. Ob Luther durch das nur kurz zu tota beigefügte ferme die Differenzen der Dominikaner und Franziskaner andeutet? und ob er sie mit Absicht nur andeutet? Er hat doch wohl um sie gewusst.-- In etwas anderer Wendung hat Luther späterhin in seiner deutschen Verteidigung der in der Bannbulle verdammten Sätze sich auf jenen Beschluss über die immaculata conceptio berufen. Hat man trotzdem das "Concili, Bapst unnd das mehrer teil anders halten" die maculata conceptio nicht als Ketzerei bezeichnet, warum darf dann nicht auch er, Luther, in Dingen die zur Seligkeit nicht not sind, anders denken als der Papst mit seinem Anhange, solange die diesen gegenteilige Meinung nicht ausdrücklich durch ein Konzil verdammt sei? (WA 7,428). "Ja, Bauer, das ist ganz etwas Anderes" wäre die prompte Antwort eines Curialisten auf diese unter Ignorierung der geschichtlichen Verhältnisse lediglich auf dem guten persönlichen Recht basierte Argumentation gewesen.

Dient schon an der letztbesprochenen Stelle das Baseler Konzil nicht mehr lediglich dem Zweck der Erläuterung, so ist es vollends Rechtstütze geworden für Luther in seiner Verteidigung der böhmischen Abendmahlspraxis. In seinem "Sermon von dem hochwirdigen Sakrament des ... Leichnams Christi" hatte Luther erstmalig den Wunsch ausgesprochen, ein "gemein Konzil" möchte den Laien die communio sub utraque freigeben (WA 2,742). Das hatte ihm den Vorwurf böhmischer Ketzerei zugezogen, er beeilte sich, in seiner "Vorclerung etlicher Artikel" denselben von sich abzuwälzen (WA 6,78). Nicht nämlich um des Genusses von beiderlei Nestalt willen werden die Böhmen Ketzer gescholten, "dann die Romisch kirch hat dasselb vortzeyten, wie wissentlich ist, den Bemen zugelassen, was aber mag zugelassen werden, das ist nit und wirt nymer mehr Ketzerey sein mügen (ebda. 79). Diese Zulassung zn die Böhmen erfolgte im Baseler Konzil, Luther setzt sie als bekannt voraus. In de captivitate babylonica nennt er dasselbe ausdrücklich (WA 6,507 = capt#73) (119). Der Gedankengang bewegt sich nicht mehr ganz auf derselben Linie wie in der Verklärung etlicher Artikel, zofern er sich nicht sowohl mit dem Konzilsbeschluss seinerseits schützt als ihn vielmehr gegen Einwände ausspielt. Indem er -- ein wenig schärfer als früher -- betont, es sei gottlos und tyrannisch, die communio sub utraque unter allen Umständen verweigern zu wollen, weist er die Berufung Alvelds auf das Constanzer Konzil, welches die Entziehung des Laienkelches festgesetzt habe, zurück durch das Baseler Konzil. Wenn das eine gilt, warum soll nicht auch das andere gelten, quod contra statuit, Boemis licere utramque speciem suscipere? (WA 6,507 = capt#73) Luther hat die Akten nachgeschlagen, er verweist ausddrücklich auf dieselben, Alveld hat ihn dazu veranlasst, sofern er für seine Behauptungen das Basiliense neben dem Constantiense herangezogen hatte. (n119). Alvelds historische Ignoranz stellt Luther richtig.

Es kann nach dem Vorhergehenden nicht überraschen, dass, als die Bannbulle den Satz Luthers in seinem "Sermon von dem hochwirdigen Sakrament des ... Leichnam Christi" über die communio sub utraque verdammt hatte, Luther in seiner deutschen Erläuterung der Artikel derselben wiederum auf den Konzilsbeschluss sich berief. Er nimmt die böhmische Abendmahlspraxis in Schutz: "warumb sollt ich denn leiden, dass die Böhmen oder jemand anders drob Ketzer gescholten wurden, ob sie beider Gestalt niessen? Dazu ist's zu Basel im Concili beschlossen, dass sie recht thun" (EA 24,110; WA 7,395 = assty04#16).

Gemeint sind mit dem Konzilsbeschluss die bekannten Prager Compactate vom 30. Nov. 1433. Es ist durchaus sachentsprechend (120) wenn Luther auf Grund der Einsichtnahme in die Akten behauptet, dass multa disputatione der Beschluss durchgedrückt worden sei. Sowohl das Zustandekommen des Compromisses wie die Durchführung desselben, die sich bis zur Iglauer Tagung am 5. Juli 1436 hinzog, hatte "Disputationen" genug gekostet.

Ebenfalls eine richtige Beobachtung verrät es, wenn Luther in der Schrift "von den guten Werken" die Forderung nach einem "gemeinen Konzil" ablehnt durch den geschichtlichen Hinweis, es sei auf den bisherigen Konzilien, unter denen er das Baseler neben dem Konstanzer und dem jüngsten Lateranense namhaft macht, nichts erreicht worden, vielmehr habe sich die Situation verschlechtert (WA 6,258). Trotz der beschlossenen Reformdekrete hatte sich faktisch nichts geändert, die Wirkungen des Konzils auf weite Massen ruhten nicht auf diesen, sondern auf der kirchenrechtlichen Entscheidung über die Superiorität des Konzils über den Papst. --

Bekanntlich war die, die Luther überzeugt war, Christlichkeit der Griechen Hauptgrund für ihn, das Papsttum iure divino zu leugnen. An dem darüber entbrannten Streit ist sein Interesse für die anatolische Kirche rege geworden. Eck betonte in Leipzig, dass die Griechen auf dem Florentiner Unionskonzil das Fegfeuer anerkannt hätten (WA 2,326 = eck08#23) -- mit Recht cf Hefele VII 745 -- Luther ging kurz darüber hinweg damals (cf WA 2,329 = eck08#42), es wird aber damit zusammenhängen, dass er bald darauf vielmehr anzugeben weiss, die Griechen leugneten das Fegfeuer und sollten auf dem Baseler Konzil trefflich Rechenschaft über ihren Glauben abgelegt haben. Eine bestimmte Quelle für (121) diese Notiz lässt sich nicht angeben, das feruntur spricht für mündliche Ueberlieferung. Vielleicht steht mit dieser Berufung auf die Griechen in der Fegfeuerlehre in Verbindung, dass Luther die Herausgabe von Aktenstücke des das Basiliense fortsetzenden Florentiner Unionskonziles plante; vermutlich wollte er das Recht seiner Berufung auf jene damit urkundlich darthun; doch lässt sich leider nichts Näheres angeben.

Der Geringfügigkeit der Notizen Luthers über das Baseler Konzil entspricht seine, soweit ich sehe, seltene Erwähnung in der zeitgenössischen Litteratur. Die kurialistischen Litteraten mochten Ursache haben, bei dem Tendenzcharakter, den das Konzil in der Ueberlieferung angenommen hatte, mit der Erwähnung desselben keinen Staub aufzuwirbeln, und wenn einer derselben, Emser (n121), es gegen Luther ausspielt, so geschieht es in einer Frage, die des Beifalls auch der Opponenten gegen die Curie sicher sein konnte. In Reuchlins und Huttens Munde wird die Nennung des Konzils nicht befremden, und dass ein Johannnes Slechta an Erasmus über die Geschichte seiner Landsleute auf der Kirchenversammlung berichtet, begreift sich von selbst; er (122) erwähnt u. a. den bei Luther begegnenden Beschluss über die communio sub utraque. Thomas Rhadinus giebt jedoch wohlweislich einen auf dem nach Florenz übertragenen Konzil gefassten Beschluss, die Beichte betreffend, an.

Die Bedeutung des Basiliense für Luther ist eine ähnliche wie die des Laterankonzils. Die Negierung des Baseler Beschlusses über die Abendmahlspraxis gab Luther einen Beweis von der curialistischen Politik, die Konzilsautorität ihren eigenen Zwecken unterzuordnen. "Was dampt denn diese Bulle auch ihr eigen Concili?" ruft er dem Urheber der Bannbulle zu (EA 24,110 = assty04#16). Der Streit mit Alveld gab ihm dann deutlich zu erkennen, dass jener Baseler Beschluss einem Constanzer conträr war und letztlich der Wille des Papstes hier die Entscheidung gab (WA 6,507 = capt#73). Das musste dazu beitragen, und hat es gethan, dass Luther sich von der Konzilsautorität, die er im Prinzipe in Leipzig 1519 aufgegeben hatte, völlig loslöste und auf die Schriftautorität sich zurückzog.

Her fra side 168, fra kapitlet Das Constanzer Koncil und Johann Huss.

Seine [Luthers] frühesten Aesserungen spiegeln in dieser Sache den getreuen Sohn der römischen Kirche. In seinen Vorlesungen über den Psalmen 1513-1516 hat er wiederholt Veranlassung genommen, von den Böhmen zu sprechen, er rangiert sie in die gleiche Reihe mit den Ketzern, nur dass es ihn besonders bitter berührt, dass die böhmischen Ketzer der Deutschen Nachbarn sind. Er bespricht z. B. das Psalmwort: Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und meint, es sei bedeutungsvoll, dass um Besserung des Herzens gebeten werde, weil dort der Sitz der superbia sei; man könne wohl leicht äusserlich sündlos sein, aber die Herzensbefleckung verunreinige dann um so mehr. "So waren ohne Zweifel gewisse (169) Häretiker, die sehr keusch lebten. Und heute sind die Böhmen, unsere Nachbarn, die in allen Dingen der Reinheit fast uns übertreffen, mit Ausnahme des Herzens, welches Hochmut befleckt, und das ist des Teufels Lieblingsspeise. (WA 3,292) Gewiss ist beachtenswert, dass Luther die böhmische Sittenstrende lobt, aber die äussere Tugendhaftigkeit wird auch an den übrigen Ketzern gelobt. Der Vorwurf der superbia ist das Entscheidende, und der trifft auch die Böhmen. "Während die Stolzen in ihrem Hochmut (superbia) uns Schwache verspotten, verspotten sie in Wahrheit sich selbst (sofern sie nämlich vom Teufel irre geleitet sind)." "O dass dich die Ketzer das bedächten, unsere Pigharden, unsere Nachbarn!" so sagt er bei Auslegung von Psalm 59 (WA 3,334). Zu Psalm 119 bemerk er: "So giebt es auch jetzt stolze (superbi) und allzu heilige Ketzer, die allzu viel auf ihre Verdienste hoffen, mehr als auf Gottes Wort. Christus wollte nicht nur unter die Uebelthäter gerechnet werden, sonder auch sterben und gekreuzigt werden, und nun will ein Pigharde allein unter die Gerechten gerechnet und für heilig gehalten werden! er will also mehr sein als Christus!" (WA 4,361) -- Hier erfährt man den speziellen Lehrpunkt, gegen welchen der Vorwurf der superbia sich richtet, gegen die Forderung der sittlichen Gutbeschaffenheit der Priester, wie sie die Böhmen erhoben, und nun weiss man, dass die "Ketzer" mit welchen Luther jene in gleiche (170) Linie setzt, die Donatisten vor allem sind, deren Charakteristikum für Luther das Postulat der sittlichen Heiligkeit der Gläubigen ist und ass sein historisches Urteil über die "Reinheit" der Böhmen von jenem Lehrpunkt aus gefasst ist. Von seinem Sündenbewusstsein aus -- vergl. die mystisch gefärbte Herabziehung Christi unter die Sünder -- hat Luther den Hussitismus verworfen, es ist interessant zu beobachten, dass an jenem Punkte die überlieferte Beurteilung der Böhmen für ihn aktuell wird: denn mit genialer Intuition hat er den dogmengeschichtlichen Kernpunkt der böhmischen Bewegung damit getroffen. Aus dem Widerspruch der Thatsachen mit den Idealen, die der Klerus aufstellte, sind die mittelalterlichen Reformbewegungen entstanden, darum greifen sie nahezu alle zu der Forderung des vollkommenen Lebens.

Gewiss hat Luther damals noch weitere Differenzpunkte gekannt, er weiss, dass man über die Sakramente und den Primat der römischen Kirche streitet, aber darüber referiert er nur nebenbei, ein Beweis, dass sein religiöses Interesse -- denn dieses haftete damals allein an der Sünden- bez. Gnadenlehre -- der Massstab seiner geschichtlichen Beurteilung ist. Daher stehen auch selbst jene referierenden Bemerkungen in einem Zusammenhang, der (171) letzlicht wiederum auf den Vorwurf der superbia hinausläuft. In einer Predigt auf Petri Kettenfeier 1516 sagt er: mag man sich noch so sehr grosser Erleuchtungen und wunderbarer Werke rühmen, wie unsere Piccarden und ander Schismatiker, das gilt nichts dem gegenüber, dass man sich von der Einheit und Ordnung der Kirche trennt. (WA 1,69)

Man sieht, die Ketzerei der Böhmen steht Luther fest. "Die Böhmen haben die ganze römische Kirche verdammt und halten Alles, was man an Gehorsam ihr thut, für Sünde" sagt er einmal. (WA 4,77) Ein klares Bewusstsein der böhmischen Parteiunterschiede hat Luther noch nicht besessen, die Böhmen waren ihm allesamt qua solche Ketzer. Es lässt sich nicht absehen, dass er unter den Piccarden speziell die Brüderunität verstand, wie es in Böhmen Sitte war, ihm wechseln die Begriffe Bohemi und Picardi ohne Unterschied ab. --

Und doch hat Luther einmal, auch in der Psalmenvorlesung, einem Ausspruch gethan, der ahnen lässt, dass eine neue Beurteilung der Böhmen möglich werden konnte. Er knüpft an ein Psalmwort eine klare Erläuterung des kirchlichen Traditionsbegriffes als Entwicklungsprinzipes. Implicite, so sagt er, ist von Anfang an die volle Wahrheit in der Kirche vorhanden, aber nicht explicite; sie ist verhüllt und wird erst in einer Stufenfolge von Entwicklungen offenbart, sodass die Kirche von einer Wahrheit zur anderen fortschreitet. (WA 4,345) Nun aber pflegen die Menschen am Aeusseren zu haften, wollen nur das, was sie explicite an Wahrheit besitzen, gelten lassen und sträuben sich daher gegen neue Wahrheiten, weil sie dieselben nicht als Manifestationen der Entwicklung eines ihrem Wahrheitsbesitz immanenten (implicite) Prinzipes anzuerkennen vermögen. So haben es die Böhmen gemacht; sie sind Ketzer, weil sie auf altem Standpunkt stehen geblieben sind, nicht fortschreitend mit der Entwicklung der Wahrheit. Vom Traditionsprinzip aus musste Luther so urteilen. Aber wie nun, wenn dieses fiel? Wenn er nun selbst zurückgriff auf die frühesten Wahrheitstufe explicite? Standen dann die Böhmen dieser nicht näher als die Kirche mit ihren jüngeren und jüngsten "veritates"? (Luther nennt die immaculata conceptio solche nova veritas). -- Und enthielt denn die Rangierung der Böhmen innerhalb der Auswicklung der Wahrheit nicht die Anerkennung von Wahrheitsmomenten bei ihnen? Er bezeichnet die Sakramentslehre und die Stellung zum römischen Primat als antiquiert bei den Böhmen, wie, wenn er nun selbst an den hier eingenommenen Positionen Roms rüttelte, musste er dann nicht mit den Böhmen sympatisieren? So ahnt man die künftige Entwicklung; obwohl er es selbst nicht gemerkt hat, wird die Starrheit des Ketzerbegriffes den Böhmen gegenüber durchlöchert.

Nicht Luther selbst hat die erste Annäherung an die Böhmen gesucht, seine Gegner waren ihn mit den Ketzern in Verbindung zu bringen bemüht. Tetzel ist der erste gewesen. (Also nicht Eck, wie man gewöhnlich annimmt). In seiner "Vorlegung wyder einen Sermon von ablas und gnade" stellte er Huss und Wiclif als Ketzertypen hin: insbesondere hätten sie die Satisfaktion und die "sakramentierliche Beichte" geleugnet, in seinem 13ten Artikel (WA 1,245) stimmte Luther mit ihnen überein. (tetzaflad1#5). Die Absicht Tetzels leuchtete ein: Luther in den Verdacht böhmischer Häresie zu bringen und dadurch selbst zum Ketzer zu stempeln. Es ist ihm nicht gelungen; wie die ganze Tetzelsche Affäre in (173) Miskredit kam, so drang auch jener Vorwurf nicht durch. Auch des Prierias Vorwurf, Luther wolle wohl nach Böhmen ziehen und ein neues Schisma hervorrufen, (WA 2,51) hatte keine weitere Wirkung. Luther selbst hat sich dadurch nicht anfechten lassen, seine Bemerkung, dass die Böhmen alle Sakramente gelten lassen (WA 1,312), ist gegen Eck gerichtet und will nicht als Sympathiebeweis verstanden werden, er wusste sich von böhmischer Ketzerei völlig frei, indem er jede Beziehung zu den Böhmen ablehnt. (cf WA 1,425: 555 = res04#11) Nach wie vor sind ihm die Pikarden "unglückselige Ketzer", ja Typus der Ketzerei (WA 1,425; 286; 312; 506), nur verschiebt sich entsprechend der Neigung des religiösen Interesses der Ansatzpunkt seiner Polemik. Charakteristisch für die Böhmen ist ihm jetzt ihre Verwerfung des Fegfeuers (WA 1,292; 555f) oder der Heiligenverehrung (WA 1,426). -- Es scheint, als habe Luther in der damaligen Zeit erstmalig litterarische Produkte der Böhmen in Händen gehabt. In der lateinischen Erklärung der 10 Gebote sagt er bei Besprechung des ersten Gebotes, die Böhmen rühmten sich als wenn sie allein den einen Gott verehrten und "überschwemmen uns mit einem Haufen von Schriftstellen, in denen sie verbieten mehr als den einen Gott anzubeten, als wenn wir das je gehindert hätten!" Und auch die Stelle in den Resolutionen, da er angiebt, die Pikarden behaupteten zu der Zeit der Apostel habe es kein Fegfeuer gegeben (WA 1,555f. Diese Stelle bespricht Catharinus in seiner zweiten Schrift gegen Luther Bl. 102), dürfte kaum aus mündlicher Ueberlieferung geflossen sein. Wird sich die von Luther benutzte Schrift eruieren lassen? Der Versuch wenigstens sei gemacht. Huss' Schriften müssen ausscheiden, so gern man auch zunächst an seine "Auslegung der 10 Gebote" denken möchte; nicht nur, weil spätere Aeusserungen Luthers beweisen, dass er damals noch nichts von Huss kannte, sondern insbesondere, weil Luther an der zweitgenannten Stelle den Ketzer als haereticus vix quinquaginta (174) annos nuper natur bezeichnet. Das passt für Huss nicht (Wenn Luther von der hussitischen Bewegung spricht, sagt er, Bohemi nondum centum annorum, cf WA 2,280f), es stimmt aber vortrefflich zu dem Alter der Brüderunität, die sich 1467 -- Luther schreibt 1518, da kämen 51 Jahre heraus -- konstituirte. Somit wird die Schrift in den Kreisen dieser zu suchen sein. Dann aber wird man die Stelle heranziehen dürfen aus Luthers Schrift "Verklärung etlicher Artikel in dem Sermon von dem h. Sakrament" 1520, an welcher Luther von einem Buch der Pikarden, d. h. jetzt für ihn: Brüderunität, das er gesehen, spricht. (WA 6,80). Es hindert nichts, dieses Buch mit dem zu identifizieren, aus welchem die obigen Aeusserungen stammen sollen. Dann aber muss es eine Schrift gewesen sein, in welcher die alleinige Anbetung Gottes als schriftgemäss erwiesen wurde mit Polemik gegen Heiligenkult, die Apostolicität der Fegfeuerlehre und die Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl geleugnet war und "noch ettlich mehr ketzer stück" sich fanden. Zezschitz in seinem Buche "die Katechismen der Waldenser und böhmischen Brüder" (Erlangen 1863) glaubte das in Luthers "Erkläring etlicher Artikel" erwähnte pighardische Buch wiedergefunden zu haben in dem tractatus cujusdam (ut putant) Boëmi .. in utraque lingua adversus tyrannidem Romanae curiae, von welchem Luther in einem Briefe an Johann Lang vom 18. Dezember 1519 spricht. Aber abgesehen davon, dass bei dieser Annahme eine besondere Quelle für die dem Jahre 1518 zugehörigen Notizen gesucht werden müsste, will sich die sehr unbestimmt gehaltene Aeusserung in dem Briege an Lang nicht mit der bestimmt ausgesprochenen Erklärung, (175) dass er sich um ein pighardisches Buch handle, von dessen Lehrinhalt Luther sogar etwas anzugeben weiss, vertragen. Auch die Conclusiones Bighardorum oder selbst die sog. Kinderfragen, Bücher, die Luther damals schon gekannt haben könnte, wenn er auch später erst sich über sie äusserte, können nicht in Betracht kommen, weil in ihnen die Charakteristika sich nicht finden, die das zu suchende Buch nach Obigen haben muss. Vortrefflich aber würde die sogenannte Excusatio Fratrum Waldensium contra binas literas Doctoris Augustini datas ad Regem 1508 passen. Hier nämlich wird gegen den Heiligenkult schaft polemisiert, schärstens hervorgehoben, dass man nur Gott allein anbeten dürfe und durch eine Fülle von Bibelstellen dafür Beweis geführt. Von dem Fegfeuer heisst es: scriptura sacra non dat de hoc testimonium, de quo primitiva ecclesia nihil scivit neque sequaces per longum tempus -- zweimal wird ausführlich die bekannte Abendmahlslehre der Brüder vorgetragen und deutlich das betont, was Luther an der genannten Stelle als häretisch bezeichnet, Christus non est hic [in Abendmahle] cum corpore naturali, mansione existenter et corporaliter, cum suo substantialo assumpto corpore, quocum sedet nunc ad dexteram dei, non potest multiplicari, u. a. Endlich war über die Existenz der Seele nach (176) dem Tode, die constitutiones humanae, die Jungfrau Maria in einer Weise gesprochen, die Luthers Urteil über "ettlich Ketzerei mehr" begreiflich erscheinen lässt. --

Mit den Resolutionen zu seinen Ablassthesen beginnt eine Verschiebung des Verhältnisses Luthers zuy den Böhmen. Sie ist bedingt dadurch, dass Luther unter dem tieferen Eindringen in die kirchlichen Schäden und unter dem wachsenden Widerspruch, den sein Tadel, dessen Berechtigung er für selbstverständlich gehalten hatte, erfuhr, leise anfängt, nicht mehr nur die ihre Aufgabe falsch erfassenden Diener der Kirche, sondern diese selbst verantwortlich zu machen. Unter diesen Bedingungen beginnt Luther allmählich Verständnis für die Böhmen zu gewinnen: zunächst freilich derart, dass er gleichsam die Eifersucht der Kirche wachzurufen sucht, indem er ihr vorhält, dass sie den Böhmen Anlass zu Tadelungen biete. Bleibt er damit noch auf Seite der Kirche, so st doch unverkennbar, dass nur ein kleiner Schritt von hier hinüberführte zur Anerkennung böhmischer Lehren. Dann aber musste auch ihre Einrechnung unter die "Ketzer" fallen, die zunächst noch festgehalten und inhaltlich dahin vermehrt wird, dass zu den genannten Punkten nur an der Vernunft normierte Schriftinterpretation kommt (WA 1,696) -- wohl ein Schluss, den Luther aus der Art des biblischen Beweismaterials der Böhmen für ihre Ablehnung der Heiligenverehrung gezogen hatte.

Mit Bezug auf die Lobpreisungen der Ablassgnaden in der Instrucitio summaria äussert er: "Mich schmerzt es, dass nun auch unseren ketzerischen Nachbarn, den Pikarden, Gelegenheit (177) geworden ist, mit Grund -- also alle andren Beschuldigungen hält er noch für unbegründet -- die römische Kirche anzuklagen, wenn sie hören, dass solches in ihr gelehrt wird. (WA 1,589 = res07#43). Und als er sich scharf ausspricht gegen die kirchliche Strafpraxis des Verbrennens der Ketzer an Stelle sachlicher Ueberwindung, fügt er bei: Und diese Gedanken erwähne ich deshalb, damit nicht die Pikarden, unsere Nachbarn, die Ketzer, das unglückselige Volk, das seine Freude hat an römischen Schmutz wie der Pharisäer über den Zöllner, aber kein Mitgefühl, damit sie nicht glauben, wir wüssten nicht um unsere Fehler und Flecken, und allzusehr über unser Elebd triumphieren, wenn wir uns den Anschein des Verschweigens und Billigens geben". (W 1,625 = res10#82) -- Von welcher Seite aus nun jener Appell an das Ehrgefühl der Kirche sich in Anerkennung der Böhmen umwandeln würde, schimmert durch in eine Aeusserung Luthers, die seine seit den Resolutionen veränderte Position gleichsam auf ein Prinzip bringt, deren letzte Konsequenzen den römischen Kirchenbegriff stürzten. In der Erörterung über den thesaurus indulgentiarum sagt er, weder durch Schrift- noch Vernunftgründe können eine derartige Lehre approbiert werden, sondern lediglich durch Kirchenautorität. Das aber heisse die Kirche dem Spott der Ketzer preisgeben. "Denn was kümmert diejenigen, welche die römischen Kirche nicht folgen, wie die Ketzer, die Pigharden, eine Kirchenentscheidung? Wenn sie nun mit Vernunftgründen oder sonstige Autorität kommen, wie will sich die Kirche wehren?" (WA 1,608 = res09#52) -- Offenbar wird hier die "Kirche" auf eine breitere Basis gestellt, als es die römische Kirche von ihren Prinzipien aus vertragen konnte. Letztere dekretierte, ohne sich um die Häretiker zu bekümmern; Luther hingegen mit seinem Wunsche nach Argumentation, die auch für die Ketzer gilt, bringt die Kirche in ein Rücksichtsverhältnis zu denselben. Damit aber beginnt die Hierarchie, deren Macht in ihrem rücksichtslos geltend gemachten Willen liegt, erschüttert (178) zu werden, es löst sich von ihr ab eine -- zunächst für Luther noch nicht definierbare -- Gemeinschaft, due auf allgemein anerkannte Autoritäten -- zu denen Luther auch die Schrift rechnet -- gegründet ist. Prinzipiel aber war damit Raum gewonnen für Einbeziehung der "Ketzer" in die neue Gemeinschaft; denn von dem, was sie zu Ketzern stempelte, war mit den Satzungen, die Rom von sich aus aufgestellt hatte, das Meiste gefallen. Jetzt war der Punkt erreicht, wo Thatsache werden konnte, was oben als eventuelle Möglichkeit erschien. Vom neuen Kirchenbegriff aus musste sich die Anerkennung der Böhmen durch Luther vollziehen: in Leipzig hat sie sich vollzogen.

Bekanntliche liess Eck, nachdem er schon vorher versteckte Anspielungen auf die Verwandtschaft Lutherscher Gedanken mit hussitischer Ketzerei gemacht hatte, in der Leipziger Disputation die Gelegenheit sich nicht entgehen, bei dem Streite um den päpstlichen Primat Luthers Position in Verbindung mit der böhmischen Häresie, wie sie zu Constanz verdammt war, zu bringen. Er nahm damit die von Tetzel und Prierias versuchte Machination in umfassender und raffinierterer Weise auf. Zunächst zählt er einige zu Constanz verdammte Sätze auf, bittet Luther gleichsam um Verzeihung, dass er die Ketzer in die Disputation einführe, um dann aber eine verzweifelte Aehnlichkeit der Lutherschen Behauptungen mit den Böhmen zu konstatieren. (WA 2,275 = eck03#41). Luther hat die Beleidigung, welche in Ecks Worten für ihn liegen musste, sofern sie ihn bei der gesamten Zuhörerschaft dieskreditierte, wohl gefühlt und weist sie entrüstet zurück. Aber unverkennbar ist seine Zurückweisung mehr formell als sachlich. Der strittige Punkt wird verklausuliert und das "Unrecht" der Böhmen herübergespielt ins ethische Gebiet, die Verletzung der Liebe und Einheit des Geistes infolge ihres Schismas. "Auch wenn die Böhmen in der Frage nach den ius divinum Recht hätten," so, hypothetisch, beginnt er, um alsbald auf die Stellung der Griechen zu jener überzuspringen. Nur zum Schlusse, gleich als wollte er noch einmal seine Orthodoxie dokumentieren, kommt er nochmals (179) auf die Böhmen zu sprechen: Wenn das Papsttum iure divino bestände, so wären alle Griechen "böhmische Ketzer". (WA 2,276 = eck03#47) -- Doch Eck war nicht der Mann, sich durch Worte täuschen zu lassen; (eck04#13) er merkte die Schwäche der Lutherschen Argumentation, und so forderte er Luther auf, er möge doch gegen die Böhmen schreiben, wenn er so sehr gegen sie sei. Luther wiederholte zunächst seinen Protest, suchte auszuweichen, erklärte, er habe es nur mit der Stellung der griechischen Kirche zu thun; dann aber brach die nur mühsam aufrecht erhaltene Zurückhaltung, und Luther sprach offen aus: "Unter den Artikeln des Johann Huss oder der Böhmen sind viele sehr christlich und evangelisch, welche die Kirche nicht verdammen kann, wie der: es ist nicht heilsnotwendig zu glauben, dass die römische Kirche anderen überlegen sei" (eck04#3) oder der: "die päpstliche Würde stammt vom Kaiser". (eck04#8) Und jetzt dreht Luther den am Morgen geäusserten Satz um und sagt: "Wenn die Böhmen Ketzer sind, weil sie den römischen Bischof nicht anerkannt haben, so ist Eck auch, der die Griechen zu Häretikern macht". (WA 2,280 = eck04#10) -- So war die nur noch künstliche Einheit, in welcher sich Luther mit der Kirche geglaubt hatte in Beurteilung der Böhmen, gebrochen. Jetzt war von der römischen Kirche mit Bewusstsein eine neue Gemeinschaft abgesprengt -- Luther nennt sie die communio sanctorum (WA 2,279 = eck04#3) -- und wenn ein hussitischer Satz dieselbe vertreten hatte, so gehörten damit faktisch die Böhmen mit hinein in diese Gemeinschaft, mochte auch Luther zunächst noch in Nachwirkung (180) traditioneller Anschauung sie als Schismatiker beurteilen. Thatsächlich war diese Beurteilung der Separation überwunden mit der Aufstellung des spirituellen Kirchenbegriffs, wie er damals bei Luther sich gebildet hatte. Es war ausserordentlich kühn, einen von der Kirche in aller rechtlichen Form verurteilten Ketzer für "sehr christlich" und "evangelisch" zu erklären; er hatte sich dadurch als mit jenem solidarisch bezeichnet, war also in den Augen der Kirche selbst Häretiker. -- Luther war sich selbst nicht über alle Konsequenzen seines kühnen, im Affekt gesprochenen Wortes klar. Eck sah wiederum hier schärfer. Auf einem Konzil war Huss verurteilt; wer also den Ketzer auf die Stufe der Christlichkeit erhob, verwarf damit das Konzil, und in den Augen der Kirche war es, man möchte sagen ein handgreiflicheres Vergehen, die Konzilsautorität zu leugnen, als einen Ketzer für christlich zu halten. Gewiss emanzipierte sich die Kurie in praxi von konziliarer Normierung, aber rechtlich angesehen, blieb das Konzil oberste Entscheidungsinstanz, und wer es verwarf, verwarf letztlich die Kirche. Und nun handelte es sich um das Constanzer Konzil! eine Kirchenversammlung, deren Glanz noch in Luthers Zeit hinüberleuchtete. Mochte freilich die Curie selbst um der Souveränetät des Papsttums willen dasselbe desavouiren, in den Augen der Menge war es ungeheuerlich, das "hochheilige" Konzil anzuzweifeln. Darauf rechnete Eck, und Luther war noch ein zu getreuer Sohn seiner Kirche, um zu replizieren, dass die Curie selbst in der Frage der höchsten kirchlichen Autorität das Constantiense verwerfe. -- Scheinbar gleichgültig zieht Eck die Konsequenz aus Luthers Worten: "der verehrenswerte Vater hat gegen das Constanzer Konzil behauptet, einige Artikel des Huss (181) und Wiclif seien christlich". Entrüstet fiel ihm Luther in die Rede: "es ist nicht wahr, dass ich gegen das Constanzer Konzil gesprochen habe". Gewiss, formell hatte er das nicht, aber die Logik Ecks war zwingend. Und Eck ging weiter: wenn ein Konzil in einigen Artikeln geirrt hat, so kann es auch ein mehreren geirrt haben, d. h. die Unfehlbarkeit des Konzils ist unhaltbar. (WA 2,284 = eck04#41f) Luther liess sich die Anerkennung dieser Folgerung wiederum abringen, die überkommene Anschauung von der Hoheit der Konzile haftete noch bei ihm fest; (n181) so meint er zunächst, jene "christlichen" Artikel seien zu Constanz nicht verdammt, sondern betrüglich in die Akten eingeschoben worden; dann lenkt er ein wenig ein: das Konzil nenne nur einige häretisch, andere irrig, wieder andere blasphemisch oder verwegen (WA 6,600), da sei es zum mindesten fraglich, ob die in Rede stehenden in die Kategorie der ersteren gehörten, vielleicht seien sie nur als temerarii gekennzeichnet, und diese Kennzeichung könne auch der Wahrheit begegnen, wie sie Christus begegnet sei. Die Sophistik dieser Unterscheidung (n181a) kennzeichnet deutlich das verzweifelte Bemühen Luthers, die Konzilsautorität zu halten. Doch Eck führt die Quellen und Vernunftgründe (n181b) für die Unmöglichkeit einer Unterschiebung falscher Artikel ins Feld und macht geltend, dass selbst wenn die betr. Artikel nur temerarii wären, das doch etwas ganz anderes sei als christianissimi et evangelici. Die Logik war wiederum auf Ecks Seite, ebenso, wenn er immer wieder seine Worte auf die Frage nach der Unfehlbarkeit der Konzilien hinausspielte (n181c). Und so gab denn Luther endlich die Erklärung ab: "das behalte ich mir vor -- und man muss es (182) sich vorbehalten, -- dass ein Konzil mitunter geirrt hat und irren kann (eck06#39). Eck versäumte nicht zu antworten: "wenn Ihr glaubt, en rechtmässig versammeltes Konzil irre und habe geirrt, so steht Ihr mir gleich dem Zöllner und Heiden". (eck06#95). Luther mochte über sein kühnes Wort erschrocken sein, er bog ein: "vom Konzile ist nicht die Rede, es handelt sich um das ius divinum". (eck07#1) Doch weiss er jetzt auch einen sachlichen Rückhalt geltend zu machen: er spielt Konzil gegen Konzil aus, das Nicänum gegen das Costnitzer: Stützt Eck sich auf dieses, so fällt er hinsichtliche des Nicänums demselben Vorwurfe anheim, wie er ihn gegen Luther hinsichtlich des Costnitzer Konzils erhebt; das grössere Recht aber liegt bei Luther, weil jenes ehrwürdiger ist als dieses. (WA 2,313 = eck07#1) Dann lenkte er noch weiter ein und erklärte in Glaubenssachen wenigstens irre Konzil und Kirche nicht (WA 2,339 = eck09#54). --

Man schoss ab über diesen Punkt. Eck unterliess nicht, in der Behandlung der nun folgenden Fegfeuermaterie Luthers Ansichten als "pikardenfreundlich" zui bezeichnen (WA 2,323 = eck08#7). Luther wies mit energischer Behauptung der Realität des Purgatoriums kurzer Hand jeder Verdacht ab (WA 2,324 = eck08#10), hier also ganz auf seinem früheren Standpunkt beharrend. Eck wiederholte noch ein zweites Mal seinen Vorwurf (WA 2,335 = eck09#18), Luther hielt eine Replik nicht mehr für notwendig. --

Ein letztes Mal zog Eck das Constanzer Konzil in die Debatte bei Erörterung des Ablasswesens; er behauptete, dasselbe habe unter seinen Artikeln auch die Verachtung des Ablässe verdammt (n182); (183) die Folgerung zu ziehen: also ist Luther mit seiner Verachtung derselben ein Gegner des Konzils, überliess er dem Publikum. Aber Luther parierte: "ich habe niemals die Indulgenzen verachtet oder ihre Verachtung gelehrt, ich habe nur gesagt, man könne das Geld besser verwenden, aber prerogativa melioris non est contemptus deterioris" (WA 2,347 = eck10#26). Den von Eck geäusserten Gedanken, dass das Konzil selbst seinen Teilnehmen Ablass verteilt habe, überging er klugerweise. Wohl oder übel musste Eck die Luthersche Abwehr gelten lassen; er unterliess aber nicht die Bemerkung, dass Luther in früheren Schriften sich nicht so massvoll geäussert habe (WA 2,351 = eck11#4). --

Bei dem letzten Verhandlungspunkte, über die Busse, was es jedoch Luther selbst, der das Constantiense heranzog, zu seiner Unterstützung. Indem er, die Streitfrage erweiternd, die Reservationen verwirft, spricht er aus, auch das Konzil habe jene Reservationen verdammt; allzu grossen Wert wolle er freilich darauf nicht legen (WA 2,379 = eck13#48). --

Überblicks man die Leipziger Disputation, so ist der Fortschritt in Luthers Stellung zu den Böhmen evident. Die Persönlichkeit ihres Nationalhelden ist in den Vordergrund gerückt, vom Kirchenbegriff aus ist er ihm nahegekommen, indem er seinen Kirchenbegriff bei ihm wiederzufinden überzeugt war. Mit der Anerkennung des Huss aber fiel die Autorität des Costnitzer Konzils, zugleich aber rückte es damit in Luthers Interesse. -- (184)

Welches sind Luthers Quellen gewesen? Viel hatte Luther offenbar bisher über Huss und das Constanzer Konzil nicht gelesen, erwähnt hat er sie wenigstens nicht. Mehr gelegentliche Notizen oder Aeusserungen der Gegner mögen ihm Kenntnis vermittelt haben; vielleicht mag er auch in jener Zeit "inn den ersten tractetlin" des Erasmus von Rotterdam, die später noch in seinem Besitz waren, gelesen haben: "Johannes Hus ist exustus non mortuus das ist Johannes Huss ist verbrandt und noch nie überwunden" (n184) und seine Gedanken darüber gehabt haben, aber Genaueres war auch das nicht. Er erwähnt in frühester Zeit (WA 1,446f; EA 45,242; WA 7,567) -- im Magnificat hat er sie später wiederholt -- eine erbauliche Geschichte von zwei zum Constanzer Konzile reitenden Cardinälen, denen ein Hirte als Muster der Demut erscheint, weil er weint, dass er Gott noch nie gedankt habe, dass er ihn nicht auch zu einer hässlicher Kröte, sondern zu einem Menschen, der aufrecht gehen könne und Vernunft besitze, gemacht habe. Die Historie dient beide Male erbaulichen Zwecken, lässt jedenfalls keine Studien übe die Geschichte des Constanzer Konzils erschliessen, sie stammt aus der Ueberlieferung, vielleicht einem Sammelbuch erbaulicher Histörchen. Die Schriften Dungersheims gegen die Böhmen, die er kannte, und in der Leipziger Disputation wie in Briefen wegen ihrer thörichten Polemik tadelte (WA 2,287 ??), berichteten nahezu nichts von Huss und dem Konzile, ebenso das erwähnte pighardische Schriftchen. Es ist eine Verwirrung der historischen Begebenheit, wenn Luther in den Tischreden erzählt, er habe in Augsburg auf den Vorwurf des Kardinals, er sei Gersonist, geantwortet: "ich thät es aus Geheiss und Befehl des Concilii zu Costnitz; denn dasselbe hat sich am Ersten wider den (185) Papst gelegt und der Päpste wohl drei abgesetzt". Gewusst mag er wohl damals darumb haben, aber sich nicht darüber ausgesprochen; sein Interesse haftete, soweit es sich mit der böhmischen Angelegenheit beschäftigte, an einzelnen böhmischen haeretica, nicht an Huss und dem Konzil, das ihn verdammte.

Hat nun etwa schon die Vorbereitung zur Leipziger Disputation ihn die Konzilsakten studieren lassen? Ihre Lekture wäre nicht auffallend gewesen, es gab ihrer Drucke mehrere, Eck machte auf den offiziellen Druck sub forma authentica in Leipzig aufmerksam (WA 2,294 = eck05#90), und in Wittenberg befand sich ein Exemplar derselben. Aber es muss auffallen, dass Luther bei der Klarlegung des Planes der Disputation jener Akten nicht gedenkt; er bringt nur den donatistischen Irrtum der Böhmen wieder zur Sprache. Auch geht aus der ganzen Verhandlung hervor, dass ihm Ecks Wendung auf das Constantiense völlig unerwartet kam (n185), er brauchte Mühe, sich zu fassen. Man bemerkt, dass die Citierung der Konzilsartikel erst am Nachmittag erfolgt, während Eck am Morgen den Vorwurf böhmischer Häresie gegen Luther erhob (WA 2,279 = eck04#1). Das lässt es wahrscheinlich werden, dass Luther in der Pause unter den Büchern, die man mitgebracht hatte, aber nach Ecks Verlangen nicht gebrauchen durfte (cf WA 2,393), nachschlug, sich kurz über Huss orientierte an der Hand der Akten. Dafür dürfte sprechen, dass Luther die Hussschen Artikel zunächst ungenau wiedergiebt. Luther citiert: tantum est una ecclesia universalis, in den Akten heisst es: universalis sancta ecclesia tantum est una. Er fügt die Bemerkung hinzu, ein anderer Artikel laute ähnlich -- offenbar (186) weiss er ihn aber nicht anzugeben. Am anderen Morgen giebt er ihn, er hat inzwischen nachgesehen. Jetzt stimmen die Citate mit den Akten, trotzdem sie ausführlicher sind. Er nennt: una -- unica der Akten kommt kaum aus Differenz in Betracht -- est sancta universalis ecclesia, quae est predestinatorum universitat (eck05#31)-- das war der Articulus similis -- ferner: universalis s. ecclesia tantum est una (beachte jetzt die veränderte, den Akten conforme Wortstellung! (eck05#31 sammenlignes med eck04#3)) sicut tamen unus est numerus omnium praedestinatorum, ferner: duae naturae, divinitas et humanitas sunt unus Christus (artikel 4) und endlich: divisio immediata humanorum operum est, quod sunt vel virtuosa vel viciose quia si homo est viciosus et agit quidquam, tunc agit viciose et si est virtuosus et agit quidquam, tunc agit virtuose (artikel 16 se eck05#33). Den Satz hingegen, den er am Tage vorher noch nannte: non est de necessitate salutis credere Romanam ecclesiam esse aliis superiorem (eck04#4) war gleichfalls ungenau citiert; er lautete in den Akten non est etc... supremam inter alias ecclesias, und die Unsicherheit Luthers giebt sich darin zu erkennen, dass er nicht weiss, ob es un einen Wiclifschen oder Hussschen Satz sich handelt (n186). Das kurze Sätzchen: papalis dignitas a Caesare inolevit (artikel 9) musste beim ersten Nachfragen sich dem Gedächtnis einprägen, auch ist dasselbe schon vorher Luther bekannt gewesen (cf WA 2,159), wohl aus mündlicher Ueberlieferung. -- Eine derartige Aeusserung, es seien die genannten Artikel fälschlich untergeschoben, war auch nur möglich bei Unkenntnis der Akten, ebenso die andere, Schmeichler hätten Huss verdammt (WA 2,294, 279 = eck05#91; eck04#3); Eck hatte Recht, wenn er entgegenhielt, der Befund der Akten mache das unmöglich, da sie eine eingehende Diskussion und in allen rechtlichen Formen gehaltene Verdammung konstatierten. (WA 2,295 = eck05#91) (187)

Es war zu erwarten, dass Luther nunmehr sich über das Konzil informieren würde; aus seinen "Erläuterungen über die Leipziger Verhandlungen" geht hervor, dass er es gethan hat. Er will jetzt seine Behauptungen erhärten ex ipsius Concilii verbis, er citiert die Artikel mit der Einführungsformel quae sic habent und fügt am Schlusse hinzu: haec ibi (cf WA 2,406, 398 = releip03#31; releip01#48). Den oben an vierter Stelle genannten Satz giebt er, wie er ihn schon Eck gegenüber als augustinisch bezeichnet hatte (n187), in augustinischer Färbung wieder: omnis actus hominis aut est bonus aut malus (n187a), ebenso formt er den Satz Hussens über die Papstwürde um nach seinem Streitobjekt mit Eck. Was Luther jetzt über den Beschluss des Lateranense gegen das Constantiense sagt, (WA 2,400 = releip01#57; cf releip03#20ff; releip05#86). ist gleichfalls an den Akten orientiert: "auch das Constanzer Konzil hat auf dem jüngsten eine nicht kleine Einbusse an Autorität erlitten, indem dieses die Superiorität des Papstes über das Konzil statuierte, während jenes das Gegenteil behauptete". Luther hat letzteres in dem Bericht über Sessio 5 gelesen. Wie sich Luther diesen Beweis denkt, ersieht man aus einer späteren Aeusserung in "Grund und Ursach aller Artikel" bezw. der Assertio omnium articolorum. Luther sagt dort: "Johannes Huss leugnet nit, dass der Papst der Ubrist sei in aller Welt; nur das will er, ein böser Papst sei (188) nit ein Glied der heiligen Christenheit" (EA 24,134 = assty05#35). Offenbar muss von dem Gegensatze zwischen Welt und heiliger Christenheit aus interpretiert werdeen. Der Husssche Satz lautet in den Akten: "wenn der Papst böse ist oder ein praescitus, so iest er wie Judas ein Teufel und nicht das Haupt der h. streitenden Kirche". Diese sancta ecclesia militans ist aber für Luther jene spirituelle communio sanctorum, wie er sie bei Huss wiedergefunden zu haben glaubte. Deren Haupt aber ist Christus, nicht der Papst. Aber, so interpretiert Luther weiter, damit ist ein Papsttum iure humano nicht ausgeschlossen (ass04#5), der Papst kann der "Ubrist der Welt" bleiben, das geht die "h. Kirche" nichts an. Selbst in Todsünde kann er diese Ehrenstellung nicht verlieren, sofern dieselbe ja in das religiös-moralische Gebiet fällt, welche mit jenem weltlichen Rang nichts zu thum hat. Man sieht, wie klärlichst die in der Schrift an den christlichen Adel niedergelegten Gedanken sich in obiger kurz nach der Leipziger Disputation ausgesprochenen Aeusserungen zu entwickeln beginnen. Ob Luther Huss richtig verstanden hat und nicht vielmehr unter- stat auslegte, ist eine andere Sache. -- Aus Sessio 14 ersah Luther, dass das Konzil sein statuirtes Superioritätsrecht über den Papst auch praktisch ausgeübt hatte (WA 2,434 = releip05#86). --

Man hat bisher angenommen; Luther habe die Ausgabe der Konzilsakten Hagenau 1500 benutzt. Indem ich der Ansicht beistimme, möchte ich doch einige Bemerkungen über diese Annahme geltend machen. Dagegen scheint zunächst nichts einzuwenden, dass man jene von Luther an 2 Stellen ausdrücklich als Citat aus den Akten bezeichneten Worte: quidam ex eis sunt notorie haeretici, quidam erronei, alii blasphemi, alii temerarii et (189) seditiosi, alii piarum aurium offensivi (WA 2,398 = releip01#48) auf Einsichtnahme jener beruhen lassen will; das beigesetzte ex ipsius Concilii verbis und haec ibi lässt in der That nahezu wörtliches Citat vermuten. Aber man darf diesen Text nicht in der Ausgabe von 1500 zu Sessio 15 wiederfinden wollen, bezw. bei Harduin, der allerdings einen den obigen Worten sehr ähnlichen Text bringt, den Text der Hagenauer Ausgabe, dem er zu folgen verspricht, getreu reproduziert wähnen. Die Hagenauer Ausgabe liesst an den beiden Stellen, an denen sie die verdammten Artikel bringt: ex eis plures esse erroneos, alios scandalosus et nonnullos eorundem esse notoris haereticos, d. h. sie lässt das piarum aurium offensivos, pluresque temerarios et sediosos aus; ebenso lesen die Ausgaben Mailand 1511, Paris 1512. Nun bleibt ja freilich die Möglichkeit, dass eine der anderen Ausgaben -- sie waren mir leider nicht zugänglich -- zu Sessio 15 analog dem Harduinschen Texte las. Aber mir will wahrscheinlicher sein, dass Luther jene Worte überhaupt nicht nach Sessio 14 sondern Sessio 7 wiedergiebt. Es handelt sich dort um die Verdammung der Wiklifschen Sätze, der Text der Hagenauer Ausgabe lautet: et plures fuisse et esse notorie haereticos ..., alios ... erroneos, alios scandalosos et blasphemos, quosdam piarum aurium offensivos, non nullos temerarios et sediciosos; es fehlt also keines der Attribute. Da für Luther die Wiklifsche und Husssche Sache eins war, mochte er die ersterem geltenden Worte auch für letzteren bestimmt erachten, zumal ja thatsächlich nach (190) den Akten dort Aehnliches ausgesagt war. -- Die verdammten Artikel des Huss sowohl wie Wiklif stehen an 2 Stellen in den Akten, in Sessio 15 bezw. 7 und zusammen am Schluss in der Verdammungsbulle Martins V. Die von Luther geltend gemachten Worte in dem Hussschen Satze über die ethischen Handlungen et si est virtuosus et agit quidquam, tunc agit virtuose fehlen nun in dem Bericht über Sessio 15, finden sich hingegen in der Verdammungsbulle; Artikel 2 des Huss heisst an erster Stelle: sicht tantum est numerus unus, an zweiter; sicut tantum unus est numerus, Luther folgt letzterer Lesart. Da in der Bulle die Sätze beider, Wiklifs und Huss', hinter einander standen, mochte es nahe liegen, sie als Quelle häufiger zu benutzen als die Sessionsberichte.

Es ist merkwürdig zu sehen, wie er Stachel, den Eck in Leipzig in Luthers Gemüt gesenkt hatte, darin haftete. Immer wieder kommt Luther in seinen Resolutionen auf das Constanzer Konzil zu reden; man sieht, wie es ihn beschäftigt, hauptsächlich die beiden Gedanken von der Negierung des Papsttums iure divino und des absoluten Entweder-Order der sittlichen Akte. Der letztere war die Grundwahrheit, welche, einst Ausgangspunkt, nunmehr gleichsam der begleitende Grundakkord seiner religiösen Interessen war (n190), der erstere das Moment, welcher erst erledigt werden musste, ehe der neue Kirchenbegriff sich durchringen konnte; er steht noch so im Vordergrund, dass die Linie, die in Leipzig jenen andeutete, noch nicht weitergeführt ist. -- Luthers Urteil über das Constanzer Konzil ist jetzt klar und bestimmt. Jetzt "steht es fest" (WA 2,398 = releip01#48), dass nicht alle hussitischen Artikel ketzericht waren, jetzt ist es selbstverständlich, dass (191) Konzile irren (n191). Seine Behauptung, einige Artikel seien untergeschoben, erscheint in der milderen Form, ein Thomist habe die Hand bei Fixierung der Artikel im Spiele gehabt (WA 2,399 = releip01#53; WA 2,421 = releip04#76). Und während er in Leipzig mit Emphase noch an der Häresie der Böhmen festhält, schiebt er jetzt hinter die Worte Boëmi et haeretici ein; ut Eccii verbis tonem (releip01#54). Auch gebraucht er den Namen "Pikarden", der als Schmähun empfunden wurde, jetzt nicht mehr, mit einer Ausnahme, in der sie noch einmal als Typus donatistischer Häresie erscheinen (WA 2,632). --

Luther ahnte wohl nicht, in welches Wespennest er mit seiner Leugnung der Unfehlbarkeit des Constanzer Konzils und der unverhohlenen Sympathie für Huss gestochen hatte; von allen Seiten umschwirrte ihn jetzt das Gelichter der Römlinge, (WA 2,244f) und immer wieder ertönte der Ruf: Ketzer! Mochte man ihn auch ermässigen zu dem Rufe: Ketzerfreund! (Boemorum patronus) (WA 2,406 = releip03#32), rechtlich war das dasselbe. Es war ein wohlberechneter Feldzugplan, den man gegen Luther inszenierte, sein Ziel sollte das Ende des Huss sein. Eck unterliess nicht, alsbald in einem Schreiben an den Kurfürsten Luther wegen böhmischer Häresie zu verdächtigen (BE220719#6). Neben Eck trat Dungersheim, dann Emser, zunächst heuchlerisch (192) in seinem Brief an Zack, dann offen in allen seinen Schriften. Alveld, dem eifrigsten Verbreiter von Luthers böhmischer Ketzerei (n192), gelang es dann, die Brücke ausfindig zu machen, über welche das Ketzergift nach Eisleben gekommen war: von Sangerhausen, dem Ketzernest, war es herübergespritz und hatte so gleichsam Luther schon in der Wiege infiziert; schliesslich ging man noch weiter und sprengte das Gerücht aus, er sei in Böhmen geboren, zu Prag erzogen und habe von Kind auf "das Wiklifsche Dogma" kennen gelernt. "O mores, o homines! o tempora indigna literis Evangelicis et veritate" bemerkt dazu Spalatin in seinen Annalen. Catharinus wirft Luther vor, er habe Freude daran gehabt, zu billigen, was Huss gesagt habe (catlut09#29), Johannes Antonius Modestus und Heinrich VIII vom England äusserte sich ähnlich (in seinem Gegenschrift auf de captivitate Babylonica), kurz, es war das Wohlfeilste geworden, Luther den "Böhmen" zu nennen, was er sagen mochte, war (193) "hussitisch". Noch während der Disputation verschrie man ihn in Leipzig als Böhmenpatron (WA 2,275;299 = eck03#42; eck06#8), sodass Luther für notwendig befand, in deutscher Sprache zur Corona zu reden, um sich zu rechtfertigen; andere griffen auf Aeusserungen Luthers über die Heiligenverehrung zurück und behaupteten, er verwerfe dieselbe mit den Pigharden; sie wussten nicht oder wollten nicht wissen, dass er gerade gegenteilig einst sich geäussert hatte. Crotus Rubeanus schrieb an Luther, in Rom konzentriere sich der Hass der Päpstlinge auf die religio bohemica atque approbatio Hussaici dogmatis. Auch die später auftauchenden Gerüchte, er sei nach Böhmen geflohen, spiegeln die Meinung seiner Gegner über ihn wieder. Wenn man in Worms in den Verhandlungen mit Luther immer wieder auf das Constanzer Konzil und Huss zurückkam, so lag darin nicht nur der Wunsch, die Konzilsautorität gewahrt zu sehen, sondern auch eine Konzession an die Menge, der man das Aegernis nehmen musste, das sie an der Reprobation des Konziles von Constanz nahm. --

Gegenüber dem Drängen der Gegner berührt Luthers vornehme, überlegene Ruhe angenehm. Mit Eck hat er es zunächst zu thun. Sein kurzer Brief an ihn hält mit aller Energie den Hussschen Satz über die Qualität der sittlichen Handlungen fest (WA 2,702). Seine erstere grössere Schrift contra malignum Eccii iudicium ist darauf berechnet, den Spiess gegen Eck umzukehren (cf WA 2,632: age retorqueamus in ipsum autorem ineptas suas nugas). Auf die von Eck aus den verdammten Artikeln des Wiklif und Huss ausgezogenen Sätze (es sind Sats 36, 38, 41 von Wiklif, 7, 10, 15 von Huss), -- er giebt sie in Eckschen von dem Original unbedeutend abweichende Wortlaut -- die seine These von der Leugnung des ius divinum des Papsttums treffen sollten, geht er (194) nicht weiter ein. Eck irre sich, nicht alle nenne das Konzil "voll Irrtums", nur einige (WA 2,643). Er nimmt dann den von ihm von Anfang an verworfenen böhmischen Satz von der moralischen Indefektibilität der Priester und weist Eck nach, dass seine Interpretation von Luc. 22,32 hinüberführe in jene "verderblichen donatistischen und pighardischen Irrtümer" (WA 2,632f). Dass Luther an der Verwerflichkeit jenes Satzes festhielt, zeigt seine grosse Zurückhaltung bei Besprechung des Artikels: die Böhmen sind bessere Christen als wir (WA 2,651). Offenbar ist derselbe, mag ihn nun Franz Günther aufgestellt haben oder nicht (WA 2,621f), mit Rücksicht auf die böhmische Forderung der priesterlichen Sittenstrenge aufgestellt. Luther verweist nur auf das Apostelwort: wer bist Du, der Du einen fremden Knecht richtest? (WA 2,651) Offenbar vermeidet er näheres Eingehen (cf WA 5,46). Dass ein Entgegenkommen für die Böhmen aber darin nicht liegt, zeigen seine Aeusserungen gegen Emser.

Er fertigt ihn klar und bestimmt ab. Die Art des Emserschen Angriffs (cf WA 2,655) brachte es mit sich, dass Luther die konservativeren Momente seines Verhältnisses zu den Böhmen hervorhebt. Er geht zwar nicht etwa hinter die in den Resolutionen eingehaltene Linie zurück, überschreitet sie aber auch nicht. Es liegt ihm daran zu betonen, dass er das böhmische Schisma nicht will, weil es die Einheit der Kirche, die Luther mit dem Papsttum iure humano erhalten wissen möchte, sprengt und gegen das Gebot der Liebe verstösst (WA 2,675): "Du nennst mich einen Katholiken, der Patron der Böhmen nicht sein will, und daran thust Du Recht". Andererseits aber freute er sich der dogmatischen Uebereinstimmung mit den Böhmen: "ich will, ich wünsche, ich bitte, (195) ich bin dankbar dafür, dass meine Sätze den Böhmen gefallen, o dass sie auch den Juden und Türken gefielen!" (WA 2,663) Und dass die Böhmen für ihn beten, wie man sagt, ist ihm lieb, wie jedes Fürbittegebet erfreut (WA 2,664, 667, 607). -- Es ist charakteristisch, dass er nicht sagt: ich will etc., dass die böhmische Sätze mir gefallen. Jene Wendung gab nur offen die Thatsache wieder, welche aus dem bisherigen Verlauf dieses Abschnittes resultiert und den folgenden begleiten wird: dass nämlich sein religiöses Bewusstsein das Primäre ist, dass er von hier aus an die böhmischen Sätze herantritt, denen ein Wert für Luther nur insofern zukommen kann, als sie eine Saite des Inneren anschlagen oder eine leise vibrierende in starke Schwingung versetzen. --

Vor die vornehmlich für Alveld berechneten Aeusserungen Luthers über die Böhmen fällt ein Ereignis, welches die ganze Sachlage verändern sollte: Die Anknüpfung persönlicher Verbindung mit den "Ketzern". Nicht nur Hass trug die Disputation Luther ein, auch Freundschaft. Schon in Leipzig hatten die dort anwesenden Böhmen ihre Sympathie für Luther kundgegeben, wie Herzog Georg sagte, war es das Lautwerden früherer Hoffnungen auf ihn, einige Böhmen, wohnten der Disputation bei, man betete in Böhmen für ihn, gegen Emser konnte Luther den Trumpf ausspielen: "es kommen zu mir täglich aus verschiedenen Weltgegenden Briefe gelehrtester Männer, die der Wahrheit glückwünschen und nur dieses fürchten, ich möchte nicht so glücklich forfahren, wie ich begann, und widerrufen" (WA 2,662). Die Meissner Geistlichkeit schäumte vor Wut, dass die Böhmen Luther als ihren Patron feierten; die Ermordung Luthers sei um deswillen keine Sünde. Freilich, als Emser infolge grober Indiskretion an Johann Zack von böhmischen Briefen an Luther (196) schreiben konnte, wies Luther es Eck gegenüber mit Entrüstung als Unwahrheit zurück (WA 2,707f). Mit Unrecht, es waren Briefe von Böhmen an Luther unterwegs, am 3. Oktober 1519 hatte er sie in Händen, Spalatin schickte sie ihm mit dem Boten vom kurfürstlichen Hofe aus zu. Zwei ultraquistische Pfarrer wandten sich an ihn, ihre Briefe sind lebendiges Zeugnis für die Stimmung, mit welcher man in Böhmen der Lutherschen Bewegung gefolgt war. "Viele Deiner Traktate von mancherlei Art sind uns zu Händen gekommen, daher kennen wir Dich ganz, wer und wie Du bist". Sie bewundern seinen Mut, fast mit Huttenschen Rhetorik spornen sie zum Ausharren an, er habe in Böhmen viele Freunde, freilich auch hier schon Feinde, aber die Wahrheit werde ihn, den sächsischen Huss, schon retten. Doch wichtiger als diese Worte war ein sie begleitendes Buch: Huss Schrift de ecclesia. Es war das Erste, welches Luther von Huss kennen lernte, "denn ich leyder, sagt er selbst, zu Leyptzk in der Disputation nit hatte gelesen Johann Huss" (WA 6,587). Ein gewisser Jacobus, von dem wir Näheres nicht wissen, hat nach Prag die Kunde von der Leipziger (197) Disputation getragen, man mochte wohl in Böhmen merken, wie lückenhaft Luthers Kenntnisse von Huss waren -- als Quellen nennen sie im (allgemeinen richtig) die aura vulgi und die Konzilsakten, das sei zu wenig für Luther, -- dem will man abhelfen, darum schickt man jenes Buch, und gerade jenes, weil es die Grundlage der ungerechten Verdammung Hussens in Constanz gebildet habe. Es ist rhetorische Floskel, wenn Rozdalowsky schreibt, er habe gehört, Luther selbst sehne sich sehr nach den Büchern des Huss. Soweit ging sein Interesse für die Böhmen noch nicht; es war bisher nur ein Nebeninteresse, welches an die Frage vom päpstlichen Primat sich angehängt hatte; infolgedessen betraf es auch mehr das Constanzer Konzil, Huss nur insofern, als er zur Exemplifizierung der Irrigkeit desselben diente. Jetzt erst, mit der Lektüre von de ecclesia, löst sich in Luthers Bewusstsein Huss vom Constanzer Konzil los und gewinnt selbständige Bedeutung.

Zunächst freilich lassen ihn die Briefe der Böhmen kalt, er hat eher zu tadeln als zu loben (til Staupitz 3-10-19); fast scheint es, als habe ihn Spalatin zur Beantwortung der Briefe gedrängt, auch dass er durch den rhetorisch geschulten Melanchthon dem Boten dis Antwort in die Feder diktiern lässt, verrät geringes persönliches Interesse; und seine Werke beizugeben war Anstandspflicht (til Spalatn 15-10-19). Es scheint auch, als habe Luther es für nicht so dringend gehalten, die Hussche Schrift zu lesen; die Streitigkeiten mit Eck, Emser, Unterhandlungen mit Miltitz, die Sermone für die Herzogin Margaretha von Braunschweig und die lateinische Kirchenpostille nahmen zunächst seine Zeit in Anspruch, vielleicht auch mochte (198) die Erwartung des Schiedspruches der Universitäten zum Schweigen raten. Leider lässt sich die erste Aeusserung Luthers über die Lektüre der Schrift nicht sicher datieren, sie muss spätestens Ende Februar 1520 fallen (Enders II nr 280). Frappierend bricht sie heraus: "ich habe bis jetzt ohne Vollbewusstsein davon alle Lehren des Johannes Huss gelehrt und festgehalten, ebenso auch Johann Staupitz, kurz wir sind alle Hussiten, ohne es zu ahnen, Paulus schliesslich und Augustin aufs Wort Hussiten. Siehe, bitte, das Ungeheurliche, wohin wir gekommen sind ohne die Führung und Leitung der Böhmen. Ich weiss vor Staunen nicht, was ich denken soll, wenn ich die schrecklichen Gerichte Gottes an den Menschen sehe, dass nämlich die offenkundigste evangelische Wahrheit, die schon öffentlich als mehr als 100 Jahre verbrannt ist, als verdammt gilt, und man darf das nicht offen aussprechen. Wehe dem Lande!" --

Mit einem Schlag hat die Husssche Schrift Luther auf den Höhepunkt der Entwicklung hinaufgehoben, rückhaltloser anerkennend konnte er sich nicht aussprechen; geht doch die Anerkennung in Identifizierung seiner selbst mit jenen auf. Mit sicherer Hand legt er gleichsam einen Querschnitt in die Geschichte und zeigt die Punkte, wo nach seine Ueberzeugung das gesunde Evangelium von Pathologischen sich sondert. Paulus, Augustin, Huss, Staupitz, er selbst, sind die Repräsentanten der veritas evangelica. (199) Zeigt die Wahl gerade dieser -- er hat sie später noch einmal genannt, den Staupitz auslassend (WA 4,588; EA 10,2,116 nennt er Huss den "rechten Paulus") -- die individuell und unbedingt religiös bedingte Art des Urteils, so ist auch ihre Nebeneinanderreihung nicht im Sinne geschichtlicher, sondern, wenn man sagen darf, religiöser Kontinuität gedacht. So klar wie nur möglich spricht Luther hier aus, dass die Böhmen nicht etwa völlig neue Wahrheiten ihm mitteilen, sondern nur vorhandene Keime und angesetzte Blüten zur Entfaltung und Vollblüte brachten, ein Urteil über das Prius seiner Religiosität, welches die bisherigen Ergebnisse dieser Untersuchung nur zu bestätigen vermögen.

Versuchen wir im einzelnen zu zeigen, an welchen Punkten infolge der Lektüre von Huss de ecclesia ein Fortgang in Luthers Anschauungen zu konstatieren ist. Wenn auch hier und da mündliche und schriftliche Mitteilungen, sei es seiner Freunde, sei es der Böhmen, mit denen er fortan in Verkehr blieb, oder die Lektüre diesbez. Schriften sein Wissen bereicherten, der entscheidende Faktor der Entwicklung bleibt jenes "edle Christlichs Buchlain" (WA 6,587). Luther hat für dasselbe Propaganda zu machen gesucht; seine Studenten schickt er am 19. März 1520 den frisch erschienen Druck, der fügt hinzu, alle, die ihn gelesen, hätten nahezu ein Mirakel darin erblickt. 2000 Exemplare habe Anshelm in Hagenau ausgegeben. Er konnte die Genugthuung (200) haben, dass man sie kaufte; allenthalben teilten die litterarisch interessierten Freunde sich das Erscheinen mit.

Zunächst ist an dem Punkte, an welchem Luther persönliches Interessse an den Böhmen gewann, am Kirchenbegriff, jetzt der Höhepunkt erreicht. Schon in Leipzig war das Rücksichtsverhältnis, in welches die Kiche den Böhmen gegenüber gesetzt werden sollte, faktisch einer Einbeziehung derselben in die (spirituelle) Kirche gewichen, aber der Nachdruck der Lutherschen Behauptungen lag auf einem negativen Moment, der Negierung des ius divinum des Papsttums. Das wird jetzt anders (cf WA 5,450). Die Husssche Bezeichnung der Kirche als congregatio (Huss: de ecclesia, S 1ff) wird nunmehr von ihm synonym gebraucht mit seiner Fassung der communio sanctorum, erstlich in seinen Psalmenvorlesungen. In Erläuterung des Psalmwortes: "non congregabo conventicula eorum de sanguine (Ps 14,6) präzisiert er allen quaestiones infinitae gegenüber den Kirchenbegriff auf die congregatio spiritualis hominum, non in aliquem locum, sed in eandem fidem, spem et charitatem spiritus. Damit ist die Lokalisierung der Kirche in Rom ausgeschlossen, sie ist universell: darum gehören auch die, welche nicht unter Rom stehen, als solche nicht (201) unter die Ketzer. Ausdrücklich findet er diesen Gedanken wieder in Huss' Satz: ecclesia universalis est praedestinatorum universitas. Zu Leipzig habe er den tiefen Sinn dieser Worte, die er damals zu verteidigen unternahm, noch nicht gekannt; seitdem aber Huss' Buch de ecclesia erschienen sei, sei er von ihrer "Christlichkeit" voll überzeugt (WA 5,452). -- Seiner Schrift "vom Papsttum zu Rom" legt er das Husssche Schema von den verschiedenen Bedeutungen des terminus ecclesia zu Grunde. (Huss' de ecclesia gengivet i WA 6,588??). Seinen Widersachern gegenüber geht er in der Assertio omnium articulorum so weit, dass er seine Ansicht über den Charakter der Kirche als Glaubensgemeinschaft direkt aus Huss' Buch de ecclesia entlehnt zu haben behauptet, "damit es nicht scheint, als schmücke ich mich mit fremden Federn" (WA 7,130 = ass03#51; cf WA 5,208) Endlich hat er in Worms sich offen zu dem bekannt, was er über Huss hinsichtlich des Kirchenbegriffs geschrieben und gelehrt hatte. Bekanntlich legte die römische Partei in Worms allen Nachdruck darauf, Luther zur Anerkennung der konziliaren Autorität zu bewegen (WA 7,836, 839): von da us glaubte man weiter banen zu können, denn damit hatte man eine objektiv entscheidende Norm, das Gefährliche für Rom war die Verlegung der Autorität in das eigene Ich, wie Luther es letztlich behauptete. Nach Lage der Dinge musste sich die Frage nach der Konzilsautorität zuspitzen auf das Costnitzer Konzil. Hatte nun Luther vor dem Reichstage zunächst mit nicht miszuverstehender Beziehung auf das Costnitzer Konzil geäussert,  , es (202) liegt am Tag, dass Konzilien öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben", dann aber ausdrücklich dieses Urteil auf das Constantiense präzisiert, so äusserte er Vehus gegenüber "erstlich dass er keine Concilii dan das zu Kostnitz angegriffen hat .. .. umb des Irrthums willen in der Leer und glauben, wann es sey zu Kostnitz verdampt der artikel des glaubens "ich glaub die heilige christliche Kirche" in diesem artickel des Johannes Huss "es ist eine einige gemeine christliche Kirche, das do ist die anzal aller auserwelten und von got versehen heiligen" (WA 7,846). Alle Beweisgründe, die für die Richtigkeit der Verdammung vorgebracht wurden, wies Luther ab und wollte sein Urteil um keinen Preis widerrufen (WA 7,850; 853; 854; 878). --

Zwei Folgerungen ergaben sich aus Luthers Kirchenbegriff, wenn er ihn mit dem des Huss gleichsetzte. Ist die Kirche geistige Gemeinschaft und als solche aller Orten, so ist auch den Böhmen prinzipiell der Zutritt zu dieser Gemeinschaft gestattet, jedenfalls sind sie nicht mehr als Ketzer aus derselben auszuschliessen. Dementsprechend sagt auch Luther: "die Böhmen sind nicht Ketzer"  -- aber was bedeutet nun der Zusatz "sondern Schismatiker?" (WA 6,79; 80; cf WA 2,605,675; 4,147) Offenbar liegt hier ein Residuum traditioneller Anschauung vor. Hier ist die Norm der Beurteilung nicht die Kirche als communio sanctorum, sondern die unter dem Papste als Oberhaupt geeinte rechtlich organisierte Gemeinschaft. Diese kennt den Begriff "Schismatiker", wie sie den des "Häretikers" kennt, jene nicht. Nun will ja freilich Luther das Papstthum iure (203) humano bestehen wissen, und noch ist er zu der strengen Scheidung von "weltlich Schwert" und "geistlich stand" nicht durchgedrungen, das erklärt jenen Rückfall in die mittelalterliche Anschauung, der immerhin en Fortschritt war gegenüber der früheren Gleichsetzung von haeretici und schismati als Titulatur der Böhmen (WA 6,505). Bedeutsam aber wird nunmehr, dass Luther -- inzwischen ist die Schrift an den Adel geschrieben -- als man jene Beurteilung Bohemi non haeretici sed schismatici in der Bannbulle inkriminierte, das sed in et unwillkürlich umänderte. Es war die Konsequenz seines Kirchenbegriffs, er zog sie wohl ihm selbst unbewusst. (Se side 52!).

Zweitens resultierte aus Luthers Kirchenbegriff das allgemeine Priestertum der Gläubigen, wiewohl es nicht gleichzeitig mit diesem erstmalig ausgesprochen wurde. Hatte Luther die Ueberzeugung, jener sei identisch mit hussitischer Lehre, so darf es nicht überraschen, dass er auch dieses den Böhmen zuschreibt. Aber es bedurfte eines Anstosses, um ihn diese Konsequenz ziehen zu lassen. Emser nennt in der Gegenschrift auf Luthers Buch an den Adel die Lehre vom allgemeinen Priestertum einen "pickardischen, grubenheimerischen punct". "Luther kan ouch mit keinem buchstaben antzeigen, das die leyen ye den geringsten clerick ich schweig ein priester gemacht oder tzumachen gehabt hatten, er wol uns dann an die Pickard weissen, bey denen pfarrer und Sawhirten ein ding ist" (Enders: Luther und Emser I 79). Noch klarer drückt er sich in seiner "Quadruplica" aus, Luther habe "seyne Ketzerey (204) nicht von seiner mutter, der Christenlichen kirchen, sonder in der Pickhart schul gelernet, bei welchen alle wuchen eyner an der tzech, wie sie gesessen sint, die schweyn ausstreybt und yhr pfarrer ist, er sey schuster, schneyder" (ebd II 136). -- Auf der Wartburg hat Luther die Quadruplica gelesen, in der Wartburgschrift über die Privatmesse, in der lateinischen sowohl wie der deutschen, wird das allgemeine Priestertum auf einen Artikel des Huss gestützt. "Wir schliessen also: es giebt nur ein und allen Christen in der Kirche gemeinsames ministerium verbi. Folglich seid ihr mit Eurem Priestertum Satansdiener. Deshalb habt Ihr auch diesen Artikel des Johann Huss verdammt, dass es nämlich nicht jedermann erlaubt sei, Christum zu lehren und von jedermann zu hören" (WA 8,425; 498). Man merkt dass Luther sich auf der Wartburg befindet, d. h. die Akten des Konziles nicht vor sich hatte. Ein derartig lautender Artikel ist zu Costnitz nicht verdammt worden, es müsste denn Luther ihn missverstanden haben. -- Und hat (205) er ganz vergessen, dass er früher gegen die prätendierte moralische Indefektibilität der böhmischen Priester geeifert hatte? Noch in Leipzig hatte er deutlich ausgesprochen, er verdamme den hussitischen Artikel, dass man einen sittlich tadelhaften (malus) Priester verwerfe (WA, 2,302 = eck06#33), ähnlich hatte er im Psalmenkommentar als Thorheit dargethan, die sacerdotes impii abzuthun (WA 5,46). Damals hatte er gewusst, dass die Böhmen die Priester aus der Menge der Laien heraushoben als besonderen Stand, jetzt hat er sie auf die Höhe seines Standpunktes hinaufgehoben. Offenbar sieht Luther die böhmische Forderung von der sittlichen Heiligkeit der Priester jetzt in anderem Lichte. Denn sonst wäre es unbegreiflich, wie er unter Berufung auf Joh. 20,22f seinen Satz, dass ohne den h. Geist niemand Sünden vergeben könne, also, da niemand das Vorsandensein des h. Geistes beim anderen nachweisen könne, die Priesterabsolution unnütz sei, in seinem ersten Teile in dem zu Costnitz verdammten Artikel des "Huss oder Wiklif" wiedersieht, dss ein in Todsünde befindlicher Priester nicht die Sakramente verwalten kann (WA 8,162). Gewiss kommt Luthers Forderung schiesslich auf das gerade Gegenteil der böhmischen Praxis hinaus, aber jener Satz erscheint bei ihm als positive (206) Stütze einer Behauptung, die er selbst vertritt, er wird nicht verworfen.

Ebenfalls mit dem Kirchenbegriff hängt zusammen die Bschränkung der Schlüsselgewalt auf das Diesseits. Auch dafür ist Luther Huss jetzt Stütze. Aus Huss' Schrift de ecclesia (n206) hat er ersehen, dass der Böhme sich gegen den Ablass für die Rompilger gewandt hat. "Also ist geschehen zu den Zeiten Joannis Huss, dass der Papst den Engeln im Himmel gebot, der römischen Wallbrüder Seelen gen Himmel zu führen, die auf der Romfahrt starben. Wider solchen schrecklichen Frevel und mehr denn teuflich Vermessen sich Johannes Huss legt" (EA 24,128; WA 7,421).

Ueber die böhmische Abendmahlslehre hatte Luther bisher nur gelegentlich sich geäussert, ohne persönliches Interesse. In einer Predigt, wohl aus frühester Zeit, vergleicht er die Böhmen mit den Samaritanern. Wie diese zu den Juden standen, so jene zur Kirche. "Es war zwischen Juden und Samaritanern, wie heute zwischen uns und den Böhmen in der Eucharistie kein Einvernehmen ist" (non convenit; WA 4,614) Auf welcher Seite aber Luther das Recht sieht, zeigt der den Samaritanern gemachten Vorwurf, dass sie contra legem handelten, das hiess auf die Böhmen angewandt contra ecclesiam catholicam (ebda.) Das infolge der Leipziger Disputation geschehene Studium der Konzilsakten, nicht zum wenigsten Huss' Buch de ecclesia und sonstige Mitteilungen liessen ihn zunächst mit persönlichen Interesse, dann auch milder sehen. Doch bedurfte es wiederum eines äusseren Anstosses, um das innerlich Herangereifte heraustreten zu lassen. Damit kehren wir zu Luthers Gegnern zurück.

Ohne auch nur mit einem Worte die Böhmen zu erwähnen und auch wohl innerlich mehr durch zwingende Macht des (207) Bibelwortes (WA 2,743; 6,79) gedrängt als durch den böhmischen Ritus beeinflusst, hatte Luther im Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des h. Leichnames Christi es als wünschenswert bezeichnet, dass ein Konzil die communio sub utraque wiederum einführe. Sofort witterte man böhmische Ketzerei dahinter, die beiden Monstranzen auf dem ersten Blatt des Druckes sollten Utraquismus verraten, in dem künstlerichen Schmuck der Rückseite sah man Anspielung auf Huss. Herzog Georg fand das Büchlein "fast pragisch" und schrieb voll Besorgnis an den kurfürstlichen Vetter nach Wittenberg (cf Löscher III 920); Alveld u. a. folgten nach mit Schmähungen. Luther hielt eine Rechtfertigung für notwendig. Wie anders klingt jetzt sein Urteil! "Das ist aber nit die sach, darumb die Bemen werden ketzer gescholten, das sie beyder gestalt niessen... dann die Romisch kirck hat dasselb vorzeyten, wie wissentlich ist, den Bomen zugelassen (im Baseler Konzil); was aber mag zugelassen werden, das ist nit und wirt nymer mehr ketzerey" (WA 6,79). Wenn man bedenkt, dass die römische Kirche selbst in der communio sub utraque den geringsten der böhmischen Irrtümer sah, so wird Luthers Äusseerung verständlicher; immerhin erhebt er sich über die römische Beurteilung. Er gesteht sogar den Böhmen zu, dass sie die Schrift auf ihrer Seite haben (ebda. cf WA 6,504 = capt#54), böswillig hätten die Gegner die böhmische Lehre von der communio sub utraque als Ketzerei verschrien unter dem (208) Volk, "sonderlich an der Bemischen grentz" (ebda).  Geboten hat Christus keinerlei Gestalt, deshalb ist es falsch, sowohl bei den Böhmen wie bei den Römischen, nur die communio sub utraque bez. sub una für christlich zu erklären, aber wenn denn nun einmal die Böhmen "so schwach waren ynn yhrem glauben und gewissen, dass sie nit davon on ergerniss mugen fruntlich geweysset werden" (WA 2,80), so solle man doch den schwachen Bruder in Liebe tragen. Beistimmen kann er ihnen nicht in allen Punkten ihrer Lehre, er macht Differenzierungen. Er hat gehört oder gelesen, dass sie die bekannte Stelle Joh. 6,54 für den Utraquismus geltend machen, dazu habe man kein Recht, "dan der Herr sagt nichts vom sacrament an dem ort, sondern von dem glauben in Gottis und des menschen Kind, das ist Christum" (cf WA 6,80). -- er hat später dieses Urteil wiederholt (WA 6,502 = capt#37). Endlich weiss er "durch ein aussgelassen buch, das ich gesehen", dass ein Teil von ihnen "nit glauben, dass Christus' fleysch und blut warhafftig da sey". Diese "Pigharden" hält er für Ketzer und spricht das Ketzerurteil über sie: "gott erbarm sich über sie". Gemeint ist, wie aus nicht viel spätere Äussungen hervorgeht, die Brüderunität. Es geht wohl auch auf mündliche oder schriftliche Mitteilung zurück, wenn Luther das Wort des Meissener Bischofs: "Gehorsam sei besser dan opfer", auf denselben zurückspringen lässt mit dem Zusatz "dan eben denselben spruch furen die Bemen auch (209) widder uns und schelten uns ungehorsam dem Evangelio daryn beyde gestalt von Christo geordneth sei" (WA 6,139, cf 149; EA 27,81; n209). Spöttelnd hält er dem Bischof zum Narren: wenn denn nun das jüngste Konzil die communio sub utraque verdammt hat, nun gut, so galt sie doch vor demselben nicht als häretisch sondern als christlich. Soll sie nun seit 10 Jahren ketzerisch sein? Hütet Euch, vor den Böhmen Euch nicht zu blamieren". (WA 6,149).

Angerecht durch die Polemik der Gegner sah Luther sich zu eingehender Beschäftigung mit der Abendmahlslehre veranlasst; ihr Ergebnis wurde niedergelegt in der Schrift von der babylonischen Gefangenschaft (provocatus et exercitatus dabo libere quae sentio, WA 6,502 = capt#36). Bekanntlich äusserte hier Luther sich freier als bisher, freier als auch später. Die Freiheit seiner Auffassung spiegelt sich wieder im Urteil über die Pikarden, es ist milder geworden, fast anerkennend. Stufenweise lässt sich die Herabmilderung verfolgen, man sieht, wie er in seinen Studien langsam fortschreitet. Schon in der Antwort auf den Stolper Zettel, kaum einen Monat nach seinem scharfen Ausfall, nimmt er die Pikarden gleichsam in Schutz und spielt sie gegen den Bischof aus. Derselbe hatte es für gut befunden, die communio sub una zu rechtfertigen durch die Concomitanz. Luther spottet über die weise Vorsicht: wozu das sagen? Hat je jemand anders geglaubt? Sogar die Böhmen nicht. Denn wenn auch die Pikarden die Präsenz Christi unter irgend einer Gestalt leugnen, sagen sie doch nicht, dass er etwa auf die beiden Gestalten verteilt und somit nur sub utraque "ganz" sei (WA 6,139,149).  Das war ironisch gemeint und hiess eine Selbstverständlichkeit durch eine logische Unmöglichket überbieten; doch sieht man, dass er nicht nur Worte der Verdammung für die Pikarden hat. Ein halbes Jahr später, in der Schrift an den christlichen Adel, anerkennt er nahezu ihre Abendmahlslehre. "Wenn ich wüsste, dass die Pikarden keinen Irrtum hätten im Sakrament des Altars, denn dass sie (210) glaubten, es sei wahrhaftig Brot und Wein natürlich da, doch drunter wahrhaftig fleisch und blut Christi, wollt ich sie nicht verwerfen; denn es ist nicht ein Artikel des Glaubens, dass Brot und Wein nicht wesentlich und natürlich sei im Sakrament" (WA 6,456). Es fällt auf, dass Luther hier die Abendmahlslehre ganz anders wiedergibt als an den beiden früheren Stellen. Nach diesen sollte überhaupt Fleisch und Blut Christi nach pikardischer Lehre nicht im Abendmahl gegenwärtig sein, jetzt "unter" Brot und Wein. Offenbar hat Luther inzwischen sich genauer über die pikardische Abendmahlslehre informiert, se es durch eingehender Lehtüre der ihm bereits bekannten Litteratur, sei es durch mündliche oder anderweitige schriftliche Belehrung. Köstlin hat vermutet, die Schrift des Lukas von Prag von 1520 sei Luther zugekommen; das ist möglich, aber durchaus nicht sicher. Es thut nicht viel zur Sache, eine bestimmte Schrift namhaft machen zu können, wichtiger ist, dass thatsächlich die Brüderunität jenes "unter" in der Abendmahlslehre, und zwar vornehmlich durch Lukas' Einfluss, vertrat. Freilich im ganz anderen Sinne. So wie Luther meint, dachte die Unität längst nicht mehr, er hat sie misverstanden. Ihre Abendmahlslehre ist mannigfachen Schwankungen unterworfen gewesen, bald mehr bald weniger die Realpräsenz betonend in oft unklarer Mischung des sinnlichen und geistigen Genusses, niemals aber zum taboritischen Radikalismus fortschreitend, bis dann Lukas (211) von Prag unter offenbaren Einfluss Wiklifs die dreifache Distinktion des Brotes aufstellte, des natürlichen, geistlichen und sakramentlichen, und die substantielle Gegenwart Christi ausschloss, worin die Unität ihm folgte. Das mittlere, die gläubige Anegnung Christi ist das wertvollste, die beiden anderen sind Mittel zur Erlangung desselben. Bei dem sakramentlichen wird scharf die Transsubstantiation abgewiesen und die Wesenheit des Brotes betont, hingegen in unklarer Weise von dem Sein Christi im Sakrament geredet, "sakramentlich" sei Flesch und Blut Christi gegenwärtig, d. h. letztlich "geistlich mächtig und wahrhaftig" ("als der er höhte Herr und Regent im Himmel und auf Erden"), aber "unter" dem Brot und Wein, die um unserer sinnlichen Schwachheit willen als siechtbaren Zeichen gleichsam Anreizungsmittel sind. Soweit ist alles klar; eine Verwirrung aber bringt Lukas dadurch in seine Darstellung, dass er den Substanzbegriff auch für die geistige Präsenz verwertet und nur durch den Zusatz "sakramentlich" die letztere andeutet. Das, und, damit zusammenhängend, ein Wertlegen auf den äusseren Genuss von Wein und Brot mag Luthers Missverständnis erklären. Auch halte man sich gegenwärtig, das jene Distinktion für Luther etwas gänzlich Neues waren; wie er stets geneigt war, nach seiner eigenen Ueberzeugung, gleichsam nur durch die eigene Brille den Anderen zu lesen und Abweichendes nur da zu finden, wo es gar zu grob sich gab, so hat er auch hier kein Auge gehabt für die subtilen Unterscheidungen. Fleisch und Blut Christi sind präsent, das war ihm das Entscheindende; über das "wie" konnte dann nach seiner Meinung gar keine Frage sein. Und doch lag hier der Kernpunkt. Während für Luther die Substantialpräsenz feststeht und das "sub" nur unter Voraussetzung (212) eines "cum" und "in" acceptabel gewesen wäre, wird bei den Böhmen auf diese Präpositionen gar nicht reflektiert, und lässt sich das "sub" etwa mit "mediante pane et vino" wiedergeben. Was Luther unter "wahrhaftig Fleisch und Blut Christi" verstand, war der aus dem Himmel niederstiegende verklärte Christus, während die Böhmen diesen lokal bedingt dachten und die Präsenz von dem allmächtigen und allgegenwärtigen Christus als geistiger Grösse verstanden ("nicht auf seiende, natürliche, fleischliche Weise, sondern geistlich, sakramentlich, mächtig und wahrhaftig". Müller). -- Immerhin ist die besprochene Stelle Beweis, dass Luthers spätere Abendmahlslehre in ihrer scharfen Präzisierung der drei Präpositionen in der böhmischen Abendmahlslehre den Ansatzpunkt hat. Sie hat ihm das "unter" zugeführt, aus welchen bei Reflexion das "in" und das "mit" sich ergeben musste. Nachdem d'Ailli, wie Luther in de captivitate Babylonica bekennt, die bisherige Position ins Wanken gebracht hatte scheint es, als sollten die Böhmen mit ihrer Formulierung berufen sein, wenn das Wanken sich zum Stürzen vollendet haben wird, in die Lücke einzutreten. -- In de captivitate babylonicia ist das bedingende "wenn ich wüsste" fortgefallen, Luther anerkennt offen de Consubstantialität von wahrem Brot und Wein mit wahrem Leib und Blut Christi und zwar zugleich offen als böhmisch, so wie er es verstand, will es (213) ruhig gelten lassen, dass man ihn um diese Meinung willen als Hussit und Wiklefit verketzert; (sein königlicher Gegner in England hat nicht ermangelt, ihn daraufhin thatsächlich Hussit zu schelten). Damit ist der Höhepunkt erreicht. Freilich hält Luther wie früher daran fest, dass notwendig weder die communio sub una noch die sub utraque sei, aber sein missbilligendes Urteil über einen Zwang geht diesmal nur auf die Römlihge, nicht auch auf die Böhmen (WA 6,507 = capt#73; cf 456). Ketzerei sei an sich weder die römische noch die böhmische Lehre, aber wenn man denn einmal den Ketzertitel gebrauchen wille, so passe er besser auf die Römer, da jene auf das Evangelium sich stützten. "Die allerchristlichen und evangelischsten sind die Böhmen", so hat er, als man seine Aeusserung über die communio sub utraque in die Bannbulle aufnahm, sein Urteil bekräftigt (WA 5,198). -- Dass gerade das Constanzer Konzil die communio sub una für die Laien fixiert hatte, darauf hatte ihn Alveld gestossen, mochte er es auch selbst schon virher gelesen haben; von nun an rechnet er auch diesen Beschluss zu den thörichten Konzilsentscheidungen, und Hutten stellt sie unter die "Bäpst Satzungen gegen der Lehr Christi". In Worms, Cochlaeus gegenüber, hatte er noch einmal Gelegenheit, die communio sub utraque zu befürworten. --

Es war vorauszusehen, dass durch die Mitteilungen der Böhmen, -- jenes Schreiben der utraquistischen Pfarrer war nicht die einzige Gesandtschaft, Emser spricht voin "teglich post" zwischen Luther und den Böhmen, das war übertrieben, hatte zwar einen wahren Kern, "der Pfarrer zu Leitmaritz sampt (214) zweien Bürgern zu Leitmaritz auch vielmals Botschaft kamen zu ihm" (Löscher III 921) -- durch die Lektüre des Huss'schen Buches, sein Interesse an der Geschichte des hussitischen Ketzerprozesses rege werden würde. Er hat jetzt Flugschriften darüber gelesen, den tractatus cujusdam (ut putant) Boemi adversys tyrannidem Romanae curiae in utraque lingua, die epistola Poggii Florentini de morte Hieronymi ad Leonardum Aretinum (cf WA 6,185), Ulrich v. Richenthals "die deutschen Akta des Concilii mit den viel schilden", und wohl das Eine oder Andere mehr, zumal die Böhmen selbst ihn mit Litteratur versorgten. Nicht zum wenigsten hat er aus den Schriften seiner Gegner gelernt, die sich beeilten, teils allerlei Detail aufzutischen, um die Häresie Luthers zu demonstrieren, teils die Akten sprechen liessen, um die Rechtmässigkeit der Verdammung des Huss darzuthun. Im Wittenberger Frendekreis scheint der Huss'sche Prozess diskutiert worden zu sein, namentlich Carlstadt verrät genauere Kenntnis. Hier und da zerstreut, immer, bald apologetisch bald im engeren Sinn dogmatisch, religiösen Interessen angepasst, begegnen bei Luther Aeusserungen über die böhmische Bewegung. Wie aus but gewürfelten Steinen ein Mosaik, so lässt sich aus ihnen ein Bild komponieren, wie Luther sich die Vorgänge gedacht hat.

Über die böhmischen Parteiverhältnisse war Luther bisher im Unklaren gewesen, er hatte "Böhmen" und "Pikarden" synonym gebraucht. Jetzt haben ihn die böhmischen Freunde belehrt, dass die Gattung in verschiedene Spezies zerfalle, er kennt jetzt drei Parteien. Erstlich die Pikarden. Ihr Charakteristikum ist nicht sowohl die Praxis der communio sub utraque als vielmehr ihr "nit glauben, das Christus fleysch und blut wahrhaftig da sei und etlich mehr Ketzerstück". Nach seinen früheren Aeusserungen (215) darf man zunächst an ihre Leugnung des Fegfeuers und der Fürbitte der Heiligen denken; denn in diesen Punkten dachte Luther auch damals noch wesentlich konservativ. Die Pikarden sind die Brüderunität. An zweiter Stelle nennt er die Grubenhainer, die im Volksmund verrufenste Partei, "was die glauben oder halten, weyss ich nit". Gemeint sind die Taboriten. Endlich "die von beyder gestalt". Ihr Kennzeichen soll -- Genaueres ist ihm nicht bekannt -- lediglich der Utraquismus sein. Von Wichtigkeit ist ihm die Parteitrennung nichg gewesen; als er Reformvorschläge aufstellte, betrafen sie der "Böhmen Sache" wiederum allgemein (cf WA 6,454).

Die Geschichte des Constanzer Konzils stellt sich Luther dar als ein grosses Lug- und Trugwerk des Papstes, als tyrannis wie er einmal sagt (WA 6,184). Es ist charakteristisch, dass er ein Interesse fast nur für den Prozess des Huss hat; auch der Beschluss über die communio sub una tritt ihm hinter diesen zurück; mochte Prierias auf das Dekret über die Superiorität des Konzils über den Papst die Rede bringen, so geht er mit kurzer Glosse darüber hinweg (WA 6,334f), mit dem Punkte war er jetzt fertig. Das Constanzer Konzil ist kein "frei Concilium" gewesen, daher war es nutzlos (WA 6,258 = Cl 1,281,16). Der Curie wird zur Last gelegt alles, was dort zur Verderbnis der Kirche geschah. Wie der Gottlose im Psalmwort, hat der Papst auf dem Konzil "zerschlagn, zerkrümmet, zerfället den armen Haufen mit seiner Gewalt" (WA 8,717). "Das Evangelium oder die göttliche Wahrheit ist zu Costnitz öffentlich verdammt" (EA 10,53; WA 5,392). Hätte man die vom Apostel geforderte Milde und Lindigkeit walten lassen, so wäre das Unheil vermieden worden. So kommt es, (216) dass der Kaiser Sigismund durchweg bei Luther als der unschuldige "fromme" Fürst erscheint. Ihm waren durch den Papst die Hände gebunden; hätte er "frei dürfen handeln, wie er es im Sinne hatte", so wäre in Costnitz der "Bosheit weniger" geworden (WA 6,589). Der Geleitsbruch fällt lediglich dem Papsttum zur Last und rangiert in gleicher Reihe mit den päpstlichen Machinationen gegen Vladislaus von Ungarn und den Kaiser Maximilian bez. Ludwig von Frankreich. Gottesordnung über Papstordnung setzend verwirft Luther aufs Schärfste den Einwand, einem Ketzer brauche man das Geleit nicht zu halten -- da er ihn schon in die Zeit des Konzils verlegt, hat er ihn wohl einer schriftlichen Quelle entnommen. Der "arme" Kaiser hat trotz allem genug büssen müssen: möchte Kaiser Karl, so fügt er bei, nicht an ihm (Luther) ein Gleiches erleben! Es ist ihm nichts mehr geglückt, nicht nur, dass das böhmische Schisma sich an die Verdammung Hussens heftete, er ist ohne männliche Nachkommen gestorben, sein Enkel Ladislaus starb früh, sein Geschlecht ist untergegangen, seine Gattin Barbara stand in bösem Rufe. -- Die Gegenwart muss über Sigismund ein anderes Urteil fällen. Er hat freilich anfänglich versucht, Huss aus dem Ketzerprozess herauszureissen; als man ihm aber vorstellte, dass sein böhmisches Erbe durch jenen in Gefahr stehe, hat er sogar selbst auf Verurteilung hingewirkt. (217) "Er hat also die Zusagen, die Huss nach Constanz verlockt hatten, in aller Form gebrochen".

Doch es wäre verkehrt, diese Beurteilung Sigismunds lediglich als Rückwirkung seiner persönlichen schroffen Verwerfung des Papsttums bei Luther aufzufassen. Seine Zeit urteilte über Sigismund ähnlich wie er; sie sah in ihm nicht den Ketzerrichter, sondern den Reformator, der das grosse Reformkonzil zusammenrief, ja, wie man glaubte, selbst eine "Reformation" schriftlich aufgesetzt hatte. Man kannte dieses Schriftstück, Luther hat es wohl auch gelesen. Die Humanisten schätzten ihn als ihren kaiserlichen Gönner neben Maximilian, kurz, Luthers Urteil befremdete zi seiner Zeit nicht.

Luther hatte bei Erasmus gelesen, dass Huss wohl verurteilt, nicht aber überführt werden sei; in der Zuschrift der Kirchenpostille hat er es noch einmal wiederholt und die göttliche Notwendigkeit aus einer Prophezeiung, dass der Antichrist die Christen mit Feuer verbrennen soll, erkannt (EA 7,5), Doch Luther weiss jetzt genau, wie die Verurteilung vor sich gegangen ist. Hatte er in (218) Leipzig noch das Konzil in Schutz genommen und einem Fälscher die Christianissimi articuli zugeschoben, die in die Akten eingeschmuggelt seien, so erscheint jetzt das Konzil in Parallele mit dem Synedrium,l das falsche Zeugen aufstellte, um ein rechtmässiges Urteil zu erzielen. Vielleicht hat er in Poggios Brief gelesen, dass Hieronymus von Prag in seinem Verhör seinen Richtern entgegenwarf, sie dürften den Zeugen keinen Glauben schenken, zumal sie nicht aus Wahrheitstrieb, sondern aus Hass und Missgunst ihre Aussagen machten. Die persönliche Kenntnis von Hussens Schrift und ihr Vergleich mit den ausgezogenen Artikeln derselben in den Akten hat dann das Gelesene bestätigen lassen, vielleicht mag er auch um die Controversreden zwischen Huss und seinen Zeugen gewusst haben. Er verweist "klerlich" auf "schrift und buchle". -- Auch Detail aus den Verhandlungen ist Luther bekannt. Als man über die communio sub utraque debattierte, "da fur der Florentiner Kardinal erfur und sprach: Ach lasset die Bestien essen und trinken was sie wollen, sie wollen aber uns reformieren und recht lehre, da lasst uns streiten wider sie" (Auf des Bocks zu Leipzig Antwort). Bei der Verurteilung haben "heimlicher weyss" die "Junckherrn unternander drob beradschlagt placet? placet? placet? und also ist er durchs placet der ungelarten tyrannen hyngericht". Ausdrücklich beruft sich hier Luther auf "etlich akta" (WA 6,591). -- Über die verurteilten Artikel des Huss spricht sich Luther jetzt rückhaltslos anerkennend aus. In der Leipziger Disputation hatte er (219) vier hussitische Artikel als christlich anerkannt (WA 2,279f = eck04#3), in den Resolutionen hatten die vier sich in "viele" verwandelt (WA 2,406 = releip03#31), ebenso hatte er Eck geschrieben: "ich halte jetzt viel mehr Artikel des Huss als in Leipzig" (WA 2,702), und als die Bannbulle seine Aussage in Leipzig verdammenswert fand, revocierte er dem päpstlichen Willen folgend seine damaligen Worte: "Ich habe geirrt, nicht einige, sondern alle Artikel des Johann Huss, die man verdammt hat, sind evangelisch uhc christlich" und der Antichrist hat sie in jener "Satanssynagoge" -- absichtlich gebraucht er das Wiklifsche Wort -- verurteilt (WA 5,215; EA 24,134). In seiner Antwort auf die Wormser Revokationsartikel hat er das Urteil wiederholt (WA 7,612).

Luther hatte in der Leipziger Disputation und ihren Resolutionen dem Konzil d. h. faktisch der Curie die Verbrennung des Huss Schuld gegeben. Eck beeilte sich das "Konzil zu Constenz zu entschuldigen" (cf den Titel seiner Schrift WA 6,576) und in seiner prefiden Art Luther bei der Nation in Misskredit zu bringen. Huss sein verurteilt, ehe dne Papstwahl vollzogen worden sei, als die Entscheidung bei den Nationen stand; diesen, nicht der Curie, sei daher der Prozess aufzubürden. Luther musste im ersten Punkte seinen Irrtum eingestehen; was aber den zweiten angeht, so wälzt er doch wiederum die ganze Schuld auf die Curie, die den Kaiser bethört habe (WA 6,589). Hat ihm hier wohl Ulrich von Richenthal zur Prüfung der Eckschen Aussagen gedient, so hat der dort auch gelesen, was er von Huss' Tod erzählt: "Man hat die Erde mit der Asche ausgraben und in den Rhein geworfen". Die Verbrennung hat Luther als (220) etwas ungeheuerliches beurteilt; es ist die erste, welche er kennt, bisher ist man milder verfahren (WA 6,589). -- Doch in Wahrheit ist Huss nicht tot, seine Lehre geht nicht unter: "es hilft sie keyn damnen, kein schreyen, kein plerren, er ist forblieben und gerumet alltzeyt, wie noch keinem Ketzer widerfahren ist (WA 8,229). Man hat in ihm die Wahrheit Christi verdammt (WA 5,392), "die Christmörder in Costnitzer Konzil haben Huss angetastet", (EA 10,84) aber er hat die Papstgewalt definitiv umgestossen (EA 24,124).

Bekanntlich hat Luther in der Schrift an den christlichen Adel die böhmische Frage zu lösen unternommen; er konnte es nur auf Grund genauerer Kenntnis der Verhältnisse. Er hatte "gehört" (Anfang 1520), dass "die grösste sach sey das die Bemen geystliche guter haben zu sich bracht yn dem Schisma" und dass man römischerseits Rückgabe dieses Kirchengutes verlangt (WA 6,81). Zunächst giebt er -- analog wie in der Abendmahlsfrage -- beiden Teilen Unrecht, die sich im Streit um zeitliches Gut hätten vertragen müssen, ein halb Jahr später (wie gesagt, in der Schrift an den Adel) aber liegt die Hauptschuld bei den Römlingen, die Böhmen werden nur gelinde ermahnt. Luther will ihnen die "geistlichen Güter" belassen wissen. Die Forderung war kühn, wenn man bedenkt, welch ein gefährlicher Zündstoff für die Masse darin gelegen hatte und noch lag. Die Einziehung des Kirchengutes war der Punkt gewesen, an welchem sich die hussitische Propaganda am wirksamsten erwiesen hatte; hier war dem Hass der von der Pfaffenherschaft Bedrückten gleichsam ein greifbares Objekt gegeben, auf der Bürger und Bauern Kosten war die Kirche reich geworden, nun sollte sie das Geraubte herausgeben, damit es der Lage der Massen aufhelfe. So war die "hussitische Ketzerei" ein wirksames Moment der sozialen Bewegung (221) des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts. Hier kam die öffentliche Meinung Luther entgegen, und vielleicht hat er von ihr "gehört" über jenen Streitpunkt in Böhmen. Mit fast naiver Sorglosigkeit erhebt er dennoch seine Forderung, ohne zu ahnen, welche Waffe er damit dem Volke in die Hand drücken konnte; Murner hat es geahnt, wenn er in seiner Gegenschrift Luther an die Greuelthaten erinnert, unter welchen die Böhmen ihr Ziel verfolgten, wie sie "Munch und Pfaffen zu todt geschlahen" (Enders II, 520f). Die tief innerlicht religiöse Motivation hat LUther an jene eventuellen Folgen nicht denken lassen; wo es gilt Seelen zu retten, da sollte der Papst nicht eigensinnig auf irdischem Gut bestehen (WA 6,81, 547). -- Seine übrigen Reformvorschläge sind zumeist an den Satzungen des nicänischen Konzile orientiert. Luther fordert, man solle eine Kommission nach Böhmen schicken, um die Verhältnisse zu erkunden. Wenn er sagt "beilieb keinen Kardinal", so erfährt das eigentümliche Beleuchtung durhc die Thatsache, dass König Wenzel 1411 den Wunsch geäussert hatte, es möchte ein Kardinal mit päpstlicher Vollmacht zur Beilegung des Kirchenstreites nach Böhmen gschickt werden. Luther wünscht, der Papst solle sich jeden Eingriff enthalten: ein vom Volke gewählter Erzbischof soll die verschiedenen Parteien zu einen versuchen. In freischer Kühnheit warf er in der "Verklärung etlicher Artikel" etc. die Bemerkung hin, fast "wolt er persönlich hyneyn yn Behemen, vorsuchen, ob ich yhr eyns teyls mocht unter die eynickeit Romisch stuls und zum hauffen bringen" (WA 6,82). -- So hoch Luther Huss schätze, nie hat er den mit ihm getriebenen Kultus gebilligt (cf WA 6,455, 588). Man pflegte den Todestag des Märtyrers zu begehen, noch 1534 klagt Cochlaeus über diese "langeingeführte Gewohnheit". (222).

Anhangsweise sei hier des "Papstesels" gedacht, den Luther in der Predigt über den 2. Adventssonntag in der Kirchenpostille erwähnt, in welchem er eines jener Zeichen sieht, welche "die Sternmeister und Frau Hulde" nicht "aus natürlichem Lauf" zu erklären vermögen. Lange hat nachgewiesen, dass das bekannte Blatt mit dem Monstrum von Wenzel von Olmütz stammt, dem es aus Italien zukam, und hat es sehr wahrscheinlich zu machen vermocht, dass die böhmischen Brüder es nach Wittenberg zu Luther brachten. Er hatte dann angenommen näher, "dass bei einer der Sendungen, die Luther während des Sommers 1522 aus Mähren erhielt, sich auch der Kupferstick des Wenzels von Olmütz oder eine ähnliche Abbildung des römischen Monstrums befunden hat". Lange hat es für möglich gehalten, dass Luther schon Anfang 1521 in den Besitz jener Abbildung kam, aber keinen Beweis finden können. Derselbe liege in der Kirchenpostille nunmehr vor, und es wird wohl sicher angenonnen werden dürfen, das jener iuvenis eruditus, der ihm das Büchlein des Ulrich Velenus brachte, auch den Papstesel ihm gab. Es wird auch jetzt nicht mehr gesagt werden dürfen, dass Melanchthon der erste Deuter des wunderlichen Tieres gewesen sei und Luther späterhin seine Interpretation acceptierte. Luther giebt in der Postille die Deutung, welche Melanchthon späterhin weiter ausführte: "einen Eselkopf, eine Frauenbrust und -bauch, einen Elefantenfuss ander rechten Hand und Fischschuppen an den Beinen und einen Drachenkopf am Hintersten". "Darinnen das Papsttum bedeutet ist, der grosse Gottes Zorn und Strafe". In dieser Auslegung des Untiers waren die Böhmen Luther vorangegangen. Dass es ursprünglich um ein vom Tiberfluss bei der Ueberschwemmung ausgespieenes Ungetüm sich handelte, ist Luther noch bekannt gewesen. Nur die Jahreszahl 1496, die Melanchthon (223) später nannte, ist ihm nicht mehr erinnerlich, er sagt allgemein: vor kurzen Jahren".

So ausführlich Luther sich mit Huss beschäftigt hat, so wenig weiss er von Hieronymus von Prag und Wiklif, er hat sie gleichsam nur als Anhängsel zu Huss gewürdigt. Gelesen hat er von Wiklif sicher nichts. ebensowenig von Hieronymus. Von diesem erzählt er nur, dass er mit Huss verbrannt worden sei (WA 6,588; 5,221; 389; EA 7,5), was er von jenem weiss, hat er in den Konzilsakten gelesen; daher er nur von "articuli" Wiklifs berichtet (WA 2,633). Schon in de Leipziger Disputation hatte er einen Wiklifschen Artikel citiert und denselben mit Huss'schen Ansichten indeitifiziert. Ebenso hatte er Wiklif und Huss die Behauptung zugeschrieben, die Dekretalen seien apokryph, es war ein Wiklifscher Satz, den Luther in den Konzilsakten las. (Artikel 38 bei Harduin. Eck hatte erstmalig Luther denselben vorgerückt WA 2,643). Den Ausdruck Synagoge Satanae auf kurialistiche Institutionen bezogen entnahm er auch dorther; man hat ihn damals im Wittenberger Freundeskreise besprochen, Melanchthon schreibt, dass Wiklif zuerst die Universität also benannt habe. Als man Luther  seinen Satz: liberum arbitrium post peccatum res est de solo titulo in die Bannbulle setzte, widerrief er ihn in der Assertio omnium articulorum, ihn durch den absoluten Determinismus überbietend ausdrücklicher Beziehung auf Wiklifs zu Constanz verdammten Artikel; omnia (224) de necessitate absoluta eveniunt. Es ist Artikel 27 der verdammten Sätze Wiklifs, den er wörtlich wiedergiebt. Von einer Abhängigkeit etwa des Huss von Wiklif ist ihm nichts bekannt; die beiden stehen ihm nebeneinander (WA 8,717, 162; WA 7,146 = ass04#63 und die unten angegebenen Stellen), fast möchte man sagei ineinander, aber nicht nacheinander. Doch hat seine Zeit hier, soweit ich sehe, geradeso geurteilt. Weil beider Sätze auf dem Constanzer Konzil verdammt waren, war Wiklifit und Hussit gleichbedeutend, darum wechseln auch die Anklagen gegen Luther auf Wiklifitismus und Hussitismus ohne Unterschied ab. (cf WA 2,401; 6,508; 8,210; 273f; 286; 717; 5,231; 7,837). Die Lutherschen Worte: sive sit Wiclef sive sit Huss, non curo geben treffend die Sachlage wieder. --

Es ist ein mannigfach verschlungener Weg, den die Aeusserungen Luthers über die Böhmen den Untersuchenden gehen lassen. Gerade dadurch dass sie nicht bei Seite stehen gleichsam als fremdes Gut, sondern als persönlichster Besitz mit seinen innersten Empfindungen verbunden sind, haben sie etwas Bewegliches, Wechselndes, selbst Sprunghaftes an sich; sie machen die Schwankungen mit, welche durch Einreden der Gegner, Wandelungen der Beurteilungsweise auf Grund eigener Erfahrung bei Luther hervorgerufen werden. Als Richtlinien heben sich deutlich heraus die Leipziger Disputation und die Lektüre von Huss de ecclesia. Jene liess die erste Sympathie lebendig werden, diese wandelte die bisherige antithetische und negative Verwendung Hussscher Sätze um in die positive Billigung und Vertretung derselben. In der frühesten Zeit sahen wir Luther ganz auf dem Boden seiner Kirche stehen. Doch berührt eine gewisse Noblesse der Beurteilungsweise wolhthuend. Gewiss spart er keinde Schärft, um die Ketzerei der Böhmen zu verurteilen, aber die Strenge erniedrigt sich niemals zu gemeiner Schimpferei, wie das bei Emser u. a. der Fall ist. Hier scheut man sich nicht, die alten Lästerungen der Christenverfolger auf ödipodeische Vermischungen und thyesteische (225) Gastmähler gegen die Grubenhainer wiedr aufleben zu lassen. Luther hat um diese Schmähungen wohl gewusst, er hält es für nötig, daran zu erinnern, dass die Böhmen "Menschen seien und kein Vieh" (WA 2,287 = eck05#28f; 665), und hat von Anfang den Gedanken gehabt, dass sie durch Güte und duldsames Entgegenkommen wiedergewonnen werden könnten.

Gegnerischerseits hat man die bedeutende Schwenkung Luthers in seinem Verhältnis zu den Böhmen wohl bemerkt; dafür zeugen nicht nur die nach der Leipziger Disputation wie Pilze aus der Erde schiessenden Schmähungen auf Hussitismus, Heinrich VIII. von England hat ihm in aller Form vorgehalten, dass er nunmehr dasselbe thue, was er früher an den Böhmen verabscheut habe -- er datiert den Umschwung von de captivitate babylonica. Dungersheim sagt ihm schon unmittelbar nach der Leipziger Disputation: "kurz vorher noch hast Du in Deinen Schriften mehr als einmal die Pikarden sichere Ketzer genannt, jetzt spricht Du ihren Patron" (Enders II 176).

An Quellenkenntnis erhebt sich Luther kaum über den Durchschnitt, Eck ist ihm darin überlegen gewesen, er schaltet mit (226) den Quellen in einer sachkundigen Weise, wie sie Luther nie besessen hat. Auch Emser steht Luther nicht nach, ihm ist Gerson und Antonius voin Florenz Hauptquelle für das Konzil, die Luther ja auch beide gekannt, aber nicht für das Constantiense als Quelle benutzt hat. Alveld citiert nach den Konzilsakten. Dass Luther Hussens de ecclesia früher kennen lernte als Freunde und Gegner, verdankte er böhmischer Liebenswürdigkeit, nicht eigenem Forschungseifer. Freunde wie Gegner haben sich alsbald beeilt, den Vorsprung, den Luther hier hatte, einzuholen. Die Kenntnis Poggios und einzelner Flugschriften ist auch nichts Aussergewöhnliches. Die Originalität Luthers liegt nicht in dem Material, welches er hatte, sondern in der Verwertung desselben. Das führt hinüber zu einer zusammenfassenden kritischen Betrachtung seiner Stellung zu Huss.

Zum Ausgangspunkt sei genommen eine Aeusserung Luthers in der Assertio omnium articulorum, die Stelle, an welcher Luther am klarsten sich über Huss ausgesprochen hat (WA 5,216; 7.,135 = ass04#1ff). Er beginnt damit, alle zu Costnitz verdammten Artikel für christlich zu erklären, sieht damit also nochmals in Huss das Evangelium wieder aufgelebt. (WA 7,612). Aber sich selbst setzt er doch nicht mehr völlig auf die gleiche Stufe mit Huss, sondern eine Stufe höher. Es ist nicht richtig, sagt er, mich einen Hussit zu nennen: denn Huss hat viel Geringeres und weniger gesagt (minora et pauciora). Huss ist nur der Anfänger einer Offenbarung der Wahrheit. (velut inchoans lucem veritatis aperire). Er hat freilicht "nicht (227) wenig dem römischen Idol und seinen teuflichtn Statuten genommen", aber nicht genug. Er ist stehen geblieben auf einem Standpunkt, den Luther früher eingenommen hatte (conatus enim fuit vir ille ... id quod et ego in principio conabar), nämlich die Kirche von dem Boden des geistliches Rechtes aus zu reformieren (ut decretis papalibus veritatis opinio salva maneret); das war unmögliche Aufgabe, daran musste er scheitern (at iis salvis ipsum perire necesse erat). Nun präzisiert Luther das Zurückbleiben des Huss auf folgende Punkte: er hat einen gottlosen Papst zwar nicht mehr als membrum ecclesiae gelten lassen, aber dennoch dulden wollen wie jeden Tyran; Luther aber negiert nunmehr den "Sitz der Bestie" überhaupt, es soll kein Papsttum mehr existieren, sodass die Frage nach der sittlichen Qualität seines Trägers hinfällig wird. Ferner nennt Huss die Dekretalen nur "apokryphisch", nicht "gottlos und christwidrig" und des Verbrennens wert. "Vielleicht" -- diese Zurückhaltung ist beachtenswert, es kündet sich hier an das innere Ringen Luthers auf der Wartburg über die vota monastica und den Cölibat -- hat Huss auch darin gefehlt, dass er 12 consilia evangelica aufstellte, wo es doch nur ein solches giebt, die virginitas sive coelibatus". (ass04#7) "Doch, so fügt er entschuldigend bei, in diesem Punkt hat er sich durch Thomas und die Thomisten täuschen lassen". Kurz: "war vortrefflich war an Huss, haben sie verdammt, was aber nicht gut war, gebilligt. So nehme ich meinerseits die verdammten Artikel von Huss auf, aber alles von Huss, wenn auch seine Richter es billigten, lasse ich nicht zu". --

Hier ist ebenso bedeutsam, was gesagt ist, als was nicht gesagt ist. Denn welche Punkte aus den verdammten Artikeln des Huss ihm besonders wertvoll sind, lässt sich auf Grund seiner (228) Rechtsautorität des Papsttums, nämlich die Aufstellung des "Gesetzes Christi", wie es im alten und neuen Testamente enthalten ist, als höchster Norm bei Luther sich findet, freilich als Konsequenz eines anderen massgebenden Gedankenkreises, des Evangeliums von der freien Gnade, nicht als selbständiges Ganzes. Aus der Inkongruenz der biblischen Forderungen mit dem Papsttum, wie es sich gab, ist auch Luthers Polemik gegen dasselbe hervorgegangen, und mehr wie einmal hat Luther Beispiele aus der Geschichte für päpstliche Unsittlichkeit herangezogen und -- genau wie Huss -- gerade daraus die Widerchristlichkeit des Papsttums bewiesen (Huss rekurriert wiederholt auf die Sage von der Päpstin Johanna, cf de ecclesia 138 und 98).

Aber hat nun Luther Recht, wenn er sagt, Huss habe den Papst dulden wollen, wie man einen Tyrannen duldet, und ist es wirklich ein Mehr gegenüber dem Weniger, wenn er seinerseits das ganze Papsttum beseitigt wünscht, handelt es sich nicht vielmehr um eine Verschiedenheit der Gesichtspunkte, die letztlich in einen Gegensatz ausmündet? Luther setzt Huss auf den Standpunkt, den er selbst früher gehabt hat, dass um der Ordnung willen das Papsttum bestehen bleiben könne, ohne Autorität in Heilssachen, wohl aber in Sachen der Disziplin. So denkt aber Huss thatsächlich nicht. Denn diese ihm von Luther zugeschobene Auffassung setzt die Negierung der Bedeuting der empirischen Kirche als Mittel zur Heilserlangung voraus; gerade diese aber hat Huss nicht vertreten. Für ihn hat die "Kirche" eminente Bedeutung, darum ist für ihn auch jene Gleichgültigsetzung des Papsttums unmöglich, er kennt hier nur ein Entweder-Oder, nicht ein Nebeneinander durch Trennung der Wirkungssphären. Indem Huss die lex Christi als absolute Norm der Zugehörigkeit zur Kirche fasst, kann ihm der Papst nur dann Papst sein, wenn er jener Norm gemäss lebt. Thut er es nicht (231) -- und dadurch, dass schon die weltliche Herrschaft dem Gesetze Christi zuwider ist, ist es faktisch perpetuell so -- dann sind alle Mittel anzuwenden, ihm die prätendierte Autoritätsstellung zu nehmen, von einem "tragen" ist da keine Rede mehr, ebensowenig von disziplinarer Oberhoheit. Hier kommt Huss thatsächlich --  freilich auf ganz andere Wege -- bei demselben Ziele an wie Luther. An diesem Punkte hat Luther den Böhmen unterschätzt. Es wird sein Blick vorzüglich an den Stellen gehaftet haben, an welchen Huss jene bedingte Anerkennung des Papsttums ausspricht, die Luther von seinen Standpunkte aus nicht anders mit der Leugnung des Papsttums iure divino in Einklang zu setzen vermochte als dadurch, dass er eine Anerkennung iure humano unterschob. Dadurch, dass Huss die empirische Rechtsordnung der Hierarchie als notwendiges Mittel für die Einheit der Kirche (in umfassendstem Sinne) verwarf, glaubte sich Luther zu der Annahme berechtigt, er wolle überhaupt der empirischen Kirche keine Bedeutung für die Heilserlangung mehr zusprechen. Das war ein Irrtum. Er übersah, dass das Papsttum, dem er (mit Huss) das ius divinum absprach, eine ganz andere Grösse war als das Papsttum, welches Huss bedingt anerkannte. Für ihn handelte es sich beidemale um die Hierarchie, für Huss nur im ersten  Falle, im zweiten hingegen um einen -- allerdings partikularen -- Bestandteil der empirischen Kirche, sofern sie als sittliches Gottesreich Mittel ist für die Erlangung des Heils.

Vergegenwärtigt man sich dieses, so ergiebt sich, dass Luther zu zwei Punkten den Kirchenbegriff des Huss misverstand: erstlich übersah er die Bedeutung der empirischen Kirche für ihm, sodann die Spezialisierung derselben als sittlicher Gemeinschaft des Reiches Gottes. Beide Punkte hängen aufs Engste zusammen. Luthers Interesse haftet an der Huss'schen Definition der Kirche als ecclesia una quae est praedestinatorum numerus. Alle die sich an diese Definition knüpfenden Bestimmungen, dass die Kirche Glaubensobjekt, universal sei, nicht aufgehe in organisierten Rechtsanstalten, waren ihm wertvoll. Jene Definition war für (232) sein Bewusstsein notwendige direkte Ergänzung der Leugnung des Papsttums iure divino, für Huss war sie es nur mittelbar, sofern sich die empirische Kirche zwischenschob. Damit aber wird die Bedeutung jener ideellen Grösse bei beiden eine ganz andere. Huss sieht in ihr gleichsam ein über den Gläubigen Schwebendes, welches die geheimnisvolle Einheit derselben ist, von der man wohl allgemein die Bedingung zur Zugehörigkeit feststellen kann -- das Prädestiniertsein -- ohne derselben aber persönlich gewiss zu werden, sodass man auf die vermittelnde Hülfe der empirischen Sakramentskirche angewiesen ist. Für Luther aber fällt diese Vermittlung fort, weil ihm die congregatio fidelium nicht mehr wesentlich als ein zu erstrebendes, vor dem Gläubigen liegendes Ziel erscheint, sondern eine reale Gemeinschaft bereits gewiss sind. Luther lässt also den Kollektivbegriff nur gelten als Zusammenschluss der des Heils gewissen Individuen, während bei Huss der Kollektivbegriff für die Individuen überhaupt nie praktisch wird, es sei denn als Lockmittel, zum Sakramentgebrauch anzuleiten. Dass aber Luther jene Zwischenschiebung der empirischen Kirche zwischen das Individuum und den geistigen Kirchenbegriff übersehen konnte, mag dadurch begreiflich werden, dass ihm selbst die congregatio fidelium nicht als ecclesia invisibilis in schroffer Trennung neben und über der empirischen Gemeinde stand, sondern in Wort und Sakrament ihr erkennbares Zeichen für den Gläubigen besass, für diesen real, "empirisch" auf Erden existierte und aus dieser Gemeinde heraus aus dem Worte geboren wurde. Diese Verbindung zwischen congregatio fidelium und empirischer Gemeinde glaubte er wiederzufinden, wenn Huss die empirische Kirche als Mittel für die Erreichung der Einbeziehung in die ideale hinstellte; dass hier thatsächlich schroffste Differenz, sowohl in der Fassung der Empirie wie in der Mittlerbedeutung der Gemeinde vorlag, entging ihm.

So ist also die Uebereinsstimmumg zwischen Luther und Huss wesentlich formell, beide kennen einen ideellen Kirchenbegriff, (233) bestimmen ihn aber unterschiedlich und vindicieren ihm durchaus verschiedene Bedeutung. Schon die Bedingung der Zugehörigkeit ist hier wie dort nicht die gleiche, bei Huss die Prädestination, bei Luther der persönlichen Glaube. Und gerade um dieses persönlichen Glaubens willen fällt die Bedeutung der Sakramente als Kanäle gleichsam der einzugiessenden Gnade, -- der Standpunkt der Macht der empirischen Kirche für Huss -- für Luther dahin. Allerdings wird vom Glaubensbegriff aus andrerseits verständlich, wie Luther die Differenz in der Fixierung jener Bedingung entgehen konnte. Je nach der Antithese nämlich wechselt sein Glaubensbegriff. Gilt es ihn gegenüber der magischen Wirksamkeit der Sakramente zu betonen, so erscheint er als Persönlichkeitsthat, steht er aber der Werkgerechtigkeit gegenüber, so ist er lediglich That Gottes bez. der Gnade (cf z. B. WA 5,460 mit 8,157, 169). Die Antinomie zwischen dem Thun Gottes und dem Thun des Menschen hat Luther in unserer Zeitperiode nicht gelöst, weil er sich an überkommenen Begriffen orientierte, die es zu bekämpfen talt. Die Verfolgung der zweiten Linie aber führte zur Prädestination, und Luther hat dieselbe in unserem Zeitabschnitt nie bekämpft, vielmehr führte seine ganze Gedankenentwicklung notwendig zu derselben hin. Hat er nun ausdrücklich sich auf Wiklif, der ihm mit Huss rücksichtlich der Lehre identisch war, berufen, um die absolute Determination der Willenshandlungen zu erweisen, so kann es nicht befremden, dass er seine eigene Meinung in der Huss'schen Definition ecclesia = numerus praedestinatorum wiederzufinden glaubte.

Und wie steht es mit der Konsequenz des allgemeinen Priestertums? Huss kennt sie nicht, kann sie nicht kennen, da er ihre Voraussetzungen nicht kennt. Indem er der empirischen (234) Kirche heilvermittelnde Bedeutung zuschrieb, hat er dieselbe gut katholisch im Priestertum als dem Verwalter der Sakramente konzentriert, ja, er war so inkonsequent, während er sonst das sittliche Leben nach der lex Christi als Bedingung der Verwirklichung der wahren Kirche fasst, nicht darauf zu reflektieren, ob nun etwa bei einem Priester die Gutbeschaffenheit nur heuchlerisch war, weil das Wesentliche doch wieder die von ethischen Qualitäten unabhängige rite vollzogenen priesterliche Funktionen waren. Wie konnte ihn da Luther misverstehen? Zunächst schon deshalb, weil er ihm seinen Kirchenbegriff unterschob, aus dem jene Lehre resultierte. Dadurch wurde es möglich, die Befugnisse, die Huss thatsächlich dem Laien zuschrieb im Sinne des allgemeinen Priestertums zu deuten. Huss gibt dem Laien das Recht, im Falle der Not zu taufen, auf Grund der lex Christi dem mit ihr nicht in Einklang stehenden Priester, Bischof oder Papst zu massregeln und will dementsprechend das Binden und Lösen nicht ohne weiteres dem Priester als Priester zugesprochen wissen. Hier waren Ansatzpunkte für Luther, den Sondercharakter des Priestertums bei Huss verschwunden und die Laien zu Priestern heraufgehoben zu sehen. --

Indem nun aber Luther die Bedeutung der empirischen Kirche für Huss übersah, entging ihm, dass dieser sie näher als sittliches Gottesreich fasste, und so konnte es ihm begegnen, dass er die böhmische superbia, heilig sein zu wollen nicht mehr tadelt. Er hat auch hier mit seinen Augen Huss angesehen und so in der inneren Glaubensstimmung das Konstitutive der Zugehörigkeit zur Kirche bei Huss gesehen, nicht in der sittlichen Qualität. Dass vollends eine Inkongruenz vorlag bei dem Böhmen zwischen seiner Definition der Kirche als numerus praedestinatorum und als sittliches Gottesreich, hat er nicht bemerkt. Freilich lag ein Ansatz vor, es zu bemerken, darin, dass ihm das Halten der consilia evangelica auffiel. Aber er vermochte diesem Einzelpunkt (235) nicht seine Stellung im Gesamtorganismus des hussitischen Systems anzuweisen, er erschien ihm als Rest der Tradition bei Huss. --

So ergiebt sich das merkwürdige Schauspiel, dass Luther Huss an dem Punkte, in welchem seine Grösse liegt, unterschätz hat, hingegen da, wo dieser genuin katholische Ideen wiedergab, bedeutend überschätze. Er hat den Schlüssel zum Verständnis der Abweichung das Huss von traditioneller Lehrweise gesehen in dem Gedanken, die Kirche sei Gemeinschaft der Prädestinierten und hat diesen mit seinem Kirchenbegriff und seinen Konsequenzen identifiziert; er hat nicht bemerkt, dass es sich hier um Ideen handelte, welche seine Kirche seit Augustin nie verleugnet hatte. Doch wird man zu seiner Rechtfertigung sagen dürfen, dass Theorie und Praxis in derselben sich nicht deckten, dass sie im praktischen Leben die empirische Kirche so stark betonte, dass der Zweck, dem diese als Mittel diente, die Einverleihung in das corpus Christi mysticum zurücktrat, so stark zurücktrat, dass Luther eine reformatorische That da zu sehen glauben konnte, wo jener Zweck in hellstes Licht gesetzt und zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht wurde. Schon bei Augustin war es ihm ähnlich gegangen, er hat ihn nicht verstanden, darum auch Huss nicht, der sich -- in korrekter Weise -- auf diesen berief. Dass nun aber diese Betonung der geistigen Einheit bei Huss dem Papsttum einen tötlichen Stoss versetzte und in Verbindung mit dem Begriff der Kirche als sittlichen Gottesreiches dasselbe, wie es thatsächlich war, beseitigte, diese neue, reformatorische That des Huss hat Luther nicht zu würdigen verstanden.

Indem Luther den Böhmen und mit ihm den Briten eine Stufe tiefer als sich selbst innerhalb der historischen Entwicklung setzte, hat er sie schlechthin als "Vorreformatoren" bezeichnet und jene Schätzung des Huss und Wiklif herbeigeführt, die in der evangelischen Kirche herrschend geblieben ist, bis in der jüngsten Vergangenheit in der scharfen Fixierung des reformatorischen Kirchenbegriffs ein neuer Schlüssel zum Verständnis jener gefunden (236) wurde. Nunmehr erscheinen in dem Glorienscheine der Märtyrer evangelischer Wahrheit, sondern als Reformer auf dem Boden katholischer Anschauungen, und auch dem Konstanzer Konzil wurde eine gerechtere Beurteilung zu teil, als sie Luther Von seinen vorgefassten dogmatischen Ideen aus zu geben vermochte.

XI. Tauler.

Fra kapitlet: Gerson. side 344.

.... dass eine ganz bestimmte Seite von Gersons Thätigkeit sein Interesse ganz in Anspruch nahm: Gersons Kirchenpolitik. Der Schärfe, in welcher im reiferen Alter Eindrücke früherer Zeiten, die längst vergessen schienen und kaum allzu bedeutsam waren, mitunter aufzutauchen pflegen, entstammen die eingangs genannten Aeusserungen über Gerson; thatsächlich ist der Bewusstseinsinhalt, den sie wiederspiegeln, gar bald verdrängt worden durch die zwingend Macht Gersonscher Kirchenpolitik. Als Kirchenpolitiker wird Gerson erstmalig von Luther erwähnt; er hat ihn als solchen würdigen gelernt in den Jahren, das die stille unter Wirksamkeit der Mystik sich vollziehende theologische Privatarbeit, die mehr der Beruhigung des eigenen Gewissens als der Belehrung anderer galt, hinter ihm lag, und er begann, der Aussenwelt mit ihren Fragen, zunächst auf seelsorgerischem Gebiete, näherzutreten.

Die erste Erwähnung findet sich in den Fastenpredigten von 1518; Luther spricht über die Erlösung, weist sein Hörer allein auf Christum und warnt vor dem Vertrauen auf eigene Werke: (345) "Mercket nu auff, ... das ir euch nicht mit diesen oder jenen wercken erlösen werdet. Denn es wird euch gehen als einem der im Sande erbeitet, je mehr er auswirfft, je mehr auff in fellet. Darumb sind ir auch viel vnnsinig worden, als Johan Gerson sagt, das sie sich haben düncken lassen, einer sey ein Wurm, der ander ein Mann etc" (WA 1,276). Wenn auch mit Sicherheit nicht angegeben werden zu können scheint, welches Citat Luther im Auge hat, so ist doch gewiss, dass Gerson sich in ähnlichem Sinne geäussert hat. Luther hatte Recht, in ihm einen erfrischenden Protest gegen die in verknöcherte Gesetzlichkeit verfallene Werkheiligkeit seiner Zeit zu finden und ein Dringen auf Verinnerlichung. Es war ihm völlig neu, dass innerhalb der Kirche bereits ausgesprochen war, was er, so lebhaft er es empfand, doch nur schüchtern auszusprechen wagte: is (Gerson) primus cepit emergere ex illa captivitate. (Bindseil: Colloquia I 69)

Luther hat nicht verfehlt, an geeigneter Stelle auch fernerhin auf Gerson zu rekurrieren, wenn es galt, die Freiheit des Christenmenschen von mit Gefahr des Seelenheils bindenden Papstgesetzen zu erweisen. Das obige Citat kehrt wieder in der Kirchenpostille innerhalb der Predigt über Lc. 21,25ff. Luther spricht über den Vers: "Und auf Erden wird den Leuten bange sein".Die Bangigkeit versteht Luther von den geängsteten Gewissen, die von Werk zu Werk in Gelübden, Wallfahrt und Heiligendienst eilen, um Ruhe zu finden, die sie doch da nicht finden können, wie sie dieselbe suchen, "versuchen allerlei und hilfts nichts". "Und das ist eben ein Wildbrat für die Münche und Pfaffen, da giebts und lässet sich schinden, sonderlich wenn es Frauenvolk ist, da beichtet man und lässet sich lehren, absolvieren und führen, wo die h. Beichtväter hin wollen. Dieweil gehet das elend Volk hin, und ist unsers Herrgotts Zeichen zum jüngsten Tag". So schlimm wie "in diesen hundert Jahren" ist es bisher nicht gewesen, "darumb ists auch noch nic ein Zeichen (346) des jüngsten Tages gewesen denn nur jtzt". Gerson schreibt auch davon, "dass ihr viel drob toll und unsinnig worden sind". (EA 10,2,63) Das Citat, welches oben ein Wahnruf an die Werkheiligen war, ist hier unter teleologisch-kosmologischen Gesichtspunkt gestellt.

Wiederum praktischer Abzweckung dient die Heranziehung Gersons in der Frage der Verbindlichkeit der Gelübde. In der confitendi ratio von 1520 unterscheidet Luther Gelübde an die Menschen und an Gott. Erstere gelten nur solange als es der will, dem man gelobt. Auch giebt es konventionelle Dispense. Wie Gerson richtig meint, darf man Eide und Gelübde, wie sie an den Universitäten oder vor Grossen geleistet werden, nicht so genau nehmen, dass man jeden Verstoss als Auflösung des Gelübdes oder Meineid beurteilen wolle (WA 6,168). (n346) --

Luthers Berufung auf Gerson ist nicht wirkungslos geblieben; ihr ist es zu verdanken, wenn der grosse Pariser in der ersten evangelischen Dogmatik und der ersten protestantischen Bekenntnisschrift seine Stelle gefunden hat. In der Untersuchung de humanis legibus führt Melanchthon für seine Anschauung etiam recentiores quosdam et potissimum Gersonem an, qui nobiscum sentit, non obstringi conscientias humanis traditionibus, hoc est, non peccare eum, qui traditionem humanam violat, nisi intercedat (347) casus scandali (loci). In der Confessio Augustana heisst es ähnlich: Et in collegendis traditionibus ita fuerunt occupat scholae et conciones, ut non vaccaverunt attingere scripturam et quaerere utiliorem doctrinam de fide, de cruce, de spe ... de consolatione conscientiarum in arduis tentationibus. Itaque Gerson et alii quidem theologi graviter questi sunt se his rixis traditionum impediri, quo minus versari possent in meliore genere doctrinae (de discriminatione ciborum). Die Linie, welche Luther vorgezeichnet hatte, wird in beiden Ausführungen genau eingehalten. Wenn ferner Eberlin v. Günzburg auf Scotus, Occam, Gerson und Biel verweist dafür, dass "wol hundert iar lang und lenger hat ie meer vnd meer zu genomen klein haltung solcher ceremonien", so reicht er sich in der Beurteilung Gersons den Reformatoren an. --

Mit den Anschlag der 95 Thesen wurde Luther selbst, ohne es zu wollen, Kirchenpolitiker. Er wurde hineingezerrt in der Unruhe kirchenpolitischen Treibens, er musste seine Sätze vor der Oeffentlichkeit vertreten, es war ihm willkommen, den grossen Pariser als Stütze für seine Ansichten anführen ziu können. Seine Autorität hat er gegen die Kurialisten ausgespielt und sich mit ihr gedeckt, aus der Rüstkammer der Gersonschen Schrift de indulgentiis immer neue Waffen holend.
In These 8 schränkt Luther die Wirkungskraft der Busskanones strengstens auf die Lebenden ein und leugnet ihre Nachwirkung ins Fegfeuer. An vierter STelle bringt er das Argument, die Bussbestimmungen selbst gäben deutlich Tage und Jahre für Fasten, Vigilien, Wallfahrten etc. an, daraus ginge hervor, dass mit dem Tode diese Bestimmungen ein Ende haben, da es im Jenseits kein Fasten, Wallen oder sonstiges an Körper -- der ja nicht ins Jenseits mitwandere -- Gebundenes gäbe. "Daher wagt Johannes Gerson die Ablässe zu verdammen, die für viele 1000 Jahre gegeben werden", denn -- so ist Luthers Schluss -- (348) auch für ihn geht ins Jenseits die irdische Strafe nicht mit hinüber (WA 1,545 = res03#6ff). Gersons Traktat de absolutione sacramentali liegt Luthers Aeusserungen in erster Linie zu Grunde, heranzuziehen ist auch seine Schrift de indulgentiis. Gerson betont scharf, die Ablässe seien als Dispensationen zu fassen, sie seien aber vernünftig und de Erbauung dienend zu handhaben. Ablässe, die ohne vernünftigen Grund allein den Menschen zu Liebe oder aus ähnliche Motiven gegeben werden, haben keine Wirkungskraft. Propterea fatuae sunt et superstitiones quaedam intitulationes de Indulgentiis 20 mille Annorum; -- Luther gebraucht im Anschluss an Gerson die Formel fatuas et supersticiosas titulationes, -- und man solle durch die Prälaten Vorsorge treffen (providere sagt Luther mit Gerson), dass der Ablass nicht zum Gelächter werde. Die Hinübertragung der Strafenjahre auf das Purgatorium, sagt Gerson an anderer Stelle, rufe ein Bedenken wach; die Welt wird ja einmal ein ende nehmen, also auch das Fegfeuer, also können auch die Strafen nicht endlos sein (op II 408. cf 516).

Gemeinsam hat Luther mit Gerson den Protest gegen die Uebertreibungen der Ablassverkündiger, ihn hat er ebenso als eine befreiende That empfunden wie Gersons Streiten gegen die Ueberschätzung des Ceremonienwesens. Durchaus richtig ist ihm bewusst geworden, dass Gersons Anschauung vom Ablass nicht auf gleicher Stufe stand mit dem, was in seiner (Luthers) Zeit als Ablass galt. Gerson lässt ethische Gesichtspunkte überwiegen (s. oben) und geht über die Grenze der Dispensationsgewalt nicht hinaus unter Ausschluss der sakramentalen Befugnisse: Potestas praelatorum in dando Indulgentias non est nisi quaedam potestas dispensationis -- darin trifft er mit Luther zusammen. Auf der anderen Seite aber hat Luther mehr in Gerson gelesen, als darin stand. Gersons Protest schreitet keineswegs dazu fort, die zeitlichen Strafen aud das Diesseits zu beschränken, Nachwirkungen derselben in Fegfeuer zu leugnen, im Gegenteil er betont, wenn auch in vorsichtiger Form, die Ausdehnung des Ablasses auch (349) über die Fegfeuerzeit (n349). Gerade die Pointe also, welche Luther seinen Ausführungen giebt, fehlt bei Gerson. Darum ist auch das miraculum, wie Luther sagt, warum die Inquisitoren Gerson nicht verbrannt haben, sehr wohl begreifflich. -- (res03#7)

Noch einmal in derselben These berief Luther sich auf Gerson. Der um Gottes Willen übernommene Tod habe, da er selbst die grösste Strafe sei, befreiende Kraft; wo die grösste Strafe aufhört, haben auch kleinere keinen Platz, und die Seele des Gestorbenen fliege sofort gen Himmel. Der Ansicht sei u. a. Gerson. (WA 1,547 = res03#16) Auch hier spricht Luther Gerson zu viel zu. Gerson hat keineswegs das Interesse, die kanonischen Strafen auf das Diesseits zu beschränken, vielmehr empfiehlt er aus praktischen Gründen, die Strafen hier auf Erden abzubüssen, das es hier milder zugehe als im Jenseits in Purgatorium ubi regnat horrenda et quodammodo furiosa iustitia. Mit Luthers These 8 stimmt er also auch hier nicht, schreibt allerdings dem martyrium -- und das schloss Luther in den "um Gottes willen übernommenen Tod" ein -- eine läuternde Kraft zu; insofern hatte Luther Recht, sich auf ihn zu berufen.

An anderer Stelle, in der Resolution zu These 11, hat er es in demselben Sinne noch einmal gethan. Gerson hat dazu ermahnt, den Tod standhaft und willig pro voluntate dei zu erdulden, da ihm straftilgende Wirksamkeit zustehe (WA 1,550 = res03#45). Es muss nun auffallen, dass Luther an dieser Stelle gemerkt hat, dass zwischen ihm und Gerson doch eine Differenz bestehe. Er weiss nunmehr, dass sie gerade den springenden Punkt seiner Argumentation betrifft: igitur moriturus prorsus nihil est imponendum neque remittendi sunt ad purgatorium cum residuo poenitentiae (ut Gerson in aliquo loco asserit). -- Wenige Seiten nach der ersten (350) Citierung stehe dieses -- richtigere-- Urteil. Das ist nur möglich bei lebhaftem subjektivem Empfinden, das nicht in objektiver Ruhe an den Schriftsteller heantritt, um von ihm zu lernen, sondern die vorgefasste Meinung in ihn hineinträgt, sowie nur flüchtige Berührungspunkte mit derselben bemerkbar werden. --

In der Antwort auf den Dialog des Prierias äussert sich Luther wiederum anders, mehr nach der ersten Aeusserung hin. Er sagt, Gerson erkläre die opiniones über die Ausdehnung der Papstgewalt für ad utramque partem probabiles; da werde es ihm (Luther) wohl erlaubt sein, das es sich, wie Gerson beweise, um kein Dogma handle, anderer Meinung zu sein als Prierias; in der ebenfalls noch nicht dogmatisch festgelegten Frage der immaculata conceptio dürfe ja auch jeder nach Belieben denken. (n350)

Der Ablass war verknüpft mit dem Busssakrament. Indem Luther jenem auf bescheidenstes Mass zurückführte, gab er zugleich diesem neue Gestalt. Er beschränkte die Sakramentalgewalt des Priesters auf ein minimum und legte allen Nachdruck auf die Herzensbeschaffenheit des empfandende Subjektes. Der Glaube ist punctum saliens für die Wirkungskraft der Sakramente. Auch dafür hat er sich auf Gerson berufen. Er wünscht ut tres illae veritates Joannis Gersonis iam diu in omnes libros et aures transfusae prudenter intelligendae sint, puta, quod non ideo confidat sese homo esse in statu salutis, quia potest dicere se dolere de peccatis, sed multomagis id advertat, si sic optet sacramentum absolutionis, ut credat, si ipsum fuerit assecutus, sese absolvi. Hoc enim est sacramentum in voto suscipere, id est in fide verbi vel desiderati auditus (WA 1,596 = res08#18f). Es ist möglich, dass Gerson sich in ähnlichem Sinne geäussert hat (n350a), als Stütze der (351) Lutherschen Ansicht darf er darum nicht gelten. Allerdings weist Gerson diejenigen, welche von Zweifel an der Genügsamkeit ihrer Reue gequält sind, hin auf die göttliche Gnade, die als Gnade geschenkt, nicht als meritum erworben wolle, aber damit tritt er aus katholischen Bahnen nicht heraus. Nominell hat die katholische Kirche stets das Prävalieren der Gnade betont. Die Differenz liegt in der Auffassung derselben. Gerson steigert nun die sakramentale Wirkungskraft der Bussgnade dahin, dass er sie die attritio zur contritio machen lässt, und damit thit sich zwischen ihm und Luther die Differenz zwischen mechanischer und subjektiv durch persönlichen Glaubensakt bedingter Wirkungsmacht der Gnade auf. Diese Differenz aber ist eine prinzipielle, es bedarf des Beweises nicht, dass Luther unzählige Male sie anderweitig auch als solche empfand. Bei Gerson hat er sie nicht gemerkt, die Betonung der Gnade und des Vertrauens auf sie bei Gerson hat ihn wohlthuend berührt, er hat sie gesteigert und auf eine Höhe hinaufgehoben, die ihr von Natur nicht zukam. Bei Huss hatte er es ähnlich gemacht. --

Jene Aeusserung Gersons gehört auf die Linie, welche an anderer Stelle Luther richtig gezogen hat. In seiner "confitendi ratio" beruft er sich auf Gerson als Zeugen gegen allzu grosse Aengstlichkeit des Beichtenden. Consulo, quod et Johannes Gerson aliquoties conculuit, ut aliquando cum scrupulo quis accedat ad altare seu sacramentum, videlicet non confitens, si immodestius vel biberit, dixerit, dormierit aud aliud quid fecerit aut horam unam aliquam non oraverit. Grund aber zu diesem Ratschlag sei: der Mensch solle lernen, mehr auf Gottes Erbarmen als auf seine Beichte zu vertrauen (WA 6,166). An dieser Stelle nähert sich die Beurteilung Gersons als Kirchenpolitiker einer Wertung desselben als Mystikers. Luther forscht nach der theologischen Motivation für Gersons Verhalten, er wird hingeführt zum mystischen (352) Gedanken der göttlichen Gnadeallmacht. Rom hat seine Auffassung von der Beichte in der Bannbulle verdammt, unter Berufung auf Gerson hat er "wider die Bulle des Endchrists" dieselbe widerum verteidigt (n352). Gewiss weisst Gerson die mit allzugrossen Gewissensängsten sich Quälenden hin auf die göttliche Gnade, aber das ist ein seelsorgerlicher Rat, wie ihn auch innerhalb der römischen Kirche jeder einsichtiger Beichtiger erteilen kann und wird. Mehr aber ist es nicht, keineswegs der Glaube, welcher von steter Zuversicht zu Gott sich getragen weiss und für den die Beichte eine unumgängliche Bedingung der Absolution nicht mehr ist. Gerson aber legt ihr doch solch hohen Wert bei, und in einer Schrift, welche Verhaltungsmassregeln für den Beichtenden aufstellt, schärft er Achtsamkeit gerade auf die Fälle hin, welche Luther unter Gersons Autorität als minutiös verwerfen zu können glaubte. --

Schärfer noch, die kirchenpolitische Bedeutung Gersons ganz in den Hintergrund schiebend, tritt der Gedanke der göttlichen Allmacht in den Vordergrund in einer Stelle aus Luthers Schrift gegen Latomus. Es gilt die Verteidigung seines Satzes: omne opus bonum in sanctis viatoribus esse peccatum. Luther rekurriert auf Gerson, derselbe habe die gratia dei so stark betont, dass er z. B. die Verzeihlichkeit eines peccatum veniale nur der göttlichen Gnade zuschreibe; natura sei es nicht veniale (n352a). Allerdings äussert sich Gerson in diesem Sinne, aber auch hier deckt sich Luthers Anschauung nicht ganz mit der Gersons. Für diesen ist Gott nicht sowohl sittliche Macht, als vielmehr in nominalistischem Sinne Allmacht. Gerson sagt an der von Luther citierten Stelle: divina misericordia non vult de facto quamlibet offensam imputare ad mortem, cum tamen id possit iustissime. Luther (353) würde sich 1521 nicht ganz so ausgedrückt haben, anstelle die Möglichkeit hätte er deutlicher die sittliche Notwendigkeit betont und diese durch Christus paralysiert sein lassen. Aber erinnern wir uns, dass Luther in der ersten Zeit seiner Beeinflussung durch die Mystik allen Nachdruck auf die absolute göttliche Erhabenheit legt; es wird uns weiterhin deutlich werden, dass an dieser Stelle Mystik und Nominalismus für ihn in einander griffen; das macht erklärlich, dass Gerson, in dem die Einheit dieser beiden geistigen Strömungen in mildester das Frömmigkeitsinteresse in die erste Reihe stellender Form vollzogen war, ihm Sympathie abgewann, die er in bekanntem Konservatismus auch dann noch beibehielt, als er schon weiter fortgeschritten war. Es kam hinzu, dass es ihm der Gegner gegenüber wichtig war, eine Autorität der Tradition anführen zu können. --

Bekanntlich hat Cajetan in Augsburg zur Verteidigung der Clementinischen Dekretale die Autorität des Papstes Luther vorgehalten (WA 2,8 = act-a01#18). Luther war überrascht (Haec ut erant nova in auribus meis), er rekurrierte auf die Appellation der Pariser, der Legat antwortete: die von Paris werden jr straf wol darumm nemen, und hat dann über Gerson und die Gersonisten ein Verdammungsurteil ausgesprochen. Luther hat den Sinn desselben nicht verstanden. "Wer sind doch die Gersonisten?" (spa-rel#12) fragt er, und als er von Cajetan keine Antwort bekam, hat er gemeint, der Kardinal sei ärgerlich darüber, dass er in seinen Resolutionen Gerson herangezogen hatte. (n353) Davon konnte (354) keine Rede sein, dort handelte es sich um Gersons Ansichten vom Ablass, Cajetan aber meinte Gersons Auftreten auf dem Constanzer Konzil. Er hatte über dasselbe schon früher abfällig geurteilt. Luther hat um dasselbe damals noch nicht gewusst, wie wäre ihm sonst das Misverständnis begegnet! Auch in der Folgezeit bis 1521 einschliesslich hat er für die Superiorität des Konzils über den Papst nie sich auf Gerson berufen, so wichtig das Constanzer Konzil für ihn wurde. Prierias warf ihm Gersonismus vor in demselben Sinne wie Cajetan (WA 2,53 = replic#??), er ist darüber hinweggegangen. Aber wir erinnern uns, dass jenes Konzil um der Verdammung des Huss willen in erster Linie sein Interesse gewann; seine kircehenstaatsrechtliche Bedeutung trat für Luther sehr in den Hintergrund. So blieb ihm auch die wichtigste Seite Gersonscher Kirchenpolitik unbekannt. Was er von öffentlicher Thätigkeit Gersons weiss, beschränkt sich auf den der Kirche erteilten Rat, in declarandis fidei articulis nicht nach Tradition, Recht, oder öffentlicher Meinung zu dekretieren, sondern erfahrene und im Leben erprobte Theologen heranzuziehen (WA 2,427 = releip05#40). Er hat diese Aeusserung Gersons in seinen Resolutionen über die Leipziger Disputationsthesen angeführt, zu derjenigen These, welche vom (355) Ablass handelte (10), -- Beweiss ganug, dass nur um der Stellung zum Ablass willen Gerson ihm in erster Linie auch jetzt noch wichtig war. Zu These 13 hat er ihn nicht erwähnt! Es lässt sich aus jener Stelle und der ganzen Schrift, welcher sie angehört (beachte den Titel), erschliessen, dass Gerson mit in erster Linie Luther den Mut gab, seine Thesen anzuschlagen; denn bei ihm las er, dass ohne rechtlige Fixierung eine innerhalb der Kirceh ausgesprochene Meinung nicht bindend sei (n355) -- er hat seine Thesen damit oft genug salviert. --

Wir sahen, dass schon in der Ablassfrage Luther nicht in allen Stücken mit Gerson gehen konnte. Aus weiteren Stellen geht hervor, dass er den Katholizismus bei Gerson wohl gespürt hat. Gersons Stellung in der Frage der Heiligenverehrung hat ihm misfallen; Gerson hat die Meinung ausgesprochen, den Heiligen sei im Himmel die Wirkungskraft in Gabenverleihung gegeben worden entsprechend ihrer irdischen Wirksamkeit (n355a). Luther bemerkt dazu, ein derartiges argumentum a simili sei in rebus fidei sehr bedenklich. Argumentiert denn der Teufel nicht auch a simili, wenn er sich in einen Engel des Lichtes verwandelt? Dass Gerson andererseits mit ihm übereinsstimmt in energischem Frontmachen gegen den Aberglauben des Heiligenkultus, hat Luther nicht für erwähnenswert gehalten. In der Kirchenpostille äussert sich Luther über Gersons den Cartheusern gespendetes Lob: "Es lobet Gerson die Carthüser, dass sie nicht Fleisch essen, auch in der Krankheit, ob sie drob sollten sterben" (EA 7,2,44).Aber das ist ein Mord am eigenen (356) Leibe, Paulus verbietet es Röm. 13,14; so ist also "der grosse Mann betrogen worden von der abegläubischen Geistlichkeit" -- ein absprechendes Urteil in mildester Form, nach Luthers Gewohnheit die Hauptschuld auf Rom abwälzend. --

Es erübrigt, einen kurzen Blick auf zeitgenössische Aeusserungen über Gerson zu werfen und sie mit Luthers Beurteilung zu vergleichen. Ganz allgemein gesprochen, lässt sich sagen, dass Gerson häufig citiert wurde, dementsprechend, dass seine Werke wiederholt gedruckt wurden, teils in Gesamt- tels in Einzelaufgaben.  ... ...
 

Noter:

n12: Dann hätte Luther selbst Veranlassung gegeben zu jener Verwechslung der Instructio mit den sog. Sermonen Tetzels (s. unten). Der Ansicht ist Paulus (Joh. Tetzel) s. 90, Amn. 4.

n47: sofern die Unterschiede an dem Masse der Strafwürdigkeit erläutert zu werden pflegten. Vergl. Latomus (Vorrede zu contra articulos quosdam M. Lthi Bl. 2): Aliud longe est errare, aliud haereticum aut schismaticum esse, vnde tritum est Aug. dictum Errare potero, haereticus non ero. Latlu01#36.

n53: WA 8,274 hat der von der Pariser Theologenfakultät verdammte Satz Luthers seine Form wohl nicht nur, wie das Urteil abgiebt, von der captivitas babylonica -- so auch WA in Anm. -- sondern auch von der Assertio erhalten cf s. 198 u. WA 8,277 Nr. 5 für die Möglichkeit, dass die Pariser die Assertio kannten. (paris2#40) -- Catharinus in seiner zweiten Schrift gegen Luther Bl. 81 giebt den Artikel Luthers nach der veränderten Lesart haeretici et schismatisi.

n60: Den (allerdings noch diskutabeln) Nachweiss,dass dem Jubiläumsablass vermöge einer Combinierung von Busssakrament und Ablass die Vergebung der Sünden, nicht bloss der Strafe zustand, s. bei Brieger: Festschrift 1897.

n60a: Dieses plenissima plenissimarum ist nicht lediglich rhetorisch gemeint, sondern ruht auf scholastischer Distinction. "Pierre de la Palu says, that one interpretation is, that plena is confined to mortal sins, plenior includes mortals and venials, while plenissima remits not only enjoined penance, but all that should be enjoined; or perhaps it may be, that plenissima removes the culpa as well as the poena of venials" (Lea: a history of auricular confession and indulgences III 42). Auch nannte die Bulle von 1515 u. die instruction summaria die Ablassgnade plenissima remissio cf Gerdesius: Introductio in historiam evangelii sec. XVI renovati Groningen 1744 Bd. I 92, Bl. Ajj der Bulle.

n65: cf den Ablassbrieg unter dem Commissariat Raimunds von Gurk 1502 bei Löscher I 367, alsdann den Nürnberger Beichtbrief bei Reiderer Nachrichten etc. Bd. 3, S. 72. In dem Ablassformular Arcimbolds 1516 werden, ohne dass die Bulle Coenae genannt wird, einige bestimmete ihr zugehörige Fälle von der Absolution ausgenommen cf. Löscher I 377. Wann die Reservate der Bulle Coenae erstmalig ausdrücklich als irremissibel in den Bullen erscheinen, vermag ich mit Sicherheit nicht anzugeben, die erste mir aufgestossene Erwähnung ist die von 1502. Nach den Ausführungen bei Hausmann 367ff Hinschius VI, 1 S. 155 wird man auch kaum weiter hinaufgehen dürfen. Vor 1500 heisst es nur allgemein: absolutio ... a delictis etiam sedi Apostolicae generaliter vel specialiter reservatis cf. Löscher I 365 Kapp kl. Nachlese III 69ff und Extrav. lib V. Tit. IX cp. (Bulle Sixtus IV). -- Die Ablasslitteratur kennt 3 Arten von Absolution, die von dem Beichtvater, dessen freien Wahl besondere Ablassgnade war, erteilt werden: 1) Absolution a casibus sedi apostolicae non reservatis; sie konnte erteilt werden totiens quotiens id opus fuerit. 2) Absolution von den Reservaten, auch von denen der Bulle Coenae mit Ausnahme der bestimmten Fälle -- semel in vita. 3) plenaria remissio, bei welcher auch die letzten Reservate fallen, -- in articulo mortis (cf Walch XV 273, 288, 304, 341, 345, 422f). Das semel in vita bwaog sich in seiner Wirkungskraft nur auf das betr. Confessional, sodass also einer, der 4 Confessionalis besass, 4 mal einmal = 4 mal im Leben absolviert werden konnte; daher denn die Ablasskrämer dem Volke klar machen sollen, wie nützlich es sei, möglichst viele Confessionalien zu besitzen. (cf Arcimbolds Instruktion Walch XV 323). -- Die Formel semel in vita begegnet schon in den Kreuzugsbullen (cf Hinschius VI 1 155 Anm 7). Es wäre zu fragen, ob sich Verbindungslisten dieser Formel mit der ältesten Anschauung, dass nur einmal in Leben völlige Vergebung erteilt wird, ziehen lassen. Dafür könnte sprechen, dass das semel in vita mitunter engstens mit in articulo mortis verbunden wird (cf. Walch XV 388, 436 Riederer III 73). Ein bedeutsamer Unterschied liegt freilich schon darin, dass nach jener alten Anschauung überhaupt nur einmal im Leben absolviert wird, nach der jüngeren aber auf Grund der betr. Bullen bez. des betr. Beichtzettels nur einmal. -- Die Aufhebung sämtlicher Reservate in articulo mortis ist kirchenrechtliches Prinzip (cf Hinschius V 373, Ferrari: Encyklopädie Ecclesiastica I s. v. absolutio 42) und die Bulle Coenae erklärte das ausdrücklich von ihren Fällen (cf Ferrari a. a. O 37) cf auch Friedle: Ueber die absolutio a censuris in articulo mortis. Archiv für kathol. Kirchenrecht. 1873 S. 185ff.

n68: Dafür spricht auch, dass Luther in seiner Glosse zu diesem Capitel spottend sagt: Wilch eyn ernst ding iest's etc. d. h. der Anstoss, den Luther an diesem Artikel nahm, deckt sich mit dem Ansatzpunkt seiner Polemik gegen die Fälle, die er aus der Ablasslitteratur kannte.

n73: Er lautet bei Julius II. -- und zweifellos ebenso bei Leo X. da Luthers Uebersetzung sich im Uebrigen wörtlich mit dem lateinischen Text Julius II. deckt --: Item excommunicamus et anathematizamus omnis illos qui per se vel alium seu alios quascumque personas ecclesiasticas vel saeculares ad Romanam curiam ... recurrentes ... prosequentes aut procurantes .. verberant etc. Wenn Luther zwischen alius und quascumque personae den Einschnitt nicht bemerkte, dürfte er sehr eilig gearbeitet haben, was vortrefflich zu der obigen Annahme passen würde, dass nur kurze Zeit zwischen Ankunft der Bulle auf der Wartburg, und ihrer Uebersetzung lag.

n78: Es sei hier auf die Parallele bei Augustin hingewiesen, in dessen Symbolerklärung der dritte Artikel weit im Vordergrund steht, und zwar aus denselben Grunden wie bei Luther (cf Harnack D. G. III 218). Beide bewegten dieselben Interessen. An der Stellung zum Symbol lassen sich die Nüancieerungen der Lutherschen Frömmigkeit vorzüglich messen, wie überhaupt jeder Frömmigkeit, der das Symbol nicht erstarrt ist.

n85: cf Müllers Symbolik 1897 S. 37 u. die verschiedenen Formeln bei Hahn. Interessant ist die Widerlegung der Lutherschen Worte durch Catharinus in seiner ersten Schrift gegen Luther (Bl. 43 = catlut11#46): Nu citeres #46 til #48, idet Köhler indskyder 3 bemærkninger, den første efter 'versiculum praeterierit' (#46): diese Ausdrucksweise ist charakteristisch, wenn man sie an der Lutherschen misst; dort der Traditionalismus, für den die historische Entwicklung nicht existiert, sondern in "Auslassungen" sich auflöst, hier geniale Anfänge gesenden historischen Blicks. Den anden efter 'sit semper' (#48): so hatte Luther gesagt. Den tredie efter constitutam: Dasselbe Argument, welches später die Confutatio gegen Artikel 7 der Augustana geltend machte.

n87: Man vergleiche zu dieser Fassung die Definition der Böhmen in dem Briefe an Wladislaus (bei Dungersheim: Reprobatio orationis excusatoriae picardorum 1514): Sanctorum communio est, quando menbra ecclesiae sanctae bona gratuita salutera administratoriaque omnibus gratia dei sine penitentia largita mutuo in communi utuntur atque secundum donationis gratiam dei se opsis exibent ad communem aliorum utilitatem. Luther hat diese Worte gekannt (cf Enders II Nr 219); es wäre möglich, dass böhmische Anschauungen, wie sie seine epexegetische Fassung der communio beeinflussen, so auch die nähere Ausdeutung als Gemeinschaftsleben.

n96: Bemerkt sei noch, dass Luther das Symbol einfach als symbolum (Apostoli in suo symboli oder ähnlich) einführt. Das war die übliche Einführungsformel, die Citierung als Symbolum apostolicum wird erst Mitte des 16. Jahrhunderts häufig, doch gebraucht sie Melanchthon schon in den loci. Die colloquia des Erasmus enthalten in ihren ersten Auflagen (vor 1521) noch nicht den Abschnitt de fide (gütige Mitteilung aus der Bibliothek in Gent), in welchem Erasmus bekanntlich eine Symbolerklärung giebt.

n97: Wie sehr das Festhalten des Apostolikums den Verdacht der Häresie abzuwehren vermochte, zeigt auch das ausdrückliche Hervorheben der Böhmen in ihrem Briefe an Wladislau: fidei veritatem .. in Apostolico Symbolo summatim recollectam ... necessariam esse ad animarum salutem .. fatemur.

n108: Auf diesen Beschluss spielt offenbar auch Cochlaeus an, wenn er Melanchthon nach Erschienen seiner loci zuruft: O hättest Du besser gesorgt für Deine Seele und unser ganzes Vaterland! Das wäre aber geschehen, wenn Du da Buch nicht veröffentlicht hättest, ohn es vorher nach den Gesetzen prüfen zu lassen". (bei Kolde: Mel. loci 1890 S. 55. Gedruckt ist die Schrift des Cochlaeus erst 1531, verfasst früher s. Spahn: Joh. Cochlaeus S. 98).

n110: cf de primatu Petri Paris 1521 lib III Fo. VIII: in quo [nämlich dem betr. Konzilskanon] refert quosdam Philosophos temere asseverare animam hominis, saltem secundum philosophiam, esse immortalem [d. h. wie das secundum philosophiam beweist, sie lehren Pantheismus], dein sacrum concilium renovat constitutionem concilii Vien; quod animus sit immortalis, multiplicabilis secundum corpora [Individualismus gegen Pantheismus] ... indicat hoc decretum: omnibus philosophis in universitatibus ... districte praecipiendo mandamus, ut cum philosophorum principia ... auditoribus suis legerunt, quale hoc de animae immortalitate, .... teneantur eisdem veritatem religionis Christianae omni conatu manifestam facere etc.

n119: (WA 6,507 = capt#73)Gemeint ist in Alvelds Schrift die Stelle, an der er unter vielen Concilien für de communio sub una auch das Constancienes et Basiliense nennt, ohne nähere Angabe eines Beschlusses derselben. [Bl. Djjjj, Exemplar der Münchener Hof- und Staatsbibliothek].

n121: cf "Wider das unchristlich Buch .. an den Tewtschen Adel" 128 bei Enders 92. Emser citiert einen Beschluss der 20. Sessio gegen den Concubinat der Kleriker (cf Hefele VII 593).

n181: cf. das beigefügte pro reverentia concilii WA 2,288,13 = eck05#36.

n181a: Eck hat dieselbe wohl bemerkt WA 2,306 = eck06#55.

n181b: Und zwar annehmbare: Hussitae tam diu non reticuissent aliquos articulos esse subditicios. eck05#90.

n181c: WA 2,296 = eck05#99. cf Luther: licet nunquam desistat (Eck) me sugillare. WA 2,303 = eck06#38.

n182: WA 2,345 = eck10#8. Wahrscheinlich denkt Eck an die päpstlichen Reformvorschläge bez. des Ablasses, welche einer Geringachtung desselben vorbeugen sollten. cf. Hefele VII 340. Oder denkt er an die Verwerfung des Hussschen Satzes, dass die Ablässe nichts nützen? (ebd 199) In den amtlichen Akten stand beides nicht, doch kann Eck bei seiner genauen Kenntnis der Konzilsvorgänge darum gewusst haben.

n184: Nachwort zu den "7 christlichen Briefen etc Ausgabe von 1537 durch Jos. Klug Wittenberg. Dasselbe fehlt in der Ausgabe von 29. Nov. 1536.

n185: cf auch Luthers eigenen Bericht WA 2,397.

n186: Es handelt sich un den 41. Satz Wiklifs bei Harduin p. 913. Luther sagt: sive sit Wikleff sive Hus non curo, WA 2,279 = eck04#4.

n187: WA 2,399, (releip01#52) cf 403, 407, 421, 410: Augustinus totus per omnia in hanc sententiam procedit. releip03#60.

n187a: Eine noch freiere Fassung cf WA 2,410, 415 = releip03#58; releip04#33.

n190: In der Disputation selbst tritt er zurück cf WA 2,288, 296, (eck05#33; ?? (i hele 296 taler Eck)) und dient nur zum Beweise, wie Luther meint, dass er ex concessis argumentiere. cf aber WA 2,415 (releip04#35) u. ö. z. B. 421.

n191: Nonne Concilia saepius erraverunt? WA 2,404 = releip03#10; oder Constantiense Concilium, quod errasse palam est WA 2,406 = releip03#30; dasselbe späterhin WA 6,561 = capt03#105: saepius erraverunt Concilia, praesertim Constantiense quod omnium impiissime erravit.

n192: cf seine Schriften: super apostolica sede, vom dem ehelichen Stand wider Dr. Martin Luther, buchlein von dem bäbstlichen Stul und s. Peter, Ein Sermon, darinnen sich Bruder Augustin von Alveld S. Francisci ordens des so in Bruder Martinus Luther augustinerordens under vil schmelichen namen gelästert und geschent, beclaget. Sein Thema Luther sei Hussit, variiert in allen Formen.

n206: cf. S. 94: Nimis ergo Papa Clemens suam potestatem laxaverat, mandans in sua Bulla angelis paradisi, quod animam peregrinantis Romam pro indulgentiis et decedentis a purgarotio absolutam ad gaudia perpetua introducant. s. auch das Folgende bei Huss.

n209: Dette er fra det tyske skrift "Antwort auf die Zettel, so unter des Officials zu Stolpen Siegel ist ausgegangen", 7. februar 1520; det næste citat er formentlig fra den latinske udgave, som Luther i lidt udvidet stand lod udgive i slutningen af 1520.

n346: cf Gersonis op. ed. Du Pin III 65 (liber de vita spirituali animae): Iuramentum ... et votum nunquam ita proferuntur absolute, quin interpretationes, conditiones, glossas, et civiles intelligentias suscipiant, ut sapiens epieikes iudicabit. cf. S. 1501 u. II 120: Omne iuramentum et votum quod sine detrimento salutis potest custodiri, servandum est und besonders III 46: Nobis insuper dicendum videtur, quod multae sunt Institutiones, ad quarum observationes videntur omnes se quotidianis juramentis astringere, quas tamen observare non tenentur, non quod periurium sit licitum, sed quia iuramenta talia sunt semper intelligenda civiliter. Horum exempla sumere possumus in praeclara Universitate Parisiensi et in Ecclesiarum aliis Collegiis; folgt das Beispiel, dass jeder Neu-Eintretend auf die Universitätsstatuten verpflichtet werde eidlich, ohne doch bei Uebertretung dem Vergehen des Meineides anheimzufallen. -- Diese Stelle hat Luther in Auge.

n349: a. a. O. S. 517. cf Bratke: Luthers 95 Thesen S. 161. cf. Hering: Luther und die Mystik 235d. Von Joh. Wessel wird berichtet, dass er -- ähnlich wie Luther -- gegenüber der kurialistischen Lehre, dass der Papst über die Seelen im Fegfeuer Gewalt habe, auf die facultas Parisiensis -- d. h. wohl Gerson -- sich berief. cf. Gerdesius hist. ref. I 87.

n350: WA 1,656 = lutpri01#76. Gerson op a. a. O. 517. Gerson gebraucht wörtlich den terminus: sunt opiniones in utramque partem probabiles, entscheidet sich dann aber in angegebenem Sinne. Bez. der Verwertung der Streitigkeiten über die immaculata conceptio s. den Abschnitt über das Baseler Konzil. Nachzutragen ist, dass auch die Pariser Appellation des Baseler Beschlusses gedachte.

n350a: Welche Stelle Luther im Auge hat, ist mir nicht ganz sicher, vermutlich ein Citat aus de remediis contra pusillanimitatem opp III 585 Columne C, D. cf S. 600 u. II 508, 472.

n352: WA 6,626. Latomus antwortet darauf: Nonne damnatum est a concilio generali? (Laterankonzil von 1215). latlu01#68.

n352a. WA 8,58 = latom02#18, und Anm. 5 opp. III 10 (de vita spirituali animae) Nulla offensa dei est venialis de se nisi tantummodo per respectum ad divinam misericordiam.

n353:  caj-lut#49. Spalatin in seiner Darstellung schreibt: "Ich weiss nicht, wie sichs zugetragen hat, dass D. Martinus Gersonem allegiret" (spa-rel#18). Das kann nicht richtig sein. Wenn Luther, wie gerade u. a. auch aus seiner oben mitgeteilten Frage, die Spalatin berichtet, hervorgeht, um Gersons Constanzer Politik nicht wusste, lag für ihn kein Grund vor, Gerson zu allegieren. Cajetan hat Gerson in die Verhandlung hineingezogen, so stellt es auch Luther dar. Dass Cajetan ihn (Luther) einen Gersonisten nannte, berichten erst die Tischreden. Sie sind hier ebensowenig zuverlässig wie in der Mitteilung der Aeusserung über das Constanzer Konzil. Urbanus Rhegius, getreu Luther folgend, bezieht Cajetans Aeusserung auch auf Luthers Ablasspolemik.

n355: Attendendum tamen est, quod non omnia quae tradit vel tolerat Ecclesia publice legenda sunt de necessitate salutis credenda ... sed duntaxat illa quae sub definitione iudiciali tradit esse credenda vel opposita reprobanda, concurrente universali totius ecclesiae consensu implicite vel explicite vere vel interpretative a. a. O. 22.

n355a. WA 1,418. cf opp Gersonis III 249 (de oratione). Luthers Citierung ist sehr frei; Gerson beruft sich auf 1 Kor 12,5. Luther auf 12,9.